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Zur Kernphysik des bürgerlichen Individuums

von Ernst Lohoff

Wann immer Gesellschaftstheorie scheinbare Selbstverständlichkeiten zum Ausgangspunkt nimmt und überhistorische, allen Gesellschaften gemeinsame Konstanten präsentiert, ist Vorsicht und Mißtrauen angebracht. Hinter den beschworenen ontologischen Grundtatsachen verbergen sich für gewöhnlich spezifisch bürgerliche Kategorien und Verhältnisse. Dieser apologetische Zug setzt sich regelmäßig auch unabhängig von den Intentionen der jeweiligen Theoretiker durch. Der verblichene Arbeiterbewegungsmarxismus etwa verstand sich selber als radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Dennoch wurde die marxistische Doktrin als Durchsetzungsideologie der bürgerlichen Form kenntlich und wirksam, so oft sie unabänderliche, alle Gesellschaftsformationen übergreifende Wesenheiten bemühte. Das wird besonders am „Primat der Produktion“ deutlich, das die marxistische Gemeinde ihren Lebtag lang als ein Essential des “wissenschaftlichen Sozialismus“ handelte.

Es ist ebenso trivial wie richtig, daß die Menschen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen auch immer sie leben mögen, vor allein anderen die Erzeugung ihrer unmittelbaren Konsumtionsmittel sicherstellen müssen. Der Mensch ist eine durch und durch bedürftige Kreatur, und er kann seine Bedürfnisse nur realisieren, indem er sich die ihm umgebende stoffliche Wirklichkeit aneignet und sie ihm gemäß umformt. In diesem durchaus banalen Sinn bildet die Reichtumsproduktion unterschiedslos für alle Gesellschaftsformationen eine unhintergehbare Voraussetzung. Hinter dem vom Arbeiterbewegungsmarxismus emphatisch besetzten “Primat der Produktion“ verbirgt sich aber etwas gänzlich anderes als die höchst prosaische Einsicht, daß Menschen unter allen Umständen zunächst essen, trinken und wohnen müssen. Die Marxisten sahen und sehen in der stofflichen Produktion nicht einfach einen integralen Bestandteil der menschlichen Existenz, sie erheben das Produzieren als Arbeit(1) [1] vielmehr zur eigentlichen Kernbestimmung des menschlichen Daseins. Der Marxismus faßte den homo sapiens als animal laborans. Sowohl phylogenetisch als auch ontogentisch wird der Mensch nur als Produzent überhaupt zum Menschen.

Diese sakrale Rolle der Produktion aber ist nichts weniger als eine überzeitliche, von der „menschlichen Natur“ gesetzte Konstante. Was da vom Marxismus hypostasiert wird, entpuppt sich bei näherem Zusehen als das auf die Spitze getriebene protestantisch-kapitalistische Arbeitsethos. Das unbedingte “Primat der Produktion“ verbindet die bürgerliche Epoche keineswegs mit allen vorgängigen und künftigen Gesellschaftsformationen. Die Apotheose des Produzenten zum eigentlichen gesellschaftlichen Menschen macht gerade das Besondere an der entwickelten Warengesellschaft aus. Die kapitalistische Gesellschaft gesellt sich daher keineswegs, wie die marxistische Weltsicht annimmt, zu den übrigen historischen Typen von Produktionsgesellschaften; sie ist vielmehr in einem durch und durch totalitären Sinne die Produktionsgesellschaft par excellence. Jahrtausendelang war die Erzeugung von stofflichem Reichtum an die Erfüllung ebenso klar wie eng umrissener konsumtiver Bedürfnisse gekoppelt. Erst unter der Ägide des Kapitals verselbständigt sich die Produktion zu einer eigenständigen, von anderen Lebensäußerungen systematisch abgegrenzten Sphäre, reißt sich gleichzeitig von der Kette und avanciert zum zentralen Medium von Gesellschaftlichkeit. Für die kapitalistische Gesellschaft läßt sich tatsächlich von einem „Primat der Produktion“ sprechen. Diese Vorherrschaft ist jedoch gerade das Kritikable an dieser Vergesellschaftungsform und macht deren (selbst)zerstörerische Potenz aus.

Dieser Problemhorizont war dem im Produktionsfetischismus befangenen Marxismus vollkommen fremd. Dementsprechend konnte er keinerlei Sensorium für die im Vormarsch wertförmiger Vermittlung gleichzeitig erzeugten und zur Schattenwelt degradierten Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickeln. Im Gegenteil, der allzeit affirmativ verstandene Bezug auf die Produktion als die Basis des gesellschaftlichen Zusammenhangs war angetan, den strukturellen Ausblend- und Subordinationszwang ideologisch-theoretisch zu reproduzieren und zu zementieren. Im Lichte des marxistischen „Primats der Produktion“ ließen sich die voneinander getrennten gesellschaftlichen Sphären insgesamt als krude Entitäten behandeln. Wo aber schon „die Politik“ und „die Ökonomie“ zu positiven Fakten versteinerten, da mußte erst recht die aus dem gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang herausgespaltene „Privatheit“ in ihrem außergesellschaftlichen Sosein blind akzeptiert werden. Jedem gesellschaftskritischen Zugriff schien dieser scheinbar vorgesellschaftliche Zusammenhang enthoben. Wer nur immer entschlossen die „Einsicht“ hochhielt, daß die Produktion das Eigentliche sei, der hatte es von vornherein nicht nötig, einen Blick in die dunklen Abgründe des außerökonomischen „nur“ Privaten zu riskieren und ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen zu problematisieren. Sobald die Zumutung, sich mit diesen Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, an ihn herangetragen wurde, konnte er jederzeit in vermeintlich tiefere und sicherere Gewässer abtauchen. Das „Primat der Produktion“ verkehrt sich hier zur Zauber- und Abwehrformel. Zu einer bloß vorgesellschaftlichen Größe degradiert, taugt die Welt der Konsumtion ex definitione nicht zum Gegenstand ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung.

In der Theorie ist Sterilität allerdings, zumindest langfristig, Krankheit zum Tode. Wer abtaucht, kann ertrinken, und theoretische Konzepte scheitern meist an den Problemstellungen, die sie beständig übersehen. Der Marxismus hat ein Jahrhundert lang die Welt der Privatheit konsequent außen vor gelassen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat dieses Schattenreich aber seine so selbstverständlich anmutende Ordnung verloren. Es hat sich damit, der Frauenbewegung sei Dank, ins Bewußtsein gedrängt. Die nicht länger zu leugnende Frage schreit nach einer theoretischen Antwort. Der Marxismus war außerstande sie zu liefern, übte sich nur in Ignoranz, und dankte auch deswegen ein für allemal ab.

Die Theorie zollt der veränderten Wirklichkeit mittlerweile ihren Tribut. Zum Primat des Ökonomischen, wie es der Marxismus zelebrierte, mag sich heute niemand mehr bekennen. Die Welt der Privatheit ist im letzten Vierteljahrhundert sukzessive in den Rang eines legitimen Theoriegegenstandes aufgerückt. Diese überfällige Anerkennung wird jedoch dadurch entwertet, daß sie zusehends mit einem Rückzug ins Mikrologische einhergeht. Es ist fast schon Mode, sich auf die bisher weggeschobenen, scheinbar vorgesellschaftlichen Schattenthemen und auf das Alltagsverhalten zu werfen; das hat aber immer schon eine kompensatorische, gegen jeden „großtheoretischen“ Anspruch gerichtete Funktion. Der wissenschaftliche Zeitgeist steht auf Selbstbescheidenheit und hat das „small is beautiful“ zum Dogma erhoben. So selbstverständlich die gesellschaftswissenschaftliche Beschäftigung mit Aspekten des privaten Lebens geworden ist, so streng verboten ist es, diese Untersuchungen mit der Analyse der Gesellschaft als ganzer zu verknüpfen. Ein Denken, das seine eigene Zusammenhangslosigkeit in den Rang einer Philosophie erhob, hat ein solches Ansinnen von vornherein wegeskamotiert. Die Geschichte hat nicht nur einen Motor, „die Produktion“, sie hat deren viele, und sie laufen natürlich nicht streng synchron im Takt einer ökonomischen Logik. Diese Einsicht soll die Marxsche Theorie und mit ihr jedes Denken, das sich mit dem Wald und nicht mit einzelnen Bäumen beschäftigt, desavouieren. Kaum ein akademischer Zwergpinscher kann der Versuchung widerstehen, dem „Monokausalisten“, „Ökonomisten“ und „Totalitätstheoretiker“ Marx nebenbei ans Schienbein zu pinkeln, wenn er den besonderen Stellenwert der sozialgeschichtlichen Anatomie seiner Lieblingsstecknadel zu belegen sucht.

Die sich antiökonomistisch und antireduktionistisch gerierende Absetzbewegung von der Marxschen Theorie kommt schon bei der Einschätzung des klassischen Marxismus zu fragwürdigen Ergebnissen(2) [2]. An der Kritik der politischen Ökonomie geht sie allemal vorbei und bleibt tief unter deren Reflexionsniveau. Während Gegner und Epigonen gleichermaßen im “Wert“, dem Zentrum und der Basiskategorie der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, immer nur eine positive, binnenökonomische Größe erkennen können, behandelt der Wertkritiker Marx diese Basiskategorie durchgängig als etwas ganz anderes. Er sieht im “Wert“ das Formprinzip, das der Sphärentrennung, so wie sie allein die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert, zugrunde liegt. Marx deklariert nicht einfach, daß „die Ökonomie“ die weitere Entwicklung vorherbestimmt und Kultur sowie Politik nur abhängige Variablen darstellen, vielmehr ist ihm ebenso die historische Herausbildung dieser Sondersphäre ein Problem wie der gesellschaftliche Vermittlungs- und Bedingungszusammenhang, in dem diese Teilbereiche zueinander stehen. Das populäre Vorurteil, Marx hätte den ökonomischen Faktor umstandslos für das letztlich Entscheidende erklärt, macht keinen Sinn, weil die Marxsche “Kritik der politischen Ökonomie“ gerade mit jeder Art von Faktorendenken energisch bricht.

Wie wenig die Marxsche Herangehensweise mit dem mechanischen Verständnis seiner Epigonen in eins zu setzen ist, zeigen schon jene Passagen, in denen sich Marx mit dem „allgemeinen Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch und Konsumtion“ auseinandersetzt. Besonders deutlich zeichnet sich das wohl in der Einleitung zu den „Grundrissen“ ab. Einem Denken, das die bürgerlichen Formen als natürliche und ewige Grundbedingung menschlichen Verkehrs betrachtet, kann der Vermittlungszusammenhang zwischen Konsumtion und Produktion, mit dem sich Marx auseinandersetzt, gar nicht zum Problem werden. Konfrontiert mit der Marxschen Analyse muß die Problematisierung des Verhältnisses von Konsumtion und Produktion als überflüssige sophistische Fingerübung erscheinen. Die Marxisten und andere bürgerliche Theoretiker haben denn auch über die vermeintliche bloße Begriffsakrobatik konsequent hinweggelesen. Tatsächlich bewährt sich in diesen Überlegungen aber der eminent historische Sinn des radikalen Kritikers der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht nur die Produktion und die Konsumtion sind für sich genommen historischem Wandel unterworfen, auch die Beziehung dieser Momente zueinander hat nichts Übergeschichtliches an sich. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bringt eine ganz spezifische, für diese Formation charakteristische Konfiguration hervor, die mit dieser Reproduktionsweise auch wieder verschwinden wird. Gerade deshalb muß sie Gegenstand von Untersuchung und Kritik werden.

Mit dieser Auffassung stellte sich Marx in einen scharfen Gegensatz zur klassischen Nationalökonomie. Marx wandte sich gegen Adam Smith und noch deutlicher gegen John Stuart Mill, weil diese federführenden Nationalökonomen ihrer Zeit so etwas wie historisch-gesellschaftlichen Wandel nur der Welt der Distribution zuordneten, während sie die Reichtumserzeugung ahistorisch, „als eingefaßt in von der Geschichte unabhängige ewige Naturgesetze“(3) [3], (4) [4].(5) [5]darzustellen, Konturen.

Der Produktionsfetischismus der Epigonen hat diese kritische Frontstellung vollkommen eingeebnet. Das marxistische Verständnis fällt de facto auf Ricardo und Co zurück. Wenn die Marxisten das „Primat der Produktion“ beschwören, dann haftet diesem Theorem immer jener überhistorische Hauch an, der schon die klassische Nationalökonomie durchwehte. Der Marxschen Grundintention läuft diese Wendung diametral entgegen. Der Begriff verrät es schon, die Kritik der politischen Ökonomie, wie er sie formuliert hat, hat die Kritik der Form selber zum Ausgangspunkt. Die Ökonomie wird bei Marx nicht nur immanent kritisiert im Namen einer anderen, besseren Form des Wirtschaftens, sondern es wird das ganze Bezugssystem, in dem sich die Wirtschaft zu einem gesonderten, von anderen Lebensäußerungen getrennten Phänomen verselbständigt, in Frage gestellt.

So klar dieser radikale Bezug von der Grundintention her ist, er bleibt über weite Strecken implizit. Der “reife Marx“ der „Grundrisse“ und des „Kapitals“ setzt sich in erster Linie mit den binnenökonomischen Fetischformen und ihrer Logik auseinander. Was in den Frühschriften vorzugsweise in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie und dabei selber noch in philosophischen Termini thematisiert wurde, ist nicht negiert, sondern vorausgesetzt, aber nicht weiterausgearbeitet(6) [6]. Nur im Fetischkapitel und entsprechenden Ausführungen in den Grundrissen wird diese Ebene explizit. Während er in diesem Kontext dann immerhin die Verschlingung von Distribution und Produktion zum Problem macht, verstummt Marx völlig, sobald es um das Verhältnis von warenförmiger Gesellschaftlichkeit und Privatheit geht. Wo die Ware aufhört, Ware zu sein und in die dunkle Welt privater Konsumtion und aller darum gruppierten Lebenszusammenhänge eintritt, bricht Marx als Kind seiner Zeit mit dem Durchleuchten schlichterdings ab.

Es wäre jedoch kurzschlüssig, wollten wir aus diesem „Versagen“ des Theoretikers folgern, daß die von ihm in Angriff genommene Kritik der bürgerlichen Fetischformen per se untauglich für die Erklärung dieser Wirklichkeitsaspekte wäre. Jede große Gesellschaftstheorie hat Implikationen, die ihrem Schöpfer selber entgingen, und die erst mit einigen Jahrzehnten Verzögerung überhaupt ins Blickfeld geraten können.

2.

Der Marxsche Ansatz unterscheidet sich von der klassischen Nationalökonomie und den Interpretationen der marxistischen Epigonen nicht allein aufgrund seiner historisierenden Tiefendimension. Die Differenz reicht weiter. Die marxistisch-ricardianische Richtung argumentiert werttheoretisch, die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“ ist dagegen wertkritisch ausgerichtet. Die Bedeutung dieses Unterschieds kann kaum überschätzt werden, er ist aber wenig beachtet worden. Wenn die diversen Interpretatoren den zentralen Stellenwert der Wertkategorie in der Marxschen Theorie überhaupt wahrnahmen, dann faßten sie für gewöhnlich die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“ in Analogie zur Hegelschen Logik. Genauso wie im Hegelschen System die alles in sich fassende Kategorie „Sein“ selbstgenügsam aus sich heraus die Wirklichkeit setzt, soll Marx die gesellschaftliche Totalität aus dem „Wert“ abgeleitet haben.

Diese Annahme stellt den Marxschen Ansatz auf den Kopf. Zwar läßt sich ein Ableitungszusammenhang zwischen den innerökonomischen Fetischformen und zum Rechtsfetisch entwickeln(7) [7], das ändert aber nichts daran, daß das daraus hervorgehende Ensemble nur als eine negative Totalität zu begreifen ist. Der kontemplativ affirmative Grundtenor, unter dem Hegel die Wirklichkeit sich aus dem Begriff des „Seins“ entfalten läßt, ist der Marxschen Darstellung vollkommen fremd. Der „Wert“ kann bei ihm die Realität nicht umgreifen, er subordiniert sie seinem Formzwang, indem er sie und damit sich selber zerstört. Die Marxsche Wertkritik akzeptiert „den Wert“ nicht als positive Grundgröße und argumentiert in seinem Namen. Sie dechiffriert seine selbstgenügsame Existenz als Schein. Gerade die flächendeckende Realisierung wertförmiger Vermittlung führt keineswegs zu deren endgültiger in sich geschlossener „Verwirklichung“, sie fällt vielmehr mit ihrer Krise zusammen.

Die Wertlogik enthüllt sich in ihrem Kollaps als Ausblendlogik. Der Ausblendzwang wird aber natürlich nicht erst in der Krise als zusätzlich hinzutretendes Moment wirksam, er ist für die Funktionsweise wertförmiger Vermittlung überhaupt konstituierend. Die Wertlogik kann sich als prozessierender Widerspruch nicht deshalb durchsetzen, weil sie in der Lage wäre, umstandslos alles Nichtwertförmige zu liquidieren, sie herrscht, indem sie auch den formlosen Nichtwert in eine stille Voraussetzung ihrer selbst verwandelt. Der „Wert“ wird das ihm Fremde dabei nie wirklich los.

Auf der Ebene der Sphären läßt sich die Subordinationslogik am Verhältnis von Konsumtion und Produktion festmachen. Die Beziehung von Konsum und Produktion erscheint auf den ersten Blick simpel und überhistorisch. Die Produktion ist das Mittel, die Konsumtion der Zweck, dem dieses Mittel dient. Genußgegenstände werden erzeugt, um schließlich genossen zu werden. Die warenproduzierende Gesellschaft vollzieht jedoch eine merkwürdige Verkehrung. Das Mittel mutiert hier zum Selbstzweck. Die Verwertung des Werts schwingt sich zum „automatischen Subjekt“ auf, und die tautologische Selbstbewegung der abstrakten Arbeit schlägt alles und jeden in ihren Bann. Dieser totalitäre Zug der Wertproduktion befreit sie aber keineswegs von der konsumtiven Seite. Auch das verselbständigte Mittel bleibt unter allen Umständen Mittel, das auf einen außer ihm liegenden Zweck verwiesen ist. In einer Welt, in der es nur Mittel gäbe, hätte sich die Kategorie des Mittels selber aufgehoben und damit natürlich auch der universelle Vermittler, „der Wert“. Als scheinbar so selbstgenügsamer Souverän hängt er also strukturell von dem ab, was er aus dem weiten Feld der glorreichen Ökonomie konsequent ausgeschieden hat, von der subordinierten Konsumtion(8) [8].(9) [9]. (10) [10]. (11) [11].

Die ausgelagerten Momente fallen aus der Welt der Formbestimmung heraus, sie entschwinden aber weder spurlos ein für allemal, noch bilden sie ob ihrer Artfremdheit per se einen Hort unterschwelliger Subversion. Hermetisch geschieden von der Sphäre abstrakter Gesellschaftlichkeit ist der um die Konsumtion gruppierte Lebensbereich zum gesellschaftlich Formlosen herabgesetzt. Als das Unbenennbare und Unbegriffliche gibt diese „Privatangelegenheit“ die Unterlage und den passiven Resonanzboden für das „eigentliche“, vom „Wert“ und seinen diversen Emanationen („Arbeit“, „Recht“, „Geld“ usw.) arrangierte gesellschaftliche Schauspiel ab.

3.

Die Herrschaft der gesellschaftlichen Abstraktion erzeugt das Paradoxon einer „immanenten Transzendenz“. Sie schafft und definiert einen Gegenbereich, der jenseits des Werts liegt, der damit aber auch aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herausgedrängt ist, und selber wiederum in diesem Sinne abstrakt und negativ vom herrschenden negativen Zusammenhang erfaßt wird. Diese merkwürdige Schattenbildung kennzeichnet nicht nur auf der Metaebene das Verhältnis der konsumtiven und der produktiven Sphäre, sie läßt sich bis in die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft zurückverfolgen. Schon die Beziehung der Warenbesitzer im Tauschakt setzt voraus, was sie ausgeblendet haben, und dieser Abspaltungsmechanismus ist ein integraler Bestandteil der Konstitutierung moderner Waren-Subjektivität.

Wo Menschen sich als Käufer und Veckäufer gegenüberstehen und damit ihren gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen, nehmen sie bekanntlich nicht persönlich Bezug aufeinander. Nicht die Menschen treten zueinander in Beziehung, sondern ihre Waren verkehren miteinander. Weil die Waren keine eigenen Beine haben, müssen sich die Menschen zwar dazu bequemen, sie; zu Markte zu tragen; indem die Marktteilnehmer dieses Joch auf sich, nehmen, reduzieren sie sich aber selber zu Charaktermasken ihrer Waren: Sie figurieren allein als deren Stellvertreter, und alles, was an ihnen über diese dünne Platzhalterfunktion hinausgeht, ist in der Tauschrelation systematisch ausgelöscht.(12) [12]

Menschliche Beziehungen verkehren sich hier zu Dingbeziehungen, und der gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich als subjektloser Prozeß her. Dennoch ist die Äquivalenzbeziehung mit ihrer rein instrumentellen Bezugnahme auf den anderen selber wiederum subjektkonstitutiv. Die Tauschpartner sind einander persönlich vollkommen gleichgültig, aber ausgerechnet diese Gleichgültigkeit wird zur Voraussetzung dafür, daß sie sich füreinander in selbständige und allesamt gleich gültige mit jeweils eigenem freien Willen begabte abstrakte Individuen verwandeln.

Wo Waren die Hände wechseln, sind die Protagonisten für einander nur als bloße Mittel gegenwärtig und nicht als Personen, mit ihrer jeweiligen individuellen Geschichte und ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenarten. Diese Degradation ist aber immer wechselseitig und selbstreflexiv. Während die Aneigner des Mehrprodukts in vorkapitalistischen Formationen die unmittelbaren Produzenten als Naturressource(13) [13] behandelten, kann der einzelne Warenbesitzer sein Pendant nur als Mittel und Mittler seines eigenen Genusses benutzen, weil er sich ihm wiederum selber als Mittel und Mittler andient. Indem er aber den Standpunkt seines Gegenübers immer schon antizipiert und sich ihm als Mittel zu verkaufen sucht, affirmiert er den anderen als unabhängig von ihm für sich seiendes, mit einem eigenen Willen begabtes Selbstzweckwesen. Oder um mit Marx zu sprechen:

„Um… Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittelst eines beiden gemeinsamen Willenakts sich fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert.“(14) [14]

In der Welt des Tauschs kann der eine Warenbesitzer für den anderen, Warenbesitzer nur deshalb als Mittel fungieren, weil er ihn als seine eigene Zwecksetzungsinstanz anerkennt.

Die I.ogik und ihre Implikationen lassen sich auf der Ebene der einfachen Wertform recht einfach exemplifizieren. A benötigt einen Stuhl. Er kann ihn jedoch von dem am Wohlergehen von A ausgesprochen desinteressierten B nur erlangen, wenn er ihm dafür jenen Sack Kartoffeln liefert, nach dem sich B seit Jahr und Tag verzehrt. Die Sehnsucht des A nach einem Stuhl muß B also in der Form eines prallen Kartoffelsacks entgegentreten, denn allein in dieser den Leib stärkenden Gestalt ist B dem A gern zu Willen. Die ausgesprochen merkwürdige Metamorphose von As Stuhlbedürfnis in die leibhaftige Kartoffelform ist für das Zustandekommen des Tausches unerläßlich und macht dessen wesentlichen Gehalt aus; das spezifische innere Motiv hingegen, das A dazu treibt, partout in den Besitz dieses Stuhles kommen zu wollen, ist für den Vollzug der Tauschbeziehung irrelevant. Es ist „bloß privat“ und fällt aus dem Tauschakt heraus. Das freie Willenssubjekt A hat seinen Beweggrund, das ist vorausgesetzt, aber in dieser Unbestimmtheit eben auch schon hinreichend. Die Natur seines Bedürfnisses tut nichts zur Sache und bleibt konsequent außen vor. Den Stuhlverkäufer ß geht es gar nichts an, welches Schicksal den veräußerten Stuhl erwartet, ob A von fanatischer Sammelwut besessen ist, den Wunsch nach Bequemlichkeit verspürt, es ihm an Brennholz fehlt, er den geheimen Plan hegt, seine Ehefrau mit einem Stuhlbein zu erschlagen, oder ob A als Sexualfetischist eine ganz besondere, eher intime Beziehung zu Stühlen pflegt; vice versa gilt natürlich das gleiche. B‘s Kartoffelhunger interessiert als solcher A nicht die Bohne. Relevanz gewinnt die Sache für ihn lediglich deshalb, weil B‘s Appetit ihm ausgerechnet in der Gestalt eines tauschbaren Stuhls begegnet. Was B dann mit den glücklich eingeheimsten Kartoffeln beginnen mag, ist wiederum allein sein Bier(15) [15].

Das Verhältnis, das unsere tauschenden Kartoffel- und Stuhlbesitzer nolens volens miteinander eingegangen sind, verleiht der bürgerlichen Ordnung insgesamt ihr merkwürdiges Gepräge. Die ganze Gesellschaft scheint aufgelöst in Warenmonaden, die, sobald sie den Lärm des Marktplatzes hinter sich lassen, weltvergessen allein um den eigenen Bauchnabel kreisen. So entschieden der Käufer beim Erwerb Preis und Qualität der Ware einklagt, so deutlich wird er sich jede Einmischung verbitten, wenn es um die Verwendung und den Sinn der erstandenen Güter geht. Weder bei seiner Kaufentscheidung noch im Umgang mit der erworbenen Ware hat ihm jemand reinzureden. Im Reich der Konsumtion lautet die Devise allemal „freie Fahrt für freie Bürger“, und Diskretion gehört nicht nur bei Beate Uhse und im Bankgeschäft zum guten Ton(16) [16]. Der Wirt, der dem Alkoholiker den nächsten Schnaps verweigert, versündigt sich nicht allein am eigenen Umsatz, er tritt auch noch das persönliche, von der Verfassung garantierte „persuit of happiness“ seines Gastes mit Füßen. Wer nicht ausfällig wird und anderen bei deren „freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit“ lästig fällt, sondern nur still vor sich hinsäuft, hat das selbstverständliche Recht, nach Kräften seine Leberzirrhose zu fördern.

Das Warensubjekt affirmiert im Tauschakt seinen Tauschpartner als abstrakt-freies Willenssubjekt. Indem es ihn in dieser Situation nur als Verkörperung seiner Ware behandelt, schreibt es ihm gleichzeitig eine jenseits der ökonomischen Beziehung verortete, nicht verhandelbare aprioristische Subjektivität zu. Aber nicht nur dem Pendant wird eine transzendente, dem ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhang insgesamt vorgelagerte Subjektivität zugerechnet. Im Tauschakt definiert sich auch das Warensubjekt selber als eine aprioristische Wesenheit. Die coole Selbstinstrumentalisierung bedarf eines außerinstrumentellen Bezugspunkts. Dem Warenbesitzer ist es nur deshalb möglich, sich ohne äußeren Zwang überhaupt dem anderen als Mittel anzudienen und selbstvergessen als Charaktermaske seiner Ware zu agieren, weil dieses funktionale Denken und Handeln an seinen persönlichen Kernbestand nicht heranreicht. Wenn er sich zum Mittel für andere macht, dann ist dieses sich zum Mittelmachen selber wiederum nur Mittel für einen sich allzeit unvermittelt gerierenden Zweck. Seine eigentliche menschliche Substanz bleibt von all den eingegangenen Verträgen und Tauschbeziehungen unberührt. Das selbstgenügsame Geldsubjekt tritt als Inkarnation verschiedenster Sozialkategorien auf, ohne sie aber je zu „sein“, und kann diese wechselnden Bestimmungen auch nur deshalb ausfüllen, weil sie an ihm in letzter Instanz abzuperlen scheinen.

Während alle Warenbesitzer inklusive der Lohnarbeiter sich nolens volens darauf orientieren müssen, die von ihnen angebotenen Waren marktgängig zuzurichten, schöpft diese Anstrengung für den homo oeconomicus und homo sozialis ihren Sinn letztendlich aus einem jenseits von Markt und Arbeit angesiedelten transgesellschaftlichen Raum. Kein allgemeiner Maßstab kann ihm sein Ziel angeben, es liegt einzig und allein in seinem persönlichen, dem gesellschaftlichen Zusammenhang scheinbar enthobenen Glück. Die (Selbst)dressur zum einkommensträchtigen Arbeitsautomaten mag beim ABC-Schützen beginnen, der Zweck der Übung liegt dennoch ausschließlich im vermeintlichen künftigen Wohl des Zöglings und kommt ganz ohne höhere universelle Weihen aus. Die Anhäufung abstrakter Arbeitsquanten schwingt sich auf der Ebene des Gesamtsystems zum tautologischen Selbstzweck auf. Für den Protagonisten bleibt seine Beteiligung an der verselbständigten Verwertungsbewegung jedoch bloßes Mittel bei der Verfolgung anderer „persönlicher“ Ziele. Er nimmt einen hedonistischen Standpunkt ein und will sich nur einen möglichst einträglichen Lebensunterhalt und damit die Grundlage seiner privaten Glückseligkeit verschaffen. Das Apersonale, die blanke Gewalt der Versachlichung, unterwirft sich den gesellschaftlichen Vermittlungsraum. Das „eigentlich Menschliche“ entschlüpft in ein rnit Imaginationen möbliertes Nebenreich.

Die Herrschaft des Werts zwingt ihren Geschöpfen und Schöpfern keine kleinlichen Lebensvorschriften auf, sie zerstört statt dessen alle unhinterfragbaren Leitlinien. Die negative Tyrannei der Warenwelt hypostasiert den Einzelnen und macht ihn zu seiner eigenen Sinngebungsinstanz. Sie stößt ihn in ein Vakuum, in dem er zu guter Letzt nur auf sein eigenes, allen realen gesellschaftlichen Bezügen entrücktes Selbst trifft.

4.

Unsere Überlegungen bewegen sich auf der Ebene der Wahrnehmungs- und Denkformen, und wir werden uns auch im folgenden vornehmlich auf diesen Aspekt konzentrieren. Eins ist dabei aber klar und liegt wohl mehr oder minder auf der Hand. Die chimärische Gegenwelt zu Arbeit und Selbstbeherrschung existiert nicht nur als ein inneres Erlebnis, sie muß auch ihren gesellschaftlich-ungesellschaftlichen Ort finden und sich verzeitlichen. Die Deifizierung der abstrakten Arbeit zum entscheidenden Medium von Gesellschaftlichkeit führt weder dazu, daß sich jede menschliche Tätigkeit und Regung in Arbeit verwandeln würde, noch zwingt sie unterschiedslos alle menschlichen Beziehungen in die Warenform. Der homo oeconomicus und seine Arbeits- und Warenlager können nur neben aus der Verwertungslogik herausgesprengten, gesellschaftlich namenlos gemachten(17) [17] (18) [18], und diese wiederum geht nicht einfach in der blanken Tauschlogik auf. In der „Freizeit“ nimmt das Arbeitstier auch die Existenzweise des Käufers an, aber eben nicht nur sie. Das Unbestimmte bzw. ausschließlich negativ Bestimmte am Begriff verrät schon das Charakteristische dieser Sphäre. Die Arbeitszeit ist fest umrissen und auf jederzeit spezifizierbare Ansprüche ausgerichtet. „Freizeit“ dagegen läßt sich lediglich im Kontrast dazu definieren. Sie umfaßt aber nicht nur die unterschiedlichsten Kategorien von Nichtarbeitszeit. Vor allem verschwimmt in ihr auch die Grenze zwischen der eigentlichen, dem Individuum disponiblen Lebenszeit, und jenen Stunden, die es mit reproduktiven, unmittelbar unter dem Diktat der gesellschaftlichen Form stehenden Funktionen zubringt. Es ist keineswegs von vornherein ausgemacht, ob die Mitarbeit von Vater und Mutter im Elternbeirat von Schule und Kindergarten als Opfer an Freizeit oder als einer ihrer Bestandteile zu gelten hat. Die Zuordnung ist nicht einmal bei der Beschäftigung mit den eigenen Sprößlingen so eineindeutig. Erst recht hängt es offensichtlich von der jeweiligen persönlichen Verfassung der Beteiligten ab, ob der Warenhausbesuch als Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln, oder der „Kaufhof“-Werbung gemäß, als Einkehr in ein „Erlebnishaus“ verstanden wird. Wo in der Freizeit das ersehnte „Eigentliche“ beginnt, bleibt allenthalben im Nebel. Dieser Nebel macht sich nicht nur beim Versuch bemerkbar, die Nicht-Arbeitswelt theoretisch-begrifflich zu fassen, sondern erst recht lebenspraktisch.

So energisch die Freizeitmenschen „dem Anderen“ nachstellen, sie verfehlen es ein ums andere Mal. Auf der verzweifelten Suche nach dem aus den abstrakten gesellschaftlichen Beziehungen herausabstraktifizierten Kern können die Jäger nur auf das durch Kaufakte vermittelte Instrumentarium zurückgreifen. Der Einsatz dieser Mittel vertreibt und zerstört aber gerade, was er fassen soll. Das erkaufte Glück schmeckt schal. Das Flugticket bringt den seiner versachlichten Beziehungen müden westeuropäischen Menschen in ein karibisches Fata-Morgana-Paradies, in dem sich die Einheimischen noch „echt“, „menschlich“ und „unmittelbar“ verhalten. Doch schon wenige Jahre Tourismus zerstören den schönen Schein. Traditionelle Gastfreundschaft verwandelt sich in Beutelschneiderei und sprühende Lebensfreude spaltet sich in devotes Verhalten und kleinkriminelle Energie. Aber selbst solange sich die überlieferte andere Lebensart resistent zeigt, läßt sie sich nur von außen in dieser emphatischen Weise genießen. „Echt“, „menschlich“ und „unmittelbar“ erscheint sie nur aus der Perspektive des Deutschmark-gestützten Zaungastes. Diese Konstellation kennzeichnet die Freizeit- und Erlebnisgesellschaft insgesamt. Das monetär vermittelte und juristisch regulierte Erlebnis ist keines mehr, sondern eine mehr oder minder raffiniert ausstaffierte Form von Langeweile.

Die Gewalt der Versachlichung schwappt ins imaginäre Gegenbild hinüber. Das von der Warenform gesetzte Jenseits ist von der Herrschaft der toten Dinge umstellt und verstellt. Der transzendente Bezugspunkt seines Sehnens bleibt dem modernen bürgerlichen Menschen verwaschen und undeutlich. Aber gerade dieses schwer Greifbare und Flüchtige macht es als das kenntlich, was es ist: die formlose und gerade deshalb unverzichtbare Rückseite der Verwertungslogik. Die Dampfwalze der Wertvergesellschaftung kann sich nicht in Gang setzen und weiterrollen, ohne ihre eigenen exterritorialen Homelands zu schaffen. Im Dunkeln, abseits der Verwertung und doch für den Lauf der Megamaschine unerläßlich, finden sich die idyllischen Abgründe privater Höllen, die terra incognita des gesellschaftlichen Betriebs.

5.

Ein Widerspruch durchzieht die moderne Warensubjektivität in all ihren Abarten. Der Konstituierung des Warensubjekts liegt die Chimäre eines Subjekts zugrunde, das sich selber zum letzten Zweck hat. In seinen diversifizierten sozialkategorial gerasterten Funktionen kann der einzelne dieser selbstbezogenen Subjektivität jedoch nicht frönen und sie ausleben. Im Gegenteil, jedes persönliche Element wird in diesem Bezugsfeld quasi ex definitione wegabstraktifiziert. Mit der historischen Entfaltung warenförmiger Vergesellschaftung steigert sich dieses ihr inhärente Spannungsverhältnis bis zur Unerträglichkeit. Im selben Augenblick, da die bürgerliche Subjektivität sich von allen Schlacken gemeinschaftlicher Existenzformen reinigt und zu sich kommt, wird sie denn auch schon prekär.

Diese Prekarität schlägt sich unter anderem in einer für das moderne Lebensempfinden charakteristischen Ambivalenz nieder. Eine merkwürdige Mischung aus Allmachtsanspruch und einem tiefreichenden Ohnmachtsgefühl macht sich heute breit. Einerseits weiß das moderne Warensubjekt sehr wohl, daß sich ihm sein eigenes soziales Dasein nur über eine unermeßliche Vielzahl monetärer Verknüpfungen und rechtlicher Regelungen vermittelt. Allenthalben muß sich der Einzelne auf die geld- und rechtsförmige Regulationsweise einlassen, sie wird ihm zur zweiten Natur. Kein Lebensbereich bleibt von ihrem Zugriff verschont. Im gleichen Atemzug setzt die Übermacht der Mittelwelt aber auch einen exzessiven Subjektterror in Gang. Aus allen altmodischen sozialen Gefügen herauspräpariert und statt dessen in auseinanderstrebende sozialkategoriale Zuweisungen zerlegt, kann der einzelne den Anspruch auf das lebensnotwendige Minimum persönlicher Kohärenz nur als Subjektvorbehalt formulieren. Im Fadenkreuz diversifizierter Sozialfunktionen bleibt dem Individuum(19) [19] allein ein Weg, um der vollkommenen Pulverisierung zu entgehen. Es muß sein Selbstbewußtsein aus der Distanz zum umgebenden gesellschaftlichen Zusammenhang schöpfen, der es zersplittert.

Für den vorbürgerliche Menschen war jahrtausendelang Konformität im eigenen eng umrissenen Lebenskreis der selbstverständliche Maßstab seiner Existenz. Er verstand sich als Angehöriger eines Lebenskreises, und sein Selbstbild war von organisch gewachsener Identifikation geprägt. Er “war“ Bauer, Adliger, Mönch usw., und selbst die unterständischen Proletarier des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts definierten sieh wesentlich über ihr Arbeitersein, das ein ganzes Ensemble von sozialen Bezügen in sich schloß. Die negativ abgrenzende Identitätsfindung der modernen Monade stellt diese Grundorientierung auf den Kopf. Die modernen Individuen sind deswegen nicht weniger durchnormiert als ihre Altvorderen, im Gegenteil. Es ist aber gerade der zum Massenphänomen gesteigerte Autonomiewahn, der diese Normierung vermittelt.

Die Bezeichnung Wahn mag in diesem Zusammenhang hart klingen, sie entbehrt aber nicht der Berechtigung. Das bürgerliche Denken behandelt Individuum und Gesellschaft seit jeher ganz selbstverständlich als Antinomie. Diese Wahrnehmungsweise hat mittlerweile aber die Höhen bloß philosophischer Reflexion verlassen, und durchdringt auf breiter Front die Alltagsmentalität in all ihren Verästelungen bis tief ins Unbewußte hinein. Nie war der Zwang, sich partout der eigenen Besonderheit versichern zu müssen, derart verallgemeinert wie heute. Im Zeitalter der Psychowelle muß sich noch jeder Müllkutscher als Schmalspurdandy beweisen, und selbst beim Nahkampf im Sommerschlußverkauf gehören immer nur die anderen zur grauen Masse. Zu Beginn des Jahrhunderts freute sich eine kleine Boheme ihrer schockierenden Verachtung gesellschaftlicher Normen. Selbst noch in den 50er Jahren war für die breite Masse die Meinung der Nachbarn und die öffentliche Moral eine ebenso gewichtige wie feste Größe. In den letzten 30 Jahren ist Nonkonformität selber sukzessive in den Rang einer gesellschaftlichen Norm aufgerückt.

Das Paradoxe an dieser Konstellation läßt sich mit Händen greifen. Beim zwanghaften Versuch, aus den vielfältigen Angeboten der Warengesellschaft „Individualität“ zu zimmern, entstehen denn auch nur offensichtlich absurde Surrogatidentitäten. Es fällt nicht schwer, den Persönlichkeitskult der Surf- und Yuppiegeneration und ihrer Nachäffer aufs Korn zu nehmen und die permanent reflexhaft zelebrierte Individualität als Produkt von der Stange zu entlarven. Der bloße Spott über die Pathologie des Alltagsverstandes bleibt auf Dauer allerdings unbefriedigend. Die Haltlosigkeit und Beliebigkeit der tautologischen Bauchnabelshow tut ihrer Wirksamkeit nicht den geringsten Abbruch. Die Farce hat nicht nur tragische Züge, sondern ihre Zwangslogik. Bei der Apotheose bestimmungsloser Subjektivität handelt es sich um weit mehr als nur ein flüchtiges ideologisches Hirngespinst. Ein integraler Bestandteil der Verhältnisse tritt uns in diesem bunt schillernden Phänomen entgegen. Der Individualitätskult ist die andere Seite von Monetarisierung und Verrechtlichung, und das Verrücktwerden der Selbstzweckindividuen gehört zum Kollaps der gesellschaftlichen Zwangsform.

6.

Die Welt der versachlichten Beziehungen ist sinn- und zweckleer. Das moderne Individuum lebt in einem Reich der Beliebigkeit. Niemand setzt ihm feste Normen. Diese Unverbindlichkeit hebelt allerdings keineswegs die unerbittliche Härte der Sachzwangrationalität aus. Im Gegenteil, sie korrespondiert mit ihr. Der einzelne mag mit den sozialkategorialen Zuordnungen jonglieren, das ändert aber weder etwas an deren funktionaler Starrheit noch an ihrem Vergewaltigungscharakter. Wenn die Monade leichtfertigerweise ihre vier Wände verläßt und sich auf die Straße begibt, hat sie zwar prinzipiell die Wahl, ob sie sich in einen Radfahrer, Autofahrer, Fußgänger oder einen Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel verwandelt, die Mutation zum Verkehrsteilnehmer, der sich selbstkontrolliert nur auf dränierten Bahnen bewegt, steht jedoch nie zur freien Disposition. Nolens volens partizipiert jeder an der Megamaschine Verkehr, und wer sich den an die jeweilige Teilnahmeform gekoppelten Zwängen nicht fügt, riskiert Verstümmelung und Tod. Der Blutzoll, den erst unzureichend verkehrsgerecht zugerichtete Kinder auf der Straße zu entrichten haben, spricht eine überaus deutliche Sprache. Aber schon dem Flugzeugpassagier verbietet es sich, nachträgliche Kurskorrekturen vorzunehmen oder vorzuschlagen, will er nicht als Luftpirat Schlagzeilen machen. Wer mitten auf der Autobahn urplötzlich das Interesse am projektierten Italienurlaub verliert und daraus augenblicklich die Konsequenz zieht, wird alsbald im Verkehrsfunk unter der Rubrik Geisterfahrer annonciert.

Die beiden letzten Beispiele mögen, ein bißchen albern wirken., Das liegt in erster Linie aber nur daran, daß wir gründlich verinnerlichte Zwänge gar nicht mehr als Zwang wahrnehmen. Eine rigide Innensteuerung ist, nicht nur im Verkehr, so selbstverständlich und allgegenwärtig geworden, daß das geforderte hohe Disziplinierungsniveau nur mehr auffällt, wenn die gebeutelten Individuen es nicht aufbringen und demonstrativ durchdrehen. Einige hundert Jahre „Prozeß der Zivilisation“ haben ihre Wirkung getan und Eigenschaften wie Berechenbarkeit, Rationalität oder auch das westlich-lineare Zeitempfinden eingeschliffen. Der moderne Mensch paßt sich fraglos und selbstbestimmt Situationen an, in denen seine vormodernen Altvorderen sofort gescheitert wären, und kann sich nur mehr schwer Rechenschaft über diese Leistung abgeben.

Die beständige (Selbst)disziplinierung hat ihre Matrix in den Eigendressurakten, die sich die Warensubjekte im Tausch und bei der Arbeit aufnötigen. Sie geht aber über die enge ökonomische Sphäre und das öffentliche Leben insgesamt weit hinaus. Der lange Arm gesellschaftlicher Regulation reicht tief in die Psychostruktur hinein, und damit auch in die „Privatsphäre“. Das in den versachlichten Außenbeziehungen eingeübte Sich-zum-Mittel-Machen läßt sich auch dort nicht auf Knopfdruck ausschalten, wo der einzelne in den abgespaltenen.Bereich des Nichtzweckhaften eintritt. Bis zu den Haarspitzen auf diese merkwürdige Existenzform abgerichtet, setzt das Individuum sie in die Freizeit hinein fort. Es ist kein Zufall, daß so manches Hobby, vom jogging bis zum Bodybuilding(20) [20], verdächtig an das rigide Arbeitsreglement gemahnt, und als Verlängerung der Fabrikdiktatur auf anderem Terrain verstanden werden kann. Wer beim Sonntagsausflug, beim Wandern oder auf der Urlaubsreise gewohnheitsmäßig Kilometer abspult, folgt offensichtlich dem vertrauten abstrakten Leistungs- und Quantifizierungsprinzip aller Arbeits-Lemminge. Wer über Freizeitstreß klagt, wird dessen sogar – zumindest partiell – gewahr. Dieser Mechanismus kann sich aber auch klandestin durchsetzen.

Dieser Sachverhalt darf uns über eins allerdings nicht hinwegtäuschen. Der Freizeitmensch und homo privatus geht in derlei Verrichtungen keineswegs auf. Er ist nicht nur die Konsummaschine, die angespannt und genußunempfindlich auffrißt und verschleißt, was sie als zwanghaftes bele6tes Produktionsinstrument mitgeheckt hat. Die Monade lebt nicht nur den Doppelwahnsinn von abstraktem “Leisten“ und nicht minder abstraktem „Sich-Leisten“, auch das ins Formlose Verschwimmende, von den gesellschaftlichen Beurteilungskriterien Abgekoppelte am Subjekt a priori hat sein psychisches Substrat. Das ominöse, so oft beschworene Eigene verschwindet nicht einfach in der simulativ weiterbetriebenen Selbstdressur. Hinter den diversen Schalen von Außenidentitäten, die breite Teile des Freizeitverhaltens mitumfassen, lauert noch immer etwas anderes, das nicht-offiziöse Innensubjekt. Diese der öffentlichen Sphäre abgewandte Seite hat ihren eigenen, zu den Idealen des Außenegos komplementären Tugendkatalog. Während sich das Außen-Ich allzeit durchsetzungsstark, rational und weltläufig zu zeigen hat, muß das Innen-Ich sich in Einfühlsamkeit und Sinnlichkeit einüben. In dieser Funktion nimmt die weltabgewandte Seite des Subjekts einerseits die Stelle des heiligen Eigentlichen ein und figuriert andererseits im Kontrast zum übergreifenden aggressiven Außen-Ich als das Schwache, Schützenswerte, Bedürftige.

7.

Zu den Ingredienzen moderner Subjektivität gehört nicht nur die historisch neuartige Fähigkeit zum Selfmanagement. Mit dem homo oeconomicus, dem jede Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zu sich selbst sofort zum instrumentellen Verhältnis gerät, entsteht und verallgemeinert sich auch dessen Alter ego. Das Reich der Versachlichung erzeugt als seine Rückseite einen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit herausdestillierten Bereich der Intimität. In diesem Reservat tobt sich die abstrakte Menschlichkeit aus.

So unverzichtbar beide Pole für die Konstituierung bürgerlicher Subjektivität sind, so schwer tut sich der einzelne damit, die diametral entgegengesetzten Anforderungsprofile in Einklang zu bringen, die diese beiden nebeneinander existierenden Selbstbilder ihm aufnötigen. Die daraus erwachsenden Kalamitäten sind nicht bloß akzidentieller Natur. Sie gehen vielmehr bestimmend in die Subjektbildung selber ein. Das selbstgenügsame autonome Subjekt bleibt nicht nur deshalb immer Fiktion, weil es der äußeren Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Zusammenhang nie entrinnen kann. Die Monade unterliegt außerdem auch einer inneren Zerreißprobe, und sie kann nur durch die Externalisierung wesentlicher Bestandteile ihres Selbst in dieser Malaise überhaupt eine gewisse Stabilität erreichen. Das bürgerliche Subjekt lebt seine schizophrene Grundsituation, gleichzeitig als Gefühlsmensch empfinden zu Müssen und als kühl kalkulierender Rechner zu funktionieren, indem es das, was nicht zusammenpassen will und doch zusammengehört, auf zwei Partialidentitäten verteilt. Die Monade existiert nicht als einzelnes Atom, wie es ihrem Selbstbild eigentlich zu entsprechen scheint, sie kommt vielmehr zu ihrem prekären Gleichgewicht, indem sie sich zumindest virtuell – zu einem Bestandteil eines zweigeschlechtlichen Paarmoleküls macht.

Das autarke Subjekt versteht sich selber als ein geschlechtsneutrales, allgemein menschliches Wesen. Jede geschlechtliche Zuordnung mutet auf den ersten Blick so befremdlich an wie der Versuch, das Geschlecht einer Billardkugel zu bestimmen. Beim Nachfassen entpuppt sich das Selbstverständnis allerdings als ideologischer Schein. Der Autonomiewahn und -zwang, die beständige gewohnheitsmäßige Selbstvergewaltigung des Warensubjekts, kann nicht den ganzen Menschen in sich fassen. Er schneidet wesentliche Daseinsaspekte ab. Die abgedrängte und zur Intimität verselbständigte Seite fällt in das Schattenreich zugerechneter Weiblichkeit. Indem sich das übergreifend nach außen gewandte und universalistisch orientierte Moment des Warensubjekts von dieser feminin besetzten Gegenwelt abstößt und sich im selben Atemzug klammheimlich auf sie stützt, macht es sich selber aber als männlich attributiertes Wesen kenntlich. Was uns empirisch wohlvertraut ist, entspricht durchaus auch der Logik der Sache. Der zum Konkurrenzsubjekt mutierte und dementsprechend von seiner eigenen Emotionalität überforderte Privatmann „löst“ seinen inneren Widerspruch, indem er die sinnlich-emotionale Seite an die Frau delegiert. Nur in seiner männlichen Partialidentität kann das auf Sachlichkeit und Rationalität zugerichtete autonome Warensubjekt sich seiner wegeskamotierten und gleichzeitig für sakrosankt erklärten anderen Seite bemächtigen, ohne Gefahr zu laufen, selber auseinanderzufallen(21) [21]. (22) [22], und sie gewinnen eine alternative Sinnperspektive als Hüterinnen gemeinsamer Innerlichkeit. Diese Struktur wird auch unabhängig von der einzelnen Paarbeziehung wirksam. Die Geschlechts(selbst)bilder stiften selbst da noch wesentlich das innere Bezugssystem des Warensubjekts, wo der „Partner“ im Imaginären bleibt.

Die Herausbildungsgeschichte der wohlvertrauten bürgerlichen Geschlechterstereotypen läßt sich einige Jahrhunderte zurückverfolgen, ihre volle Entfaltung quer durch die Bevölkerungsschichten ist allerdings neueren Datums. Erstmals tritt in Dokumenten aus dem 14. Jahrhundert die Frau als Wahrerin heimeliger Behaglichkeit auf. Eine dünne städtische Patrizierschicht unternimmt zu dieser Zeit die ersten noch unsicheren Schritte hin zur Intimität. Die guten Ratschläge, die ein 60jähriger vermögender Pariser Bürger und Kaufmann im Jahr 1393 seiner l5jährigen Ehefrau mit auf ihren weiteren Lebensweg gab, zeigen die generelle Marschrichtung an, auch wenn der passiv-rheumatische Grundton dieser Direktiven nicht unbedingt repräsentativ für das männliche Verhältnis zu Sinnlichkeit und Weiblichkeit sein mag:

„Schönes Schwesterchen“, so hebt er zärtlich an, „wenn ihr nach mir einen anderen Mann habt, dann müßt ihr sehr auf seine Behaglichkeit achten. Denn wenn eine Frau ihren ersten Mann verloren hat, ist es gewöhnlich für sie schwer, einen zweiten nach ihrem Stande zu finden, und dann bleibt sie für lange Zeit allein und ungetröstet, und noch mehr, wenn sie den zweiten verliert. Deshalb pflegt Euren Ehemann sorgsam und bitte, haltet ihn in sauberer Wäsche, denn das ist Eure Aufgabe. Und weil die Sorge für die Geschäfte draußen Männersache ist, muß der Ehemann darauf achtgeben, er muß gehen und kommen und hierhin und dorthin reisen, bei Regen, Wind, Schnee und Hagel, einmal durchnäßt, dann wieder ausgedörrt, einmal in Schweiß gebadet, dann wieder frierend, schlecht verpflegt, schlecht untergebracht, schlecht gewärmt und schlecht gebettet. Und alles macht ihm nichts aus, denn ihn tröstet die Hoffnung auf die Fürsorge seiner Frau, wenn er zurückkommt, und auf die Gemütlichkeit, die Freuden und Vergnügungen, die sie ihm bereitet, oder in ihrer Anwesenheit bereiten läßt: die Schuhe beim warmen Feuer ausziehen, gutes Essen und Trinken vorgesetzt bekommen, schön bedient und versorgt werden, fein gebettet sein in weißen Bettüchern und weißen Schlafmützen, anständig zugedeckt sein mit guten Pelzen, verwöhnt durch andere Freuden und Unterhaltungen, Vertraulichkeiten, Liebesdienste und Heimlichkeiten, über die ich nicht rede. Und am nächsten Morgen neue Hemden und Kleider…“ (23) [23]

Der Tenor der gutgemeinten Ratschlägen, insbesondere auch der Schlußsatz „Und nehmt Euch in acht, daß es in Eurem Zimmer und Eurem Bett keine Flöhe gibt“(24) [24], mögen dem zeitgenössischen Ohr etwas befremdlich anmuten. Dennoch, dem Grundmuster ist die Geschlechterbeziehung in der bürgerlichen Epoche treu geblieben. Die beiden Seiten der Waren-Subjektivität, das auf instrumentelles Handeln ausgerichtete Außen-Ich und das aus diesem Bezugsfeld herausabstraktifizierte Innen-Ich, sind seit jeher geschlechtsspezifisch besetzt. Außen- und Innen-Ich verkehren miteinander als “Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. Dieser Scharnierfunktion entsprechend kommt der Paarbeziehung im prekären Gefühlshaushalt des modernen Massenindividuums · ein enormes Gewicht zu. Ein Pendant dazu läßt sich in der Geschichte kaum finden. Nie waren „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ so allgegenwärtig wie heute. So oft sich auch das an die holde Zweisamkeit gekoppelte Glücksversprechen als schal erweist, so wenig kann die moderne Monade sich von ihm emanzipieren. Das durchschnittliche Individuum hangelt sich entweder in „serieller Monogamie“ (Beck/Beck-Gernsheim) von Zusammenbruch zu Zusammenbruch, von einem (selbst)mörderischen Idyll ins Nächste, oder es resigniert paarweise. Selbst wenn die Distanz zum Paarunwesen ideologisch aufgeladen wird und sich zur lebensphilosophischen Pose verfestigt, bleibt eine negative, deswegen jedoch nicht weniger starke Fixierung spürbar. Es läßt sich schwerlich übersehen, daß es sich bei der Selbstzelebrierung „bewußten Singletums“ nur um die mühsame Kaschierung und ärmliche Ästhetisierung einer psycho-sozialen Postkatastrophenlandschaft handelt.

Auch in vorbürgerlichen Gesellschaften hat das Merkmal „Geschlecht“ für das gesellschaftliche Gefüge eine strukturierende Bedeutung. Erst die bürgerliche Gesellschaft arbeitet allerdings die Geschlechterstereotypen in ihrer Reinheit heraus und stellt „den Mann“ „der Frau“ gegenüber(25) [25]. (26) [26] in die herrschenden Rollenzuweisungen hinein. Im Ideal von Kleinfamilie und Paarbeziehung fanden die Außen- und Innerlichkeitsseite bürgerlicher Subjektivität zu einer einigermaßen stabilen und selbstverständlich erscheinenden Koexistenz zusammen. Die Frauen, die gelernt haben, als selbständige Arbeits- und Konsummonaden aufzutreten, lassen sich hingegen nicht mehr problemlos subsumieren. Das gilt selbst dann, wenn sie es selber wünschen und ein entsprechendes Weiblichkeitsideal vertreten. Sobald die Berufung zur “natürlichen“ Bewahrerin männlich-weiblicher Innerlichkeit selber zu einem “Karriereprojekt“ unter anderen möglichen “Lebensentwürfen“ wird, und daher extra gewollt werden muß, ist die kleinfamiliale Balance schon aus den Angeln gehoben.

Diese Entwicklung scheint auf den ersten Blick dazu angetan, die Geschlechterstereotypen außer Kraft zu setzen. Bei näherem Zusehen zeigt es sich aber, daß von einer Neutralisierung der Geschlechterbilder in keiner Weise die Rede sein kann. „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ büßen weder ihre eindeutige Bestimmung noch ihre gesellschaftliche Bedeutung ein, sie beginnen sich lediglich vom empirischen Geschlecht der Individuen abzulösen. Sie werden damit als das sichtbar, was sie schon immer gewesen sind, gesellschaftliche Strukturmerkmale im biologischen Gewande. Die säuberliche Zuteilung „weiblicher Eigenschaften“ an die Frau und „maskuliner“ an den Mann verliert ihre Eineindeutigkeit. Der „neue Mann“ darf gelegentlich ebenfalls einmal in Tränen ausbrechen, oder sich mit Kindern beschäftïgen, der Frau steht es frei, sich vielleicht ab und an zu einer zynischen Bemerkung hinreißen zu lassen, und in „Coolness“ und „Unabhängigkeit“ machen. Der Kodex selber ist damit jedoch keineswegs verschwunden. Das prekär gewordene Unterfangen, die Außen- und Innenseite bürgerlicher Subjektivität rniteinander zu verbinden, bedient sich nach wie vor der Chiffrensprache von maskulin und feminin. Eine andere Lingua franca steht dazu gar nicht zur Verfügung. Wenn in den modernsten gesellschaftlichen Segmenten „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ voll Inbrunst inszeniert werden, dann hat dieses Spiel einen eindeutig zwanghaften Charakter. Die Identitätssuche richtet sich in diesem bipolaren Spannungsfeld aus.

Die Geschlechterproblematik löst sich im Rahmen der Wertvergesellschaftung also keineswegs zugunsten einer geschlechtslosen Universalindividualität in Wohlgefallen auf. Dennoch ist die Tragweite der Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen haben, enorm. Die beständige Restauration und Neuaustarierung geschlechtlicher Zuweisungen in jeder einzelnen Paarbeziehung macht die alte selbstverständliche stille Voraussetzung des „autonomen Warensubjekts“ zur dauernden, von regelmäßigen persönlichen Katastrophen unterbrochenen Sisyphusarbeit. Diese Erschütterung und Verunsicherung tangiert das bürgerliche Subjekt nicht nur peripher, sie trifft es in seinem Kern. Mit den Umbrüchen und der Dekonstruktion der Geschlechterordnung wird die bürgerliche Subjektform selber brüchig. Die geringe Halbwertszeit moderner Beziehungen, und die alltäglichen Beziehungs-Scharmützel sind Indikatoren irreversibler Zersetzungsprozesse, die regelmäßig und massenhaft auch die Außen-Ich-Fassaden zum Einsturz bringen. Das autonome männliche Warensubjekt, das sich genötigt sieht, künftig auch noch das abgespaltene „Weibliche“ aus sich heraus zu rekonstituieren, muß an dieser Hybris scheitern.

(1) [27] „Arbeit“ und „Produktion“ sind keineswegs Synonyme. Aus dem Umstand, daß der Stoff umformende, produktive Bezug des Menschen auf die ihn umgebende Natur unaufhebbar ist, folgt daher auch nicht die Unaufhebbarkeit der Kategorie „Arbeit“. Die Abstraktion „Arbeit“ ist in ihrer Reinheit ein spezifisch bürgerliches Phänomen. Sie ist mit der Herausbildung der Warenproduktion entstanden und wird mit ihr auch wieder verschwinden. Vgl. dazu die Aufsätze „Die verlorene Ehre der Arbeit [28]“ („Krisis“ 10) und „Sexus und Arbeit [29]“ („Krisis“ 12).

(2) [30] Gerade ökonomistisch orientierte marxistische Theoretiker dachten immer ganz selbstverständlich in einander äußerlichen Faktoren. Nichts war ihnen so fremd wie der höchstens in hegelmarxistischen Ansätzen hochgehaltene Drang zur Totalität. Für den Ökonomisten war die Ökonomie nie das Ganze, sondern nur der gewichtigste Teil in einem durch und durch mechanischen System. Wer versucht, in der marxistischen Theoriegeschichte auch nur eines einzigen blanken Ökonomisten habhaft zu werden, wird sich denn auch ungefähr genauso schwer tun wie die Physiker einst bei ihren Versuchen, Süd- und Nordpol von Magneten voneinander zu trennen. Wer sich die Mühe macht, Theoretiker wie Kautsky oder Hilferding, die als Inbegriff ökonomistischen Denkens gehandelt werden, tatsächlich zu lesen, der wird feststellen müssen, daß in ihren 5chriften ihre ökonomistische Argumentation regelmäßig alsbald in puren Politizismus und Soziologismus umschlägt. Neben den „ehernen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ steht allemal das unbedingte Klassensubjekt. Nur wer selber bis über beide Ohren in der Politik- und Willensillusion befangen ist, kann diese Kopplung übersehen. Den eilfertigen Ökonomismuskritikern muß sie entgehen, weil sie – nur am anderen Pol – demselben Denkuniversum verpflichtet sind, dem auch die von ihnen so billig abgefertigte ökonomistische Sicht angehört.

(3) [31] „Grundrisse“, S. 8.

(4) [32] A.a.O., S. 17.

(5) [33] A.a.O., S. 20.

(6) [34] Allein deshalb konnte es überhaupt zu der grotesken Verkehrung der Marxschen Formkritik in die marxistische Apologetik der Form kommen.

(7) [35] Auf dieser Ebene bewegt sich die Marxsche Darstellung im „Kapital“ denn auch hauptsächlich. Er schreitet vom Wert zu dessen Erscheinungsformen Tauschwert, Gebrauchswert und Geld voran, er zeichnet die Metamorphose des Werts zum Kapital nach, usw.

(8) [36] Nicht nur logisch, auch historisch macht es hier Sinn von Ausscheiden zu sprechen. Das „Oikos“, das „ganze Haus“ der griechischen Antike von dem sich unser moderner Begriff Ökonomie herleitet und seine Nachfolger bis ins 19. Jahrhundert, beherbergten in friedlicher Koexistenz produktive und konsumtive Funktionen. Erst die Warengesellschaft sprengt und polarisiert dieses Verhältnis.

(9) [37]Das gilt vermittelt auch dort, wo sich. weitere Akte „produktiver Konsumtion“ zwischen das vorhandene Produkt und den endgültigen Konsum schieben. Auch der Wert von Produktionsmitteln muß zu guter Letzt in einem bloßen Genußgegenstand wiedererscheinen, ansonsten ist der wertproduktive Kreislauf unterbrochen, und es findet a posteriori Entwertung statt.

(10) [38] “Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion“ (MEW 23 S.50); „…in der Konsumtion tritt das Produkt aus der gesellschaftlichen Bewegung heraus, wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt es im Genuß.“ (Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, S.10).

(11) [39] Das Scharnier zwischen privatem Genuß und der Welt der abstrakten Arbeit bildet die Kategorie des Gebrauchswerts. Sie ist die Kategorie, die auf das Sinnlich-stoffliche an der Ware verweist, allerdings als abstrakte Stofflichkeit. Der Tauschwert faßt die Ware als abstraktes Wertding, der Konsum nimmt die Ware nicht mehr als Ware, sondern zehrt sie als besonderen Genußgegenstand auf. Der Gebrauchswert steht dazwischen und verschafft der abstrakten Nützlichkeit der Ware, ihrer Nützlichkeit überhaupt, Geltung.

(12) [40] „Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer.“ (MEW 23).

(13) [41] Einer Naturressource kommt natürlich keinerlei Subjektstatus zu. Im Feudalismus sind alle einzelnen nur bezogen auf den Allmächtigen etwas ähnliches wie Subjekte, wobei dem Subjektbegriff bemerkenswerterweise zunächst genau die umgekehrte Konnotation anhaftete, die ihm in seiner modernen Ausprägung zukommt. Subjekte waren die Christenmenschen unterschiedslos, soweit sie dem Willen des Herren unterworfen waren! (Der Terminus Subjekt leitet sich denn auch bezeichnenderweise vom lateinischen Wort subicere her, das soviel wie sich unterwerfen, unterordnen meint. Das Subjekt ist also wörtlich verstanden das Unterworfene, nicht das Erkennende oder gar das Unterwerfende.)

(14) [42] MEW 23.

(15) [43] Mit der Dazwischenkunft von Geld und Kapital kompliziert sich der skizzierte Zusammenhang, an der Grundlogik ändert sich aber nichts. Auch der Kapitalist D und der Arbeiter C affirmieren sich in ganz ähnlicher Weise wie der Kartoffelbesitzer A und der Stuhlbesitzer B als freie Warensubjekte, sobald sie in Beziehung zueinander treten: C will sich reproduzieren. Dieser Wunsch ist zunächst einmal sein reines Privatvergnügen. Er muß zwar nicht die obskure Form eines Stuhls oder von Kartoffeln, dafür die abstrakte Gestalt von Geld annehmen, um gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Zugang zu den Reproduktionsmitteln kann sich C nämlich dummerweise nur über diesen allgemeinen Mittler verschaffen. Zu Geld kann C: aber lediglich kommen wenn er erst einmal selber als Verkäufer auftritt und die einzige Ware feilbietet, die er besitzt, seine Arbeitskraft. D ist es vollkommen gleichgültig, ob C verhungert und auf der Straße liegt oder nicht. D steht nur für den Drang seines Kapitals, sich zu verwerten. Sehr zum Bedauern von D sind dazu aber Arbeitskräfte vonnöten, und so sieht er sich veranlaßt, auf C‘s freundliches Angebot zurückzukommen. C ist es nach wie vor im Grunde scheißegal, was mit dem Kapital von D geschieht er kennt D gar nicht und will ihn gar nicht näher kennenlernen. Dennoch begrüßt er ihn freudig als Käufer, schließt mit ihm seinen Kontrakt und akzeptiert damit stillschweigend dessen Verwertungsbedürfnis. Er tut das nicht aus Liebe und Sympathie für D, sondern um anschließend sein sauer verdientes Quantum Gesellschaftsding in Konsumgüter umzusetzen. Darum was und wie er konsumiert, darf D sich nicht kümmern. C verdingt sich als Arbeiter, damit diese Bestimmung an ihm erlösche, und er jenseits der „Arbeit“, im vorgesellschaftlichen Raum, nach seiner façon selig werde. Wenn wir die gleiche Beziehung aus der Perspektive von D betrachten, so dürfen wir natürlich die „produktive Konsumtion“ der Ware Arbeitskraft nicht mit unmittelbaren konsumtiven Akten verwechseln. Die “produktive Konsumtion“ fällt in die Sphäre der Mittel und ist dementsprechend “öffentlicher“ (u.a. heißt das auch rechtlicher) Regulation zugänglich. Als Konsument von Arbeitskraft ist der Kapitalist nicht einfach genießender Mensch, sondern die Inkarnation von Kapital. Aber auch er ist nicht nur selbstlose Akkumulationsmaschine, das Geldmachen macht nur bezogen auf irgendwelche von ihm selber imaginierten Zwecke Sinn. Die Verwertung ist gesellschaftlicher Selbstzweck; für ihren menschlicher Träger jedoch kann sie nur als Mittel erscheinen. Auch er bedarf von vornherein eines menschlichen allzumenschlichen Bezugspunkts, wie nebulös der auch immer ausfallen mag, um in der Welt der Mittel überhaupt funktionieren zu können.

(16) [44] Dem modernen Individuum mutet es vollkommen „natürlich“ an, daß es im Rahmen seiner zahlungsfähigen Nachfrage und der geltenden Gesetze frei und ohne Rücksicht auf die Meinung einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit über sein Bruchstück des gesellschaftlichen Reichtums verfügen kann. Es würde ihn befremden, auf das Dafürhalten der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Historisch handelt es sich bei dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit allerdings um ein Novum. In allen vorbürgerlichen Formationen, in denen das Geld noch nicht die Funktion des universellen Mittlers innehatte, wäre eine solche asoziale Haltung undenkbar gewesen. Produktion und Verbrauch waren in diesen Gesellschaften gleichermaßen eingebunden in fixierte soziale Lebensformen. Auch wo der Einzelmensch sich konsumtiv reproduzierte, tat er das nie individuell, sondern von vornherein immer schon als Bestandteil eines sozialen Geflechtes, das ihm auch bei dieser Lebensäußerung seinen eng umrissenen Status zuwies. Im Mittelalter war die Kleidung etwa weder nur vitales Grundbedürfnis noch, so wie heute, Ausdruck für die originelle Person, sie war vor allem anderen eine Frage „der sozialen Geltung“ (Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt, Berlin 1979, S.199) und „bezeichnete den Platz des Menschen in seiner Gruppe“ (a.a.0., S. 203). Wer sich nicht standesgemäß kleidete, verstieß damit gegen die gottgewollte Ordnung der Dinge. Die Nahrungsaufnahme unterlag nicht nur religiösen Normierungen. Noch in den Bauernwirtschaften des 19. Jahrhunderts „spiegelte die Tischordnung immer“ eindeutig ebenso „die Arbeitsordnung wieder“ (Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt, 1987, S.57). Auch festlichen Gelegenheiten drückte die Übermacht der Gemeinschaft in vorbürgerlichen Formationen lange ihren Stempel auf. Mittelalterliche Feste werden nicht im geschlossenen Kreis ausgerichtet, sie schlossen immer die Masse der Fremden und Armen als Mittrinker, Mitesser und Geschenkeempfänger mit ein. Durch Freigebigkeit beweist sich der Festherr als Mann von Stand, und verbreitet Ruhm und Ansehen. „Mancher Fürst mag gedacht haben, … daß er durch diese Festlichkeit zu unendlichen Aufwendungen gezwungen gewesen sei; aber niemand von ihnen durfte sich anmerken lassen, daß ihn sein Gebaren ruinierte.“ (Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, S.89). Denn nur öffentlich dargestellter und geteilter Reichtum zieht soziale Geltung nach sich, und der ist der eigentliche gesellschaftliche Maßstab. Der mittelalterliche Reichtum figurierte nicht als selbstgenügsamer Selbstzweck. Er war von der sozialen Vorrangstellung seines Trägers nicht ablösbar und machte daher nur Sinn, wenn er auch außerhalb des stillen Kämmerchens präsentiert wurde. Dieser von vornherein auf die Gemeinschaft zugeschnittene Charakter von Konsum erklärt die für diese Gesellschaftsformation so typische Neigung zu Prunk und demonstrativer Verschwendung. Sie bildet aber auch den Hintergrund dafür, daß die Reichen den Inhalt ihrer Schatullen bereitwillig für spirituelle Zwecke zur Verfügung stellten. Diese Form von Gloria in excelsis Deo, die sich in der Errichtung von Kapellen und großzügiger Armenfürsorge äußerte, war dem moderneren verbiestert-sparsamen Protestantismus fremd.

(17) [17] Was unter der Ägide des Werts unbenennbar ist, hat die feministische Debatte zu thematisieren versucht und mit Hausarbeit, bzw. Reproduktionsarbeit bezeichnet. Wie wenig dieser an der wertoffiziellen Seite bürgerlicher Gesellschaftlichkeit geformte Begriff die tatsächlichen Verhältnisse erfassen kann, habe ich an anderer Stelle („Sexus und Arbeit [29]“, in „Krisis“ 12) dargestellt.

(18) [45] Erst der historische Sieg der Arbeitsgesellschaft setzt die „Freizeit“ frei. In der vorbürgerlichen Gesellschaft gibt es zwar in den Oberschichten so etwas wie Muße, aber keine Freizeit, bestimmungslose Zeit. Erst wo die Arbeitswelt sich zu einer fest umrissenen, von allen Beimischungen gereinigten Sondersphäre verselbständigt, gewinnen die übrigen Lebensäußerungen der Menschen im Kontrast dazu eine negative Identität.

(19) [46] Genauso wie das griechische Wort Atom, so bedeutet auch Individuum vom Wortsinn her „daß Unteilbare“ (lat. dividere = teilen). Die moderne Kernphysik hat nachgewiesen, daß die vermeintlich unteilbaren Grundeinheiten der Materie sehr wohl zu zerlegen sind. Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist dabei, das von ihr geschaffene Unteilbare, das Individuum, in kleinere Bestandteile auseinanderzudividieren.

(20) [47] Diese beiden relativ modernen Sportarten haben mit dem Fabrikregime vor allem eins gemein, einen Zug zur Entqualifizierung. Laufen kann (fast) jeder, und die monotonen Übungen an den Kraftmaschinen machen den Akteur zu seinem eigenen mitzählenden REFA-Mann. Er vereint in seiner Person Taylor und dessen erstes Versuchskaninchen, einen dummen, aber kräftig gebauten deutschen Einwanderer namens Schmidt.

(21) [48] Die verbreitete Neigung zu symbiotischen Beziehungsformen hat hiec sicher eine ihrer Wuczeln. Der einzige Zugang zu zentralen Momenten der eigenen person geht über die Figur des partners. Sie kiinnen sich unabhängig von ihm gar nicht realisieren. In dieser Konstellation schnurrt eine reale I’erson schnell zu einem Archetypus zusammen.

(22) [49] In unserem Zusammenhang geht es natürlich nicht nur um die objektiven, statistisch faßbaren Paarstrukturen, wir bewegen uns vor allem auf der Ebene der Imagologie. Auch wenn die Frau schließlich doch darauf angewiesen ist, in der Berufswelt zu bestehen und zu funktionieren, so hat dieser Bereich deswegen noch lange nicht die gleiche identitätsstiftende Bedeutung wie für die Männerwelt. Sie mag real so lange und so schwer arbeiten wie ihre männlichen Kollegen, ihr Selbstwertgefühl steht und fällt nicht zwangsläufig allein mit der „Anerkennung“, die ihr in dieser Sphäre zuteil wird. Sie hat eine alternative Identitätsbestimmung in petto, auf die die berufsfixierten Männer schwerlich zurückgreifen können.

(23) [50] zitiert nach Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/Berlin 1979, S. 66 f.

(24) [51] A.a.O. S. 66.

(25) [52] Im Mittelalter kommen „Mann“ und „Frau“ nicht in dieser Abstraktheit vor, sie und er sind immer schon Bauer und Bäuerin, Adliger und Adlige, Nonne und Mönch usw. Sie können nicht als solche, sondern nur zusammen mit diesen jeweiligen sozialen Bestimmungen gedacht werden. Die Frau sans phrase entsteht mit der romantischen Liebe.

(26) [53] Die Unzufriedenheit und das stille Leid in der Beziehung war natürlich seit jeher eine weibliche Domäne.


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[28] Die verlorene Ehre der Arbeit: http://www.krisis.org/2008/veroeffentlichung-untersagt

[29] Sexus und Arbeit: http://www.krisis.org/1992/sexus-und-arbeit

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