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Antikapitalistisches Frühlingserwachen?

Die Globalisierungskritik zwischen Krisenverwaltung und Emanzipation

Ernst Lohoff

1.

Der Kontrast könnte kaum schärfer ausfallen. Seit einem Vierteljahrhundert befindet sich die Linke weltweit in der Defensive und im Niedergang. Auf den Zusammenbruch des Realsozialismus folgte die völlige Marginalisierung antikapitalistischer Vorstellungen in den 90er Jahren. Pünktlich zum Jahrtausendwechsel aber scheint sich eine Trendwende anzudeuten. Was mit den Protesten gegen das MAI-Abkommen in Seattle begonnen hatte, erreichte nach der „chilenischen Nacht“ von Genua im Juni 2001 einen ersten Höhepunkt. Eben stand der Zeitgeist noch auf Kapitalismus pur und jedes Infragestellen der Marktimperative galt ihm als so abwegig wie eine Polemik gegen die Schwerkraft und ihre Folgen; plötzlich macht sich Argwohn gegenüber der Diktatur der reinen Marktlogik breit. Der im Gefolge der neoliberalen Revolution triumphierende Sozialdarwinismus neuer, individualisierter Prägung rückt in die Schusslinie. Die Idee der Emanzipation ist gar nicht so mausetot, wie es den Anschein hatte.

Der junge Protest – nach der langen gesellschaftskritischen Dürreperiode kann das kaum überraschen – berauscht sich erst einmal an sich selber. Sandro Mezzadra und Fabio Raimondi stehen im globalisierungskritischen Spektrum alles andere als allein, wenn sie Seattle und Genua nicht nur als eine Art Frühlingserwachen angesichts einer in „Zynismus, Opportunismus und Angst“ erstarrten gesellschaftlichen Atmosphäre interpretieren, sondern das Aufbegehren gleich in den Rang einer „Bewegung der Bewegungen“ 1 [1] erheben. Aber auch die offizielle Presse gibt sich auffallend überschwänglich. Die Gegendemonstrationen zum G8-Schaulaufen in Genua firmierten im „Spiegel“als die „erste soziale Bewegung der Postmoderne“. „Die Woche“ setzte noch eins drauf und malte gleich die Perspektive einer „globalen Revolte“ an die Wand. Nur die hiesige radikale Linke zeigte sich weniger euphorisch. Die Septemberausgabe von „Konkret“ titelte zwar auch „Genua: die neue APO“, die Herausgeber vergaßen allerdings nicht, hinter diese Schlagzeile ein Fragezeichen zu setzen.

Der Enthusiasmus hat durchaus ein berechtigtes Moment. Niemand kann absehen, was aus dem oppositionellen Impetus wird. Vielleicht bleibt es bei einem folgenlosen Aufblitzen emanzipativer Energien, vielleicht wird der Globalisierungsprotest einmal als Beginn der Neuformierung von Systemopposition in die Geschichte eingehen. Eins aber ist doch spürbar: Mitten im Zeitalter des Remakes regt sich etwas mit historisch vorbildlosen Qualitäten. Eine neue Generation sucht nach einer neuen Sprache, um ihre Sehnsucht nach einer Weltgesellschaft, die sich nicht den Funktionsmechanismen totaler Konkurrenz fügt, auszudrücken und zu leben. Das Timbre ihres Protests hebt sich in mehrerlei Hinsicht ausgesprochen angenehm von der politischen Opposition vergangener Tage ab.

Zunächst einmal sticht am globalisierungskritischen Impuls dessen zutiefst unideologischer Grundzug ins Auge. Die offizielle Politik predigt seit Jahr und Tag Ideologielosigkeit, um unter dem Deckmäntelchen des „Pragmatismus“ die völlige Subsumtion der Gesellschaft unter die als selbstverständlich unterstellten Basisideologeme von Arbeit und Markt zu betreiben. Im Antiglobalisierungsprotest nimmt der antiideologische Anspruch eine unverhoffte Wendung. Er gewinnt eine gegen die Marktdiktatur gerichtete Spitze. Die Globalisierungskritiker propagieren nicht die Verwirklichung irgendwelcher Gesellschaftsmodelle; ihr Augenmerk richtet sich vielmehr auf die realen Zerstörungsprozesse, und es geht ihnen um greifbare Verbesserungen der Lebensbedingungen auf diesem Planeten. Damit orientieren sie sich aber genau auf das, was sich mit der kapitalistischen Logik partout nicht mehr zur Deckung bringen lässt.

Das Emanzipationsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts setzte den nationalstaatlichen Binnenraum als selbstverständlichen praktischen Bezugsrahmen stets voraus. Das internationalistische Bekenntnis2 [2] bildete lediglich eine Art ideologisches Dach und internationale Solidarität war kaum etwas anderes als ein hochtrabender moralischer Anspruch. Der Antiglobalisierungsprotest dagegen ist von vornherein transnational angelegt. Die Gemeinsamkeit der Globalisierungskritiker aller Länder entspringt weniger der gleichen ideologischen Orientierung, sie liegt vielmehr unmittelbar im Versuch begründet, die Widersprüche der globalen Warengesellschaft emanzipativ aufzulösen – und mag er zunächst einmal noch so diffus bleiben. Wer am Primat der Konkurrenzlogik auch nur kratzen will, kann das nicht, ohne mit dem Prinzip des „Standortwettbewerbs“ zu brechen. Nicht weil die Fernstenliebe triumphiert, zielt die Idee der Befreiung in ihrer globalisierungskritischen Reformulierung auf den planetaren Kontext, sondern weil das große falsche Ganze längst in jedem Provinzproblem handgreiflich mitpräsent ist. Der unemphatische Transnationalismus der Globalisierungskritik ist mehr als nur der Reflex des Internetzeitalters, das länderübergreifende unmittelbare informationstechnische Vernetzung zur Selbstverständlichkeit gemacht hat. Er steht für das instinktive Wissen darum, dass heute nur die Wahl bleibt, die herrschende (Exklusions-)Logik als solche anzugreifen oder sie zu exekutieren und damit jeden emanzipativen Anspruch sofort in sein Gegenteil zu verkehren.

Frühere soziale Bewegungen wollten dem Ideal eines einheitlichen Handlungsträgers möglichst nahe kommen und mit einer Stimme sprechen. Vielstimmigkeit war ihnen gleichbedeutend mit Unstimmigkeit und Wirkungslosigkeit. Bestrebt, mit dem staatlich organisierten Kontrahenten von gleich zu gleich zu verhandeln, haben sie beharrlich die politische Form in ihren internen Verhältnissen reproduziert. Dementsprechend lief die Organisierung von Opposition in der Tendenz darauf hinaus, ihren Binnenbeziehungen die Form hierarchischer Unterordnungsverhältnisse zu geben. Dem neuen Protest sind sowohl nach außen alle Demiurgenphantasien fremd als auch deren Pedant, Gleichschaltungs- und identitärer Ausgrenzungszwang nach innen. Die Einkleidungen, in denen diese Grundhaltung daherkommt, mögen über weite Strecken dubios sein. Das Mindeste, was an den vom Antiglobalisierungsprotest zur Selbstcharakterisierung bemühten Begriffen wie Multitude und Zivilgesellschaft kritisiert werden muss, ist deren Unschärfe. Statt die Kategorie des Politischen selber zu problematisieren, begnügen sich die Vordenker des Protests in den Fußstapfen der 68er Bewegung mit ihrer Entleerung durch sinnlose Ausweitungen. Alles gilt ihnen im Zweifelsfall als politisch. Und doch hat der Antiglobalisierungsprotest einen neuen Horizont eröffnet: die seit den Tagen der Aufklärung beständig reproduzierte Vorstellung, Befreiung wäre nur als das Werk eines politisch organisierten Einheitssubjekts denkbar, ist endlich aufgesprengt.

2.

Das Augenmerk auf diese für das globalisierungskritische Spektrum charakteristischen Merkmale zu richten, heißt freilich noch lange nicht, in Euphorie zu verfallen. Gerade die vorwärtstreibenden Momente der neuen Opposition sind nämlich auch geeignet, erst einmal ihrer Entschärfung und Integration Vorschub zu leisten.

Schon die Umarmungsbereitschaft, mit der das Gros der medialen Öffentlichkeit und die offizielle Politik dem Protest begegnen, sollte zu denken geben. Allerdings nicht nur in dem offensichtlichen Sinn, dass eine wirklich radikale Opposition schwerlich mit so viel freundlicher Anteilnahme rechnen könnte, und insofern die übersteigerte Gegenliebe3 [3] Zweifel an der gesellschaftskritischen Eindeutigkeit des Antiglobalisierungsprotests nahe legt. Indem das herrschende Bewusstsein und die Regierungen den Protest bereitwillig anerkennen, sind sie drauf und dran, das Mehrdeutige und Vielstimmige der neuen Opposition in ihrem Sinne zu überspielen. Im Zeichen demonstrativer Dialogbereitschaft – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte – definieren Politik und mediale Wahrnehmung von sich aus die Trennungslinie zwischen dem „berechtigten Anliegen“ des Protests einerseits und seinem „irrationalen Beiwerk“ andererseits. Der Antiglobalisierungsprotest sperrt sich der Subsumtion unter eine Einheitsposition vorderhand nur, um, vermittelt über die Außenwahrnehmung, auf die mit dem herrschenden Diskurs kompatiblen Elemente reduziert zu werden. Bei keiner oppositionellen Strömung der Vergangenheit haben mediale Meinungsproduktion und Politik in einem vergleichbaren Maß darüber mitbestimmt, wer zum legitimen Sprecher des Protests erhoben wird und wer als Verbalradikaler der öffentlichen Nichtwahrnehmung verfällt.

Nimmt der Protest selber die geschenkte Anerkennung schon als Erfolg, dann können sich die bereitwilligen Diskurs-Freundlichkeiten und die Blitzkarrieren der von offizieller Politik und Ideologieproduktion auserkorenen Dialogpartner sehr schnell als Falle erweisen. Für das Protestspektrum stünde dringend eine offene Diskussion über seine Ziele und Konzepte an. Die politisch mediale Inszenierung, die Ernennung von Pseudo-Bewegungsrepräsentanten, die sich als handzahme Stichwortnehmer und -geber deren Logik unterwerfen, droht aber, diesen Prozess abzuwürgen, bevor er so recht in Gang kommt.

Am deutlichsten, weil platt über die Finanzierungsfrage vermittelt, wird wohl bei den mit dem Antiglobalisierungsprotest verbandelten NGO-Projekten sichtbar, wie die offizielle Anerkennung das Abdriften einleiten kann. Wo der Sog einer breiteren sozialen Bewegung ebenso fehlt wie eine klare programmatische Orientierung, reicht meist schon die Aussicht auf staatliche Unterstützung, um die berühmte Schere im eigenen Kopf zu installieren. Offizielle Anerkennung kombiniert mit Geldscheinrascheln lehrt, Schritt für Schritt „selbstverantwortlich“ – also in vorauseilendem Gehorsam – im Sinne der herrschenden Logik zu entscheiden, was als praktikable Zielvorgabe zu betrachten ist und was nicht. Insbesondere bei den Initiativen im entwicklungspolitischen Bereich, die mit UN-Geldern operieren, tritt das überdeutlich hervor. Die gleiche Vereinnahmungslogik setzt sich aber auch dort durch, wo es um die Teilnahmeberechtigung am großen offiziösen Diskurs geht.

Anders als die antikapitalistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts versteht sich der Antiglobalisierungsprotest als unideologisch und es drängt ihn nicht dazu, allen Widerstand zwanghaft auf eine Linie zu bringen. Diese potentielle Stärke geht in seiner heutigen Verfasstheit freilich fließend in eklatante Schwäche über. Als Drang, die realen Zusammenhänge im globalen Kapitalismus ohne die fadenscheinig gewordenen Deckideologien der Moderne ins Auge zu fassen, ist der antiideologische Affekt für die Formierung eines neuen antikapitalistischen Bewusstseins ein integrales Moment; hinter ihm kann sich aber auch pure Denkfaulheit und das systematische Ausblenden des gesellschaftlichen Formzusammenhangs verbergen. Der Widerwille gegen Ideologie lässt sich von der herrschenden Form der Ideologieproduktion überhaupt nicht mehr unterscheiden, wo das Streben nach Anschlussfähigkeit an den offiziellen Diskurs die Frage nach den konkreten Lebensbedingungen als Kriterium für Realitätstauglichkeit verdrängt – eine im Zeitalter der medial vermittelten Ausblendung nicht nur theoretische Gefahr. Dem marktdiktatorischen Gleichschaltungszwang kann per se nur eine Strömung den Kampf ansagen, die Differenzen in den eigenen Reihen ihrerseits nicht gleich als Bedrohung versteht. Im Zeichen des Anything goes, des beliebigen Nebeneinanders unvereinbarer Positionen, läuft der Verzicht auf eine oppositionelle Selbstdefinition auf nichts anderes als auf Fremdbestimmung durch den Markt der Meinungen und die Vorgaben der offiziellen Politik hinaus. Das Ringen um Autonomie wird zur Farce, wo eine klare Kapitalismusanalyse als sekundär gilt und die Frontstellung zur herrschenden Ideologie unscharf bleibt. Die bewusste Abkehr von der Vorstellung des politischen Einheitssubjekts, macht weder Verbindlichkeit und Kohärenz überflüssig noch die klare Abgrenzung des kritischen vom herrschenden Bewusstsein. Eine radikal gesellschaftskritische Strömung kann sich nur formieren, indem sie beides in einer gegenüber dem alten Subjektmodus veränderten Weise herstellt. An die Stelle der für die antikapitalistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts charakteristischen, abstrakt-allgemein bleibenden Gemeinsamkeit, an die Stelle des Bekenntnisses zu irgendwelchen positiven, für alle verbindlichen hehren sozialistischen Prinzipien müsste so etwas wie eine negative konkrete Allgemeinheit rücken. Nur die gemeinsame Frontstellung gegen die Zwangssubsumtion unter die Konkurrenz- und Herrschaftslogik von Markt und Politik, die überall nach ähnlichem Muster destruktive Resultate zeitigt, wäre geeignet, einen verbindlichen Bezugsrahmen zu stiften.

Von einer solchen Auflösung ist der Antiglobalisierungsprotest in seiner heutigen Gestalt weit entfernt. Stattdessen kennzeichnet ihn ein hohes Maß an Beliebigkeit. Paradoxerweise ist die Nähe des Antiglobalisierungsprotestes zur herrschenden Ideologie der Ideologielosigkeit und zum Anything goes untrennbar mit einer ganz spezifischen inhaltlichen Engführung verbunden. Allein die Verkürzung von Globalisierungskritik auf Neoliberalismuskritik erlaubt es, unvereinbare Motive unter einem Dach zusammenzubringen. In der globalisierungskritischen Gemengelage sind sozialromantische Motive ebenso anzutreffen wie staatsfromme; in der Idee zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und im NGO-Kult kreuzt sich das neoliberale Programm der Selbstunterwerfung unter den Markt mit dem Versuch, Räume autonomer, vom Wertverwertungsdiktat befreiter sozialer Reproduktion zu erkämpfen; antikapitalistisch-emanzipatorische Ziele vermengen sich mit Vorstellungen, die kompatibel mit offen reaktionären Ideologien sind; über die im Antiglobalisierungsspektrum weit verbreitete einseitige Kritik des Finanzkapitals besteht sogar eine nicht immer nur untergründig bleibende Anschlussfähigkeit an die Wahngebäude des Antisemitismus. Das einzige, was sie diese auseinanderstrebenden Motive zusammenhält, ist die gemeinsame Frontstellung gegen den Neoliberalismus.

Gerade die um Vereinnahmung bemühten Kräfte feiern das auf die Straße getragene Unbehagen am Globalisierungsprozess gerne als soziale Bewegung. Versteht man diese Klassifizierung emphatisch und unterstellt, der Antiglobalisierungsprotest sei im gleichen Sinne eine soziale Bewegung wie einst die Arbeiterbewegung, die Ökologiebewegung oder die Frauenbewegung, dann führt sie gründlich in die Irre. Dem Antiglobalisierungsprotest mangelt es dafür an Kohärenz und es fehlen die programmatischen Orientierungspunkte, die in der Lage wären einen weitergehenden Konsens herzustellen. Das Attribut soziale Bewegung verdient der Antiglobalisierungsprotest bestenfalls in der Weise wie die Ein-Punkt-Bewegungen der 70er und 80er Jahre. Der Antiglobalisierungsprotest funktioniert als eine Art Ein-Punkt-Bewegung gegen den Neoliberalismus und damit ausgerechnet in einem Modus, der prinzipiell in keiner Weise zu der universellen Reichweite des historischen Prozesses passen will, gegen den er sich wendet; mehr noch, es ist absehbar, dass sich die einseitige Frontstellung gegen den Neoliberalismus als unhaltbar erweisen muss und die Gegensätze innerhalb des Protestspektrums damit unüberbrückbar werden. Radikale Gesellschaftskritik hat den Antiglobalisierungsprotest nicht deshalb ernst zu nehmen und als Bezugspunkt zu sehen, weil ihm in der heutigen Gestalt eine lange Zukunft beschieden sein wird. Die Auseinandersetzung ist wichtig, weil sich mit der absehbaren Zersetzung des Anti-Neoliberalismusprotests etwas Neues formieren könnte.

3.

Das Aufkommen des Antiglobalisierungsprotests fällt mit tiefgreifenden Umbrüchen im Gefüge des postfordistischen Kapitalismus zusammen. Die globale Weltmarktgesellschaft tritt gerade in eine neue Phase ihrer Entwicklung ein. Während des langen kasinokapitalistischen Booms der 90er hatte es den Anschein, die neoliberale Rechnung würde aufgehen. Die Dynamik privater Verwertung fiktiven Kapitals sorgte nicht nur für hohe Wachstumsziffern bei niedrigen Inflationsraten, auch die beständige Ausdehnung der staatlichen Haushaltsdefizite schien der Vergangenheit anzugehören. Die USA konnten auf dem Höhepunkt des Aktien-Rauschs sogar Haushaltsüberschüsse ausweisen, weil dort der Fiskus direkt an den Spekulationsgewinnen partizipierte. Dank der Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen überstiegen selbst in der Bundesrepublik im Jahr 2000 die staatlichen Einnahmen die Ausgaben deutlich. Im Plus war der Bundeshaushalt schon 40 Jahre lang nicht mehr gewesen. Diese Entwicklung, die Deregulierungs- und Entstaatlichungsphantasien noch einmal ins Kraut schießen ließ, fand allerdings in der Zwischenzeit ein jähes Ende. Mit dem Absturz der New-Economy vollzog sich insbesondere im kapitalistischen Allerheiligsten, in den USA, jener Paradigmenwechsel, der sich schon anlässlich der Asienkrise angedeutet hatte. Der drohende Absturz der Weltwirtschaft ist nur mehr durch den Übergang zu einem merkwürdigen Mischsystem aus etatistischen und marktradikalen Elementen und Mechanismen zu verhindern bzw. hinauszuschieben. Reregulierungsphantasien und der Versuch, den Staat als zusätzliche Konjunkturlokomotive vor den ins Zurückrollen geratenen Wachstumszug zu spannen, treten an die Stelle der welken neoliberalen Blütenträume. Massives Deficit-Spending und eine extrem expansive Geldpolitik, ablesbar am Zinssenkungsstakkato der US-Zentralbank, sollen der anstehenden weiteren Entwertung der aufakkumulierten fiktiven Werte gegensteuern und verhindern, dass die Misere des Finanzüberbaus die Realwirtschaft zum Erliegen bringt. Um das neoliberale Projekt über die Runden zu retten, bleibt den Administratoren des globalen Kapitalismus nur noch der Griff in die keynesianische Instrumentenkiste.

Im Übergang zur prekären börsenkeynesianischen Notstandsverwaltung fällt dem Aufbegehren gegen die Zumutungen eines entfesselten Kapitalismus eine transitorische Rolle zu. Indem die offizielle Politik und ihre medialen Stichwortgeber den Dialog mit dem mehrdeutigen Protest der Globalisierungskritiker konsequent auf die Einbindung der dort aktiven staatsillusionären Konzeptchen-Macher reduziert, kann sie ihn für sich funktionalisieren. Für das Establishment ergibt sich eine Art diskursstrategischer Glücksfall: es wird im freien Meinungsaustausch mit den Sprechern der „Zivilgesellschaft“ genau dahin gedrängt, wo es sowieso hinstrebt, zur Wiederentdeckung des Keynesianismus unter gründlich veränderten Bedingungen.

Die im globalisierungskritischen Spektrum gehandelten Konzepte taugen als solche freilich kaum als praktische Handlungsanweisungen im globalen Krisenmanagement. Die Karriere, die derzeit die vielbemühte Forderung nach der Abschöpfung von Spekulationsgewinnen durch den Staat (Tobinsteuer) macht, hat angesichts der realen Problemlage im Gegenteil schon etwas Irrwitziges. In dem Augenblick, da sich die staatlichen Bemühungen darauf konzentrieren, die private Reichrechen-Logik um jeden Preis dadurch noch einmal in Gang zu bringen, dass massenhaft Liquidität in die Finanzmärkte gepumpt wird, schwadroniert die linkskeynesianisch inspirierte Globalisierungskritik von deren Eindämmung. In dem Moment, da Wirtschafts- und Geldpolitik sich darauf reduziert und reduzieren muss, die notleidenden Aktienkurse fürderhin um jeden Preis zu stützen, soll sie zum Wohle der Gesellschaft auf Gewinne zugreifen, die jetzt und künftig nicht mehr gemacht werden.

Die in die Vorstellung eines neuen „Gesellschaftsvertrages“ (Wolman/Colamosca) hineingelegten menschenfreundlichen Absichten dürften insgesamt an der Krisenrealität zuschanden werden. Die auf die Propagierung von Staats-Interventionismus verkürzte Globalisierungskritik braucht aber gar keine praktischen Erfolge, um beim Paradigmenwechsel im offiziösen Diskurs ihren Part zu spielen. Auch und gerade wo sie sich blamiert, verleiht sie einem neuen wirtschaftspolitischen Regime, das den ideologischen Gegensatz von Neoliberalismus und Etatismus hinter sich lässt, eine zusätzliche basisdemokratische Legitimation.

Das Zusammenspiel von offiziöser Politik und den medial gesalbten Vertretern des Protestes gestaltet sich in diesem Sinne heute am intensivsten in Frankreich. Seit Mai 2001 sind Treffen zwischen dem Attac Präsidenten Bernard Cassen und dem Kabinettsdirektor von Lionel Jospin, Olivier Schrameck zur ständigen Einrichtung geworden. Man kann nicht gerade behaupten, dass sie ohne entsprechendes Ergebnis geblieben wären. Der amtierenden sozialistischen Regierung ist eine Art neuer außerparlamentarischer Arm gewachsen, und der Antiglobalisierungsprotest ist, soweit er nicht energisch und sichtbar zu einigen Wortführern auf Distanz geht, strenggenommen schon am Ende seines Weges angelangt. Was soll eine außerparlamentarische Opposition gegen die Entwicklung in Europa eigentlich noch vorbringen, wenn deren hofierter Sprecher Cassen es mittlerweile fertig bringt, das Deficit-Spending der Bush-Administration mit den Worten zu lobpreisen „nie war Bush näher an Attac als heute“ („Die Zeit“ 18.10.01). An welchem Punkt will Attac eine klare Frontstellung gegen die offizielle Ordnungspolitik formulieren, wenn man bereits die Versuche der USA, die Geldversorgung von AL Quaida zu stören, als ersten wichtigen Schritt in Richtung „stärkere Kontrolle weltweiter Finanztransaktionen“ abfeiert.

Im Laufe der Durchsetzungsgeschichte der Warengesellschaft wurden immer wieder Emanzipationsbewegungen mit entschieden systemoppositionellem Anspruch als Wegbereiter neuer Entwicklungsschübe historisch wirksam. Von der alten Arbeiterbewegung bis zur studentischen Revolte der 60er Jahre haben sie letztlich dem zum Durchbruch verholfen, was den Erfordernissen warengesellschaftlicher Modernisierung entsprach. Weil die antikapitalistisch gesinnten Protagonisten den nächsten energischen Schritt hin zur Verallgemeinerung der Warenform beharrlich mit der drohenden Aufhebung kapitalistischer Herrschaft verwechselten, konnten sie ihre immanent vorwärtstreibende Rolle nur gegen den erbitterten Widerstand der Verteidiger des Status quo spielen, die der gleichen Täuschung aufsaßen. Die mühsam erkämpfte Anerkennung als legitime soziale Bewegung markierte dann jeweils den Punkt, an dem die linke Opposition vom Outlaw zum Teil der reorganisierten warengesellschaftlichen Ordnung mutierte und ihre überschüssigen Momente abzustreifen begann.

Das Schicksal, das den Antiglobalisierungsprotest zu ereilen droht, erinnert an dieses vertraute Muster – und gleichzeitig weicht es ganz entscheidend davon ab. Der Unterschied von bereitwillig vorauseilender und zähneknirschender später Anerkennung lässt sich zunächst einmal auf den regressiven Charakter der sich gerade anbahnenden Veränderungen im kapitalistischen Weltsystem beziehen. Die Neuakzentuierung politischer Regulation, die der Antiglobalisierungsprozess mit legitimiert, gehört schon zu den Reaktionsbildungen auf den Niedergang der Warengesellschaft, auf den Verlust ihrer Fähigkeit zur gesellschaftlichen Integration im Zeichen der Wertverwertung. Der nostalgische Rekurs auf eine bereits abgeschlossene Epoche öffnet keinen neuen Entwicklungshorizont, er ist beim besten Willen nicht mehr mit einem Hinausgehen über die kapitalistische Ordnung zu verwechseln, wie es bei dem großen, wesentlich aus dem Kampf der Arbeiterbewegung miterwachsenen Etatisierungsschub der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Fall war. Zugleich verweist die Bereitwilligkeit, mit der in der Öffentlichkeit ein „neuer Antikapitalismus“ bemüht wird, darauf, dass auch von Seiten des Globalisierungsprotestes die Schwelle zu einer systemoppositionellen Neuformierung noch nicht erreicht ist.

4.

Radikale Gesellschaftskritik würde sich nur selbst hinters Licht führen, wollte sie der Vereinnahmungspolitik von oben ihre eigene entgegensetzen. Mit der taktischen Illusion, der Antiglobalisierungsprotest gehe im Grunde schon in die richtige Richtung, ist dessen realer Ambivalenz nicht abzuhelfen. Noch fataler wäre es allerdings, dem Protest unter umgekehrtem Vorzeichen Eindeutigkeit zuzusprechen, um ihn dann rechts liegen zu lassen. Das Gipfel-Hopping wird sich eher über kurz denn über lang totlaufen; unter den Globalisierungsgegnern tummeln sich Heerscharen von Obskuranten und Sektierer jeder Art; die Notstandsverwalter des globalen Kapitals sind drauf und dran, den Protest für ihre Restrukturierungsversuche nutzbar zu machen. Das alles ändert aber nichts daran, dass der Kampf gegen die Folgen der Globalisierung bis auf Weiteres das zentrale gesellschaftliche Feld bildet, auf dem nach langer Winterstarre überhaupt wieder antikapitalistische Regungen keimen. Das emanzipative Bedürfnis mag im Antiglobalisierungsprotest unter einem Wust halbgarer Vorstellungen begraben sein, es hat im derzeitigen Stadium dennoch dort seinen zentralen gesellschaftlichen Ort.

Positionen mit dezidiert antikapitalistischem Selbstverständnis bestimmen das Bild der Protest-Mélange nur am Rande mit. Das liegt aber nicht daran, dass im Antiglobalisierungsprotest nur die systemfromme Motivlage eines bestimmten Sozialsegments zu sich käme und auch nicht daran, dass sich der Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus per se auf Staatsverliebtheit und reaktionäre Impulse reimen würde. Die Beschränktheiten des Protests verweisen vor allem auf die Schwächen und Unzulänglichkeiten dessen, was heute als radikaler Antikapitalismus firmiert. Der emanzipative Impuls muss sich heute zwangsläufig mit gegenläufigen ideologischen Impulsen vermischen, solange er als geistige Anknüpfungspunkte abgesehen vom postmodernen Diskurs nur die Überreste traditioneller, aus der Aufstiegsphase der Warengesellschaft stammender Vorstellungen von Antikapitalismus vorfindet.

Zu den insbesondere in ideologiekritisch orientierten Kreisen verbreiteten Unsitten gehört die Verteilung revolutionärer Haltungsnoten. Die Protest-Mélange wird danach bewertet, ob deren Sprecher einigen, aus den Schriften von Marx und Adorno gewonnenen allgemeinsten Essentials kapitalismuskritischer Theorie Genüge tun. Das ist natürlich nicht der Fall und so wendet man sich Nase rümpfend ab4 [4]. Diese „selbstnobilitierende Distanzierung“ (Thomas Seibert) , die sich weigert, im Dubiosen des Globalisierungsprotestes wesentlich auch die Misere der gesellschaftskritischen Theorieproduktion wiederzuerkennen, verrät völlige Ignoranz gegenüber der Frage, wie sich Widerstand und kritisches Bewusstsein unter den heutigen Bedingungen überhaupt formieren und welche Rolle dabei gesellschaftskritische Theorie spielen kann. Es wird unterstellt, eine soziale Bewegung müsse spontan aus sich heraus zu einem „reinen“ antikapitalistischen Standpunkt kommen und eine tragfähige und erschöpfende Kapitalismuskritik läge seit Generationen für jeden Gutwilligen in den Bibliotheken greifbar. Mit solchen klammheimlichen Voraussetzungen im Kopf wird Gesellschaftskritik in den nächsten 100 Jahren nie auf einen Bewegungsansatz stoßen, der Gnade vor ihren Augen finden könnte. So etwas kann es nämlich gar nicht geben. Eine Neuorientierung in Richtung einer radikal-antikapitalistischen Praxis ist nur denkbar, wenn sie mit einer theoretischen Neubestimmung zusammenfindet. Kritische Kritik, die als Gralshüter des antikapitalistischen Wissensschatzes auftritt, kaschiert mit ihrer Beckmesserei nur ihre eigene Zahnlosigkeit, ihr eigenes Versagen.

Radikale Gesellschaftskritik sollte sich angesichts des Globalisierungsprotests nicht mit Vereinnahmungsphantasien tragen oder den Trittbrettfahrer spielen wollen; sie hat polarisierend zu wirken und mitzuhelfen, die Differenzen im globalisierungskritischen Spektrum überhaupt erst in einer emanzipativ besetzbaren Form sichtbar zu machen. Ihr Beitrag besteht in erster Linie darin, ihrer ureigensten Aufgabe nachzugehen, also die heutige Phase kapitalistischer Entwicklung als die konkrete historische Zusammenfassung und Zuspitzung aller für die Warengesellschaft charakteristischen Widersprüche zu analysieren. Sie tut gut daran, darüber hinaus in aller Deutlichkeit klarzulegen, wie sich emanzipatorische Bestrebungen durch die Fixierung auf die Zwangsidee politischer Umsetzung und die nostalgische Orientierung an einer untergegangen Epoche kapitalistischer Entwicklung letztlich jedes Handlungsspielraums beraubt. Gerade beim Antiglobalisierungsprotest ist das mit Händen zu greifen. Gesellschaftskritik muss radikale Formkritik zum Ausgangspunkt nehmen und die Selbstverständlichkeit von Markt und Staat frontal attackieren; aber nicht, damit sich einige ideologische Kraftmeier ihre antikapitalistische Hardcore-Gesinnung beweisen können; diese Stoßrichtung ist vielmehr von eminent praktischer Bedeutung. Erst mit der Befreiung von den Imperativen politischer Umsetzbarkeit gewinnt der Widerstand die zum Atmen notwendige Luft.

5.

Für die Binnenentwicklung der Opposition markiert der Antiglobalisierungsprotest allemal einen Einschnitt. Gesellschaftskritik hat sich weltweit in den letzten zwanzig Jahren zusehends ins Mikrologische zurückgezogen. Nun stehen erstmals wieder die vergessenen “harten” polit-ökonomischen und sozialen Fragen auf der Tagesordnung. Damit aber nicht genug; der Versuch, den apologetischen Begriff der Globalisierung zu hinterfragen, drängt zum Gedanken der Warengesellschaft als einer „negativen Totalität“. Niemand kann sich letztlich kritisch auf den unter diesem Stichwort firmierenden historischen Prozess beziehen, ohne jenen Schritt zu machen, der angesichts der ideologischen Konjunkturen der 90er Jahre streng verboten war, nämlich die Frage nach den großen, weltumspannenden und historischen Zusammenhängen zu stellen. Globalisierungskritik dementiert entweder letztlich ihren emanzipativen Anspruch und wird reaktionär, oder sie findet in einer radikalen Formkritik den ihr adäquaten theoretischen Bezugspunkt.

Diese Einschätzung mutet angesichts des aktuellen Standes vielleicht reichlich optimistisch an. Bislang jedenfalls ist der Protest im herrschenden ideologischen Horizont steckengeblieben, und es ist seinen Protagonisten gelungen, einen großen Bogen um diese Konsequenzen zu machen. Das Protestdurchschnittsbewusstsein hat stattdessen an den Haupterrungenschaften des Zeitgeistes Teil: an dessen amnestischem Geschichtsbild und an seiner Fähigkeit, gerade angesichts der Totalisierung der Diktatur des Werts die soziale Wirklichkeit als zusammenhangloses Bündel nur äußerlich aufeinander bezogener wirtschaftlicher, kultureller, sozialpsychologischer, politischer und sonstiger „Probleme“ wahrzunehmen.

Diese doppelte Ausweichleistung ist freilich eng mit der Verkürzung von Globalisierungskritik auf eine Absetzbewegung vom Neoliberalismus verknüpft. Die Kombination aus Distanzierung vom offiziellen Politikgeschäft, konzeptioneller Nähe zur herrschenden Ideologie und emanzipativem Gestus lässt sich überhaupt nur zusammen mit dieser Reduktion durchhalten.

Die Fokussierung der Kritik auf die Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ordnung hat an sich, insbesondere für die Entstehungsphase des Protestes, durchaus ein berechtigtes Moment. Widerstand wird immer wieder an der Verschlechterung der realen Lebensbedingungen und an verschärften Zurichtungszumutungen ansetzen. In den 90er Jahren gewann der kapitalistische Krisenprozess aber nun einmal unter neoliberalen Vorzeichen an Fahrt. Mit der notwendigen Konzentration auf diese neuere Entwicklung rückt insofern der vor-neoliberale Kapitalismus in ein vergleichsweise günstiges Licht, als er im Kontrast zum nachfolgenden Stadium in mancherlei Hinsicht als die relativ weniger menschenfeindliche Phase kapitalistischer Entwicklung erscheint. Der auf Reregulierung geeichte Protest-Mainstream argumentiert freilich ganz anders. Von dieser Seite her wird der fordistische Kapitalismus – zumindest unter der Hand – als absoluter Maßstab genommen. Der Kampf gegen die Zumutungen des entfesselten Kapitalismus verschwindet hinter der Phantasie, die Konstellation des etatistisch formierten 70er-Jahre-Kapitalismus sei – entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt – in ihrem Kern wiederherstellbar. Die Minderheit (etwa die französischen Souveränisten) will den verblichenen Nationalstaat in seine alten Rechte eingesetzt sehen; die anderen träumen davon, dass „Global Governance“ 5 [5] künftig in etwa das leisten könnte, was einst der Nationalstaat geleistet hat.

Die theoretische Hauptschwäche dieser Position ist mit Händen zu greifen. Indem die neoliberale Ära aus ihrem historischen Kontext herausgelöst wird, werden eigentlich recht offensichtliche Zusammenhänge ausgeblendet. Die keynesianische Regulation stieß mit dem Ende des fordistischen Akkumulationsschubs an eine systemische Schranke. Von den Oberflächenphänomenen her lässt sich ihre Misere an der für die auslaufenden 70er Jahre charakteristischen Gleichzeitigkeit von chronischer Wachstumsschwäche und hohen Inflationsraten in allen OECD-Staaten ablesen. Erst vor diesem Hintergrund konnten neoliberale Konzepte als provisorische Lösung überhaupt Platz greifen.6 [6] Die keynesianische Nostalgie kümmert sich darum nicht, sondern schönt sich die Vergangenheit zurecht und strickt an einer Dolchstoßlegende. Das im Grunde kerngesunde Modell von Etatismus und sozialpartnerschaftlicher Befriedung soll hinterrücks von den neoliberalen Kreuzzüglern ermeuchelt worden sein. Diese fatale und falsche Weichenstellung gelte es rückgängig zu machen.

Solange das klassische neoliberale Deregulierungsprojekt das Geschehen bestimmte, solange es erst einmal darum ging, ihm überhaupt etwas entgegenzusetzen, bot sich der Rückgriff auf neokeynesianische Vorstellungen als bequeme Ausflucht an. Sie eröffnete die Scheinperspektive, dass, einen entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, emanzipative Ziele auch ohne die Ungeheuerlichkeit einer radikal gesellschaftskritischen Orientierung in den traditionellen Formen staatlich-politischer Regulation verfolgt werden können. Selber Reflex der langen Defensive der Linken, gefällt sich das Linkskeynesianertum im Gestus, den Spatz in der Hand nicht der unerreichbaren Taube auf dem Dach opfern zu wollen. Wer sich angesichts der herrschenden Deregulierungseuphorie gegen die Staatsillusion wandte, geriet angesichts der Fixierung auf die politische Form leicht in den Geruch, de facto jedwede kollektive Praxis für unmöglich zu erklären und damit letztendlich dem Neoliberalismus zuzuarbeiten. Im besten Fall wurde die Differenz zwischen neokeynesianischen Konzepten und einer fundamentalen Kapitalismuskritik als blass-theoretischer Streit, ohne unmittelbar praktische Konsequenzen behandelt. Vorderhand mag die Rückkehr der offiziellen Politik zur Staatsillusion diese keynesianischen Flausen sogar noch einmal bestätigen. Im Augenblick wittern Organisationen wie Attac mit ihrem Sammelsurium von Forderungen jedenfalls mächtig Morgenluft. Kann aber eine auf die Kritik des Neoliberalismus verkürzte Globalisierungskritik dessen Ableben tatsächlich auf Dauer überleben? Müssen Menschen nicht schon willentlich die Grenze zum offenen Widersinn passieren, um angesichts des realen Rüstungs- und Börsenkeynesianismus, angesichts der Verwerfungen, die er nach sich zieht, noch an das Gegenbild eines „wahren“ sozialsozialstaatlich ausstaffierten Keynesianismus glauben zu können?

6.

Die keynesianische Illusion gewinnt ihre dem Vorbild des 70er-Jahre-Reformismus nachgebildete Pseudoperspektive, indem sie vom realen historischen Prozess abstrahiert. Gerade die Ignoranz gegenüber der basalen Krise von Politik und Warenproduktion spiegelt aber gleichzeitig auf ihre Weise die spezifische geschichtliche Konstellation der späten 90er Jahre wieder. Dieser Gesichtspunkt lässt sich freilich über den Rückgriff auf keynesianische Vorstellungen hinaus verallgemeinern. Eine ganze Reihe realanalytisch haltloser, in den globalisierungskritischen Konzepten aber allgegenwärtiger Annahmen lassen sich überhaupt nur vor dem Hintergrund der Intermundiums-Situation erklären, aus der heraus der Protest entstanden ist. Diese stillen Voraussetzungen müssen sich allesamt in dem Maß an der Wirklichkeit blamieren, wie die kapitalistische Entwicklung in eine neue Phase tritt.

Auf energischen Widerstand treffen Regimes grundsätzlich: entweder am Anfang ihrer Karriere oder wenn sie ihren Zenit schon überschritten haben, weil ihre Konzepte nicht mehr greifen. Letzteres gilt auch für den Neoliberalismus und den Antiglobalisierungsprotest. Nach zwanzig Jahren neoliberaler Offensive hat sich das vollmundige Versprechen der Marktideologen, Globalisierung bedeute in letzter Instanz Frieden und mehr Wohlstand für die gesamte Weltgesellschaft, gründlich blamiert. Solange es der entfesselten Warendiktatur aber gelingt, die Folgen ihrer Krise im Wesentlichen zu externalisieren und von den Verwertungszentren fernzuhalten, lässt sich das sukzessive Systemversagen als Begleiterscheinung kapitalistischen Funktionierens interpretieren. Und genau darauf sind die globalisierungskritischen Wahrnehmungsraster geeicht. Der fundamentale Unterschied zwischen dem Integrationskapitalismus der Wirtschaftswunderära, der dahin tendierte, immer größere Massen planetaren Menschenmaterials in den Verwertungszusammenhang einzusaugen einerseits und dem Desintegrationskapitalismus andererseits, der die Menschen massenhaft ausspeit und sich allein mit fiktionaler Wertproduktion (wenigstens in seinen Kernsegmenten) über die Runden rettet, rückt nicht ins Blickfeld. Stattdessen bemüht sich der Protest, die unterschlagene, äußerst horrende ökologische und soziale „Nebenkostenrechnung“ eines nach seinen eigenen Kriterien prosperierenden Kapitalismus aufzumachen. Allzu oft beschränkt man sich sogar darauf, dem neoliberalen Regime Verrat an den eignen Idealen vorzuwerfen7 [7]. Der Gedanke, dass es, näher betrachtet, auch mit der Gewinnerherrlichkeit in den Weltmarktzentren nicht so furchtbar weit her sein könnte, bleibt dagegen außen vor.

Deutlich wird das zunächst einmal an der beständigen Beschwörung des Gegensatzes von Globalisierungsgewinnern und vorzugsweise an der Peripherie verorteten Weltmarktverlierern. Die Kritik schnurrt hierzulande über weite Strecken auf eine Art Stellvertreterprotest im Namen der untergepflügten Weltregionen zusammen. Als Zukunftsperspektive wird vor allem die Sozialisierung der angeblich verfügbaren gesellschaftlichen Globalisierungsgewinne beschworen. Geld sei ja genug da, glaubt der pseudokritische Volksmund zu wissen, und übersieht dabei den Unterschied, der zwischen der Produktion von Gebrauchsgütern und abstrakter Reichtumsproduktion besteht. Spekulation und Kredit, also gerade der Motor, der die kapitalistische Realakkumulation überhaupt noch in Gang hält, erscheint dabei als sein eigenes Gegenteil, nämlich als Belastung der tatsächlichen Wertschöpfung.

Dem Rückschlag des Krisenprozesses auf die Weltmarktzentren, der die Grenzen des Externalisierungsspiels sichtbar macht, kann die Idee sozial gerechter monetärer Umverteilung im Weltmaßstab nicht standhalten. Die Bereitschaft, auch die Dritte Welt am vermeintlich überschießenden Geld-Reichtum partizipieren zu lassen, muss sich in dem Maße verflüchtigen, wie dieser sich als fiktiv erweist und in Luft auflöst. Nicht, dass in dieser neuen Phase kapitalistischer Entwicklung die soziale Polarisierung in der Weltgesellschaft an Schärfe verlieren würde, im Gegenteil. Wo statt Erfolgreicher und Erfolgloser absolute und relative Verlierer aufeinanderstoßen, stehen die sozialen Auseinandersetzungen aber unter einem ganz anderen Vorzeichen. In ihrer heutigen Gestalt bleibt der Globalisierungskritik nur noch eine Gnadenfrist.

Freilich setzte bereits die Verkürzung der Globalisierungsproblematik auf eine im wesentlichen ökonomische Frage stillschweigend die Fortsetzung des kapitalistischen Normalbetriebs voraus. Der Protest hat bei aller Kritik strenggenommen noch an der neoliberalen Illusion Anteil, Globalisierung laufe auf den Endsieg ökonomischer Rationalität und auf Verfriedlichung im Zeichen des totalen Marktes hinaus; zumindest kommen die Weltmarktverliererregionen im Protestweltbild stets nur als passive Opfer, als Weltsozialfälle vor; die poststaatlichen Zerfallsprozesse, die gerade im Gefolge des Endes nachholender autozentrierter Entwicklung in den peripheren Regionen den Primat regulärer Wertverwertung über den Haufen werfen und sich in Kategorien ökonomischer Vernunft nicht fassen lassen, bleiben dagegen unterbelichtet oder erscheinen nur als ein zusätzliches, zur ökonomischen Globalisierung hinzutretendes Binnenproblem dieser Gegenden. Der 11. September hat denn auch den Antiglobalisierungsprotest prompt auf dem falschen Fuß erwischt. Allzu nahe mit Weltsozialarbeitertum verwandt, passt die Globalisierung der etwas anderen Art, der Rückschlag poststaatlichen Irreseins auf das Herz der Weltmarktgesellschaft, einfach nicht in die globalisierungskritischen Drehbücher. Dementsprechend hilflos fielen die Reaktionen des Protestspektrums aus. Die Klügeren erschraken darüber, dass die personalisierende Kapitalismuskritik die sich großer Beliebtheit erfreut, über weite Strecken gar nicht so ohne Weiteres von den Rechtfertigungen der islamistischen Amokläufer abzugrenzen ist. Den anderen fiel nur ein, dass die Verelendung der 3. Welt wesentlich für den Terror mitverantwortlich ist. Das ist, wohlmeinend genommen, zwar insofern nicht völlig verkehrt, als der Verlust einer regulären warengesellschaftlichen Entwicklungsperspektive tatsächlich den aller-allgemeinsten Hintergrund für die neue Sorte von Terror bildet; diese Einschätzung bleibt aber gleich in zweifacher Hinsicht hoffnungslos naiv. Zum einen ist den Auflösungs- und Gewaltregimes, die in den Trümmern der kollabierten Modernisierungsdiktaturen wuchern, mit rein wirtschaftlichen Mitteln nicht beizukommen. Zum anderen geht, auch ökonomieimmanent gesehen, die übliche Konklusion, der Westen habe im wohlverstandenen eigenen Interesse den abgewürgten warengesellschaftlichen Entwicklungsprozess an der Peripherie zu reanimieren, an der Wirklichkeit vorbei. Sie malt eine Perspektive, die zur regierungsamtlichen Propaganda, aber nicht zur schnöden Realität passt.

Auch in dieser Hinsicht droht der Antiglobalisierungsprotest zwischen weltfremder Nostalgie und dem Engagement für eine neue, unter das westliche Weltpolizistentum subsumierte Weltsozialarbeit zerrieben zu werden. Die Hoffnung, das Attentat auf die Twin Towers und das Pentagon habe den Protest mit einer Ausnahmesituation konfrontiert und die globalen Terror- und Bürgerkriegsszenarien blieben eine bedauernswerte Randerscheinung, der auf politischem Wege erfolgreich gegenzusteuern wäre, braucht sich jedenfalls niemand zu machen.

Es führt keine gerade Linie von den Antigipfel-Kampagnen zu einer neuen antikapitalistischen Bewegung, die diesen Namen verdienen würde. Das schüchterne Wiederauftauchen emanzipatorischer Bestrebungen wird ohne bewusste, auch theoretisch begleitete Reflexion auf die Grenzen, das Scheitern und die Vereinnahmung des derzeitigen Antiglobalisierungsprotests Episode bleiben. Um ein bekanntes Marxsches Diktum für die derzeitige Situation zu variieren und umzukehren: Es reicht nicht, dass die Wirklichkeit zum Gedanken drängt, es muss auch der kritische Gedanke zur Wirklichkeit drängen.

7.

Trotz der Haltlosigkeit der von der „gemäßigten“ Globalisierungskritik lancierten Konzepte, kann der mit einem radikal antikapitalistischen Selbstverständnis ausgestattete Teil des Spektrums in der Diskussion kaum punkten. Warum, ist leicht zu erklären. Er bezieht sich gewöhnlich selber auf Positionen, die letztlich mit den gleichen fragwürdigen Voraussetzungen operieren, von denen auch die „reformistischen Gegenspieler“ ausgehen. Vor allem, was die Möglichkeiten politisch-etatistischer Steuerung angeht, zeigen sich die entschiedenen Antikapitalisten kaum weniger glaubensstark als ihre Kontrahenten, nur dass die Wertung anders, nämlich negativ ausfällt. Das sich abzeichnende Doppelversagen von Markt und Politik bleibt unentdeckt. Natürlich weiß man vom „Ende des Nationalstaats“. Das ist aber kein Anlass, danach zu fragen, ob die politische Vermittlungsform dessen Ableben überleben kann, vielmehr wird dieses Überleben immer schon unterstellt.

Eine besonders krasse weil gegen alle tatsächliche Erfahrung immunisierte Gestalt nimmt das Ausweichen vor der Formfrage bei den im radikalen Segment hoch im Kurs stehenden neooperaistischen Positionen an. So springt etwa das vermeintliche opus magnum von Michael Hardt und Toni Negri8 [8], Empire, von einer eklektischen Beschreibung der Auflösung der nationalstaatlichen Ordnung unvermittelt zum verblasenen Konstrukt eines supranationalen Imperiums. Wie es um dessen Tragfähigkeit bestellt ist, steht überhaupt nicht zur Debatte. Ganz im Geist einer konsequent subjektivistischen Lesart des traditionellen Marxismus kann ex definitione nur ein herbeiromantisiertes Gegensubjekt, die „Multitude“, in der das gute alte Proletariat seine Wiedergeburt feiert, das „Empire“ in Frage stellen. Hardt und Negri bemühen zwar beständig den Krisenbegriff, aber nur, um ihn in sein Gegenteil zu verkehren und die Krise zur ewigen Reproduktionsform des Kapitals zu mystifizieren.

Sehr viel näher an die tatsächlichen Probleme kommt Joachim Hirsch, ein anderer im antikapitalistischen Spektrum beliebter Kronzeuge. Dieser letzte Bewegungsmarxist beschreibt in wesentlichen Punkten recht präzise die krisenhafte Auflösung der nationalstaatlichen Ordnung. Er macht keinen Hehl daraus, dass eine nach den Maßstäben des Systems funktionale Neustrukturierung des Weltkapitalismus nicht absehbar ist. Weil diese Einsicht aber nicht zu seinen eigenen regulationstheoretischen Vorgaben passt, bricht er ihr die Spitze ab, indem er gewohnheitsmäßig ein „Noch-nicht“ einführt. Welche Form kapitalistischer Integration aus den krisenhaften Umbrüchen hervorgehen wird, ist heute in vielerlei Hinsicht unklar, dass aber ein neues tragfähiges Regulationsmodell am Ende herauskommen wird, steht bei Hirsch seltsamerweise bereits irgendwie doch fest. Was die Fernperspektive angeht, schreibt er dem System eine Integrationskraft zu, die er ihm in der mittleren Perspektive aus guten Gründen nicht andichten will. Hirschs Theorem vom „nationalen Wettbewerbstaat“ verbindet richtige empirische Beobachtungen mit einem verkürzten Krisenbegriff. Krise als Krise der gesellschaftlichen Form von Markt und Politik bleibt für ihn undenkbar, stattdessen existiert sie immer nur als transitorisches Phänomen im Modellwechsel, auch dort, wo sich seine eigene Analyse eigentlich dagegen sperrt 9 [9].

8.

Beim Ausweichen vor der Frage des Obsoletwerdens der gesellschaftlichen Basisform und dem Ausblenden des sich abzeichnenden Krisenhorizontes handelt es sich nicht bloß um ein Problem „abgehobener“ Theorie. Die Schwäche der antikapitalistischen Vordenker macht sich im Richtungsstreit innerhalb des globalisierungskritischen Spektrums handgreiflich bemerkbar, sie ist wesentlich für die Marginalisierung radikaler Positionen mitverantwortlich. Die Haltlosigkeit der von der „gemäßigten“ Globalisierungskritik vertretenen Konzepte ist eigentlich mit Händen zu greifen, und doch können die radikalen Linken im globalisierungskritischen Richtungsstreit nicht recht punkten. Die Debatte nimmt über weite Strecken den Charakter eines müden Remakes tausendfach durchgehechelter innerlinker Auseinandersetzungen an.

Besonders abschreckend, weil ausgesprochen unfruchtbar, fiel sicherlich die Gewaltdiskussion in Anschluss an Genua aus. Kaum einem Beitrag, der diese Frage berührte war anzusehen, dass er aus diesem Jahrhundert und nicht aus den 70er Jahren des letzten stammt. Dass eine grundlegende Neubestimmung in dieser Frage für die Opposition schon deshalb ansteht, weil sich auf der Gegenseite das Verhältnis zu Gewalt und Legalität entscheidend verändert10 [10] hat, scheint nur wenigen zu dämmern.

Ganz ähnlich sieht es aber auch aus, wenn es um die inhaltliche Stoßrichtung der Globalisierungskritik geht. Selbst die BUKO-Vertreter, hierzulande wohl mit die reflektiertesten Globalisierungskritiker, lassen sich in der Diskussion mit Attac in eine völlig anachronistische Reformismus-Revolution-Debatte verwickeln11 [11]. Zwar werden von Seiten des BUKO durchaus zentrale Schwächen der Attac-Position angesprochen: die Reduktion von Kapitalismus auf ein rein ökonomisches Phänomen (Ulrich Brand) ist genauso Thema wie die keynesianische Nostalgie und der damit verbundene Kapitalismusbegriff (Moe Hierlmeier); wer aber das

blödsinnige Tobin-Tax-Projekt als eine für den heutigen Kapitalismus funktionale Option interpretiert und in diesem Sinne Attac als potentielle Modernisierer angreift (Christian Stock), macht es der Gegenseite ziemlich leicht, sich in die Pose der praxisprallen Macher, die sich auf das unmittelbar Realisierbare orientierten, zu werfen. Genau auf diesem Steckenpferd kommt Attac permanent geritten. Sven Giegold, einer der Attac-Sprecher, bringt das fast schon klassisch auf den Punkt: „Ich will hier und jetzt für reale Reformen streiten, solange die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es den Menschen nach ihrer Umsetzung besser geht“, meint er und schreibt umgekehrt seinen Kontrahenten ins Stammbuch: „Eure Inkaufnahme von sozialen Verelendungsprozessen teile ich nicht. Ich bin froh, dass Attac ihnen entgegensteuert“ 12 [12].

So eine Aussage lädt zur Retourkutsche förmlich ein. Attac ist nicht deshalb zu kritisieren, weil es sich mit unmittelbar bloß „reformistischen“ Erfolgen zufrieden gibt, sondern weil es sich auf pure Phantastereien kapriziert. In der Aufstiegsphase der Warengesellschaft mag die Gegenüberstellung von konkreter Reformpolitik, die für bessere Lebensverhältnisse sorgt und einem systemkritischen Anspruch, der für eine ferne Perspektive unmittelbare Verbesserungen hintanstellt, eine gewisse Plausibilität auf ihrer Seite gehabt haben. Heute ist diese Art von Konfliktdefinition einfach grotesk. Die Verteidigung sozialer Standards ist unverzichtbar und zentral; es ist aber miserabel um sie bestellt, wenn dieses Ziel nur als Nebenprodukt von durch und durch ideologischen, von vornherein zum Scheitern verurteilten Projekten zu haben sein soll.

Die Mobilisierung gegen das spekulative und für das produktive Kapital hat, abgesehen von seinen strukturell antisemitischen Implikationen, mit einem Gegensteuern gegen soziale Verelendungsprozesse rein gar nichts, mit gründlich verrußten Hirnen eine ganze Menge zu tun. Auch wenn vier Milliarden Menschen morgen für die Tobinsteuer demonstrieren und die Regierungen sich übermorgen beugen, kein Staat der Dritten Welt und kein hiesiger Sozialhilfeempfänger hat deswegen bessere Aussichten. Und das liegt nicht etwa daran, dass sie bei der Umverteilung des spekulativen Reichtums sowieso nicht zum Zuge kommen würden, sondern daran, dass sich bei einer auch nur einigermaßen ernsthaften Behinderung der Finanzmarktbewegungen dieser auf fiktiver Kapitalverwertung beruhende Reichtum sofort in Luft auflösen würde. Weder die Vertreter noch die Gegner der Tobin-Steuer scheinen realisiert zu haben, dass die in Gang befindliche Wiederentdeckung des Keynesianismus (jenseits seiner ideologischen Legitimation) in der Praxis auf gar nichts anderes zielen kann als auf die Aufrechterhaltung von Spekulation und Kredit, um den schon lange anstehenden Entwertungsprozess och für eine Weile aufzuschieben.

Die angeblichen „Realisten“ und „Reformer“ zeichnen sich nämlich keineswegs dadurch aus, dass sie sich notgedrungen bereit finden würden, die Gesetze der Verwertungslogik als Faktum mit zu berücksichtigen. Realismus meint einzig und allein: Nähe zu den aus der Aufstiegsphase der Warengesellschaft überkommenen und nach wie vor weit verbreiteten ideologischen Verwirrungen. Realismus bezeichnet jene Form von Selbstverdummung, die für die Kompatibilität des eigenen Geschwätzes mit dem der offiziellen Politik sorgt.

Die alte Reform-Revolution-Debatte kann nur neu inszenieren, wer von der Stufe kapitalistischer Entwicklung abstrahiert, auf der wir uns befinden. Wer meint, bessere Lebensbedingungen als Begleitprodukt kapitalistischer Modernisierung erkämpfen zu müssen und deswegen ein alternatives Regierungsprogramm formuliert, wird angesichts des laufenden Krisenprozesses kein Gran emanzipatorischen Mehrwerts erwirtschaften. Der Politik verkaufen zu wollen, dass soziale und ökologische Rücksichtnahme doch im langfristigen Eigeninteresse der Verwalter der Wertverwertung liegt, läuft auf pure Selbstverarschung hinaus. Die alte politische Form taugt nicht mehr zur Organisierung auch nur der bescheidensten emanzipativen Bestrebungen. Die Zersetzung des Regulationsstaats lässt sich nicht rückgängig machen, weil sie selbst schon die Folge jener Krise ist, zu deren Bewältigung er nun wieder angerufen wird. Der staatliche Souverän hat seine Rolle als Träger und Gestalter positiver Veränderungen ausgespielt. Wer darauf noch setzt, ist Reformer nur noch in dem Sinne, den dieser Begriff mittlerweile angenommen hat: nämlich im Sinne repressiver Krisenverwaltung.

9.

Dieses Verdikt hat nichts mit einem Praxisverbot zu tun, und läuft keineswegs auf die Aufforderung hinaus, das politische Bezugsfeld freiwillig zu räumen. Auch eine strikt antipolitisch orientierte Bewegung wird den Staat und dessen juristisch-militärische Macht sowie dessen Redistributionsgewalt schwerlich ignorieren können, auch und gerade wenn diese Gewalt einem langfristigen Erosionsprozess unterliegt. Eine Bewegung muss versuchen, Einfluss zu nehmen, allerdings – und das ist entscheidend – was die politische Macht angeht: rein negativen Einfluss. Es geht nicht darum, alternative Modernisierungsvorschläge zu unterbreiten und sich den Kopf der Herrschenden nach Kräften zu zerbrechen. Vielmehr sind alle Energien darauf zu konzentrieren, den desozialisierenden Charakter der neuen Formen sozialer Zurichtung offen zu legen, Widerstand gegen den Prozess der kapitalistischen Autokannibalisierung zu leisten und den staatlichen Gewalten bessere Rahmenbedingungen für Ansätze gesellschaftlicher Selbstorganisation abzutrotzen. Die konkreten Forderungen müssen nicht himmelstürmend sein, sie können durchaus geringe Reichweite besitzen. Oft werden sie Altbekanntes aufs Tapet bringen und nie die Wirklichkeit neu erfinden. Entscheidend ist aber der Kontext, in dem sie stehen. Ein Protest gegen die Zumutungen, denen Arbeitslose unterworfen werden, ist tausendmal wichtiger, als tausend Konzepte darüber, wie kapitalistische Ökonomie, Ökologie und Soziales miteinander zu versöhnen sind. Ein Ansinnen wie das, der Staat möge dafür sorgen, dass weder Eisenbahnlinien nach Belieben stillgelegt werden noch die Benutzung der Bahn zur Gefahr für Leib und Leben wird, mutet eher banal denn revolutionär an. Wird diese Forderung unmittelbar als gesellschaftlicher Anspruch erhoben und nicht von vornherein als marktkompatibel dargestellt, kann sie unter den heutigen Bedingungen sogar den Charakter eines Frontalangriffs auf das Primat betriebswirtschaftlicher Logik annehmen. Die Forderung nach Schuldenstreichung für die Länder der Dritten Welt dürfte das gesamte globalisierungskritische Spektrum teilen. Es gibt nicht den geringsten Grund, sie zu relativieren oder sich gar von ihr zu verabschieden. Es gibt aber jede Menge guter Gründe, diese Forderung nicht mit der Zwangsvorstellung zu verkoppeln, damit würde der kapitalistischen Peripherie wieder eine Modernisierungsperspektive eröffnet. Das unmittelbare Anliegen von Schuldenstreichungen liegt darin, die Menschen in den betroffenen Ländern von einem enormen Druck zu befreien und Spielräume für soziale Bewegungen zu öffnen. Sie lassen sich gleichzeitig aber auch als Teil einer Attacke auf das Primat monetärer Beziehungen verstehen.

Der Marxismus hat zwar die Rückholung des Staates in die Gesellschaft als Ziel proklamiert, aber immer nur als postrevolutionäres Fernziel. Bevor die gesellschaftliche Organisation mit der Aufhebung von Markt und Staat zum Synonym für die „Verwaltung von Sachen“ (Marx) werden kann, sollte die Gegenmacht erst einmal auf unabsehbare Zeit selber als genuin politische Kraft agieren. Diese Denkfigur entpuppt sich in dem Maß als obsolet, indem die systemischen Grenzen etatistischer Steuerung hervortreten. Welchen Sinn macht es, um jeden Preis an die Hebel der Staatsmacht zu drängen, wenn die staatliche Gewalt sich zwar emanzipativen Bestrebungen in den Weg stellen, sie aber nicht tragen kann? Im 21. Jahrhundert findet eine Emanzipationsbewegung ihren positiven Inhalt von vornherein in nichts anderem als in der Selbstorganisation und in der unmittelbaren Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen. Befreiung beginnt dort, wo es gelingt, die Regeln staatlicher Gewalt und marktförmiger Vermittlung partiell außer Kraft zu setzen.

Auf ihre Weise reflektiert auch die herrschende Ideologie auf die Grenzen staatlichen Handelns. Sie thematisiert sie freilich weniger als eine Frage der tatsächlichen Reichweite staatlichen Handelns, denn viel mehr als ein Sollens-Problem. Niemand, der heute nicht auf Distanz zur Vorstellung des Staates als Demiurgen und gesellschaftlichem Formatierer geht und das Hohelied der Selbstbestimmung singt. Bereits die neoliberale Ideologie hat in dieser Richtung polemisiert. Sie wollte gar keine Gesellschaft mehr kennen, sondern nur mehr Individuen und identifizierte Freiheit mit der völligen Subsumtion der vereinzelten Einzelnen unter das unmittelbare Marktdiktat. Mit dem Ende des Neoliberalismus kam diese durch und durch a-soziale Auflösung in Misskredit, ohne dass deswegen eine Rückwendung zu einer Ideologie der Staatsvergottung stattgefunden hätte. Als Gegengewicht zur staatlichen Macht wird nicht mehr das totale asoziale Marktsubjekt angerufen, sondern allenthalben wird eine nebelhaft bleibende „Zivilgesellschaft“ als Träger selbstverantwortlichen Handelns beschworen.

Auf dieser Welle surft auch die Globalisierungskritik. Ein Gutteil des Spektrums will den eigenen Protest als eine Wortmeldung dieser ominösen Instanz verstanden wissen. Insbesondere in der NGO-Szene erfreut sich der emphatische Bezug auf die „Zivilgesellschaft“ größter Beliebtheit, aber auch eingefleischte Neokeynesianer haben nicht das geringste Problem, in den allgemeinen Chor einzustimmen.

Die Anrufung der Zivilgesellschaft hebt vage auf dezentrales, bewusstes, kollektives Handeln ab, ohne dass die Form dieses Handelns und dessen Bedingungen genauer ins Blickfeld genommen würden. Die Zivilgesellschaft ist irgendwo im Graubereich zwischen den eigentlichen Staatsfunktionen und der Verfolgung unmittelbarer purer Marktinteressen als eine Art Zwischenreich angesiedelt. Das reichlich Ungefähre dieses Konzepts tut seiner ideologischen Wirksamkeit keinen Abbruch, im Gegenteil. Diese unscharfe Vorstellung erlaubt es, Unvereinbares unter einem Label zusammenzufassen, und das ist genau der Sinn der Übung. Diese Vereinigung funktioniert freilich nur im Reich der Ideologie. In der schnöden Wirklichkeit sieht das ein bisschen anders aus. Wo das Selbstbestimmungspathos mit Eigeninitiative bei der Unterwerfung unter die Marktimperative oder mit der partiellen Auslagerung staatlicher Aufgaben an halböffentliche Träger zusammengehen soll, verkehrt es sich in sein Gegenteil. Antikapitalistische Kritik hat an diesem Selbstdementi anzusetzen. Erst, wo sie den Blick dafür schärft, dass auseinander muss, was nicht zusammengehört, kann sie einen Handlungsspielraum eröffnen, der diesen Namen verdient.

1 [13]Subtropen 10/02, Beilage in der Jungle World 07/2002

2 [14] Strenggenommen verrät der Begriff selber schon das Wesentliche. Inter bedeutet so viel wie: inmitten, zwischen, unter. Das Wort setzt also die Existenz der vielen einzelnen Nationen bereits als positive Gegebenheit voraus. Ein Standpunkt, der tatsächlich jenseits des nationalen liegt, statt ihn in sich zu fassen, wäre als transnational zu bestimmen. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitslose in der Auseinandersetzung mit dem transnationalen Kapital auf die gute alte internationale Solidarität rekurrieren, ist ihre Niederlage schon in der Konfliktformulierung vorweggenommen.

3 [15] Der Ringelpiez geht erstaunlich weit. Selbst der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, bringt es fertig, für sich einen Ehrenplatz im Widerstand gegen die Globalisierung zu reklamieren. In einem Interview verstieg er sich zu dem Ausspruch: „Ich war der erste Antiglobalisierer,“ (Die Zeit, 24.1.02).

4 [16] Reine Ideologiekritik läuft schon insofern ins Leere, als sie ihren Adressaten verfehlt und dabei stehen bleibt, Geheimnisse zu enthüllen, die für niemanden Geheimnisse sind. Wenn Stephan Grigat (Jungle World 29/2001) nachweist, dass die Konzepte von Attac und Co. mit der Marxschen Theorie des Kapitals im Allgemeinen nicht zur Deckung zu bringen sind, sondern ihnen eine verkürzte personalisierende Kapitalismusvorstellung zugrunde liegt, wer könnte da widersprechen? Man fragt sich aber unwillkürlich, was aus diesem Befund folgt und an wen sich die Botschaft überhaupt richtet. Keinem Menschen mit gesellschaftskritischen Ambitionen in und außerhalb des antiglobalisierungskritischen Spektrums ist das je verborgen geblieben. Die Kritisierten wiederum zucken bestenfalls die Schultern. Wer an einem Anspruch gemessen wird, den er nie erhoben hat und nie erheben will, wird sich von ungünstigen Messergebnissen kaum erschüttern lassen. Literaturkritik, die schlecht gereimte Einkaufszettel verreißt, wird weder mit Widerspruch noch mit Einsicht rechnen können, sie kommt schlicht nicht an. Diese Sorte von Kritik vermittelt über weite Strecken den Eindruck, dass ihr einziger Inhalt darin besteht, sich der eigenen antikapitalistischen Identität und Exklusivität zu versichern. Immerhin gleiten einige ideologiekritisch orientierte Autoren bei der Einschätzung der Globalisierungsbewegung nicht gleich in eine selbstgefällige Oberlehrerhaltung ab. Aber auch bei ihnen, man denke etwa an die Beiträge Udo Wolters (Jungle World 28/2001, bzw. blätter des iz3w, Sonderheft „Gegenverkehr“), bleibt der Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit dem Antiglobalisierungsprotest an dem Punkt schon zu Ende ist, wo sie überhaupt erst anfangen müsste.

5 [17] Der Begriff schillert. Zum einen wird er analytisch verstanden und soll die empirischen Veränderungen im politischen Prozess im Zeitalter der Globalisierung beschreiben. Daneben und vor allem hat sich aber ein normativ-emphatischer Gebrauch eingebürgert. Allerdings bleibt er auch in dieser Bedeutung etwas unscharf. In erster Linie bezeichnet „Global Governance“ das Ziel der Restrukturierung von Staatlichkeit, in zweiter Linie hebt er auf die Idee transnationaler NGO-Netzwerke ab und wird in diesem Sinne als kosmopolitische Demokratieform interpretiert. Eine ausführliche Kritik liefert Brand, Brunngräber, Schrader, Stock, Wahl: Global Governance, Münster 2000.

6 [18] Diesen Zusammenhang erwähne ich hier nur. Ausführlich habe ich ihn in dem Beitrag „Einer muss den Bluthund machen“ (Krisis 23) entwickelt sowie in dem Aufsatz „Das Neue Simulationsmodell“, Weg und Ziel 4/98.

7 [19] Der Linguist Noam Chomsky, einer der „Star-Theoretiker“ der Globalisierungskritik, argumentiert vorzugsweise nach diesem Muster. Er meint, nicht nur Demokratie und Menschenrechte, sondern auch noch den Markt gegen die neoliberalen Ideologen verteidigen zu müssen: „In der wirklichen Welt sind Demokratie, Märkte und Menschenrechte ernsthaft unter Beschuss – in vielen Weltregionen, einschließlich in den führenden industriellen Demokratien. Die mächtigste unter ihnen – die Vereinigten Staaten – leiten diese Attacke. In der wirklichen Welt haben die USA niemals freie Märkte unterstützt, von ihrer frühesten Geschichte an nicht bis hin zu den Reagan-Jahren, die einen neuen Standard für Protektionismus und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft setzen, ganz im Gegensatz zu vielen herrschenden Illusionen.“ (Noam Chomsky/ Heinz Dietrich, Globalisierung im Cyberspace, Bad Honnef, 1996)

8 [20] Vgl. dazu die ausführliche „Empire“-Rezension von Anselm Jappe in dieser Ausgabe der Krisis.

9 [21] Vgl. Norbert Trenkle, Kein Anschluss unter dieser Nummer, Weg und Ziel 5/98.

10 [22] In der fordistischen Phase war in den kapitalistischen Metropolen und teilweise auch an der Peripherie unmittelbare Repression auf den Staat fokussiert und sie hatte meist den Charakter einer ultima ratio. An die Stelle des Gewaltmonopols treten heute allenthalben Gewaltpole. Gleichzeitig schält sich im „molekularen Bürgerkrieg“ (Hans Magnus Enzensberger) ein recht intimes Verhältnis zwischen Warensubjekt und Gewaltsubjekt heraus. Dass Staatsgeschäftsmänner wie Berlusconi sich das alte Autonomen-Motto „legal-illegal-scheißegal“ zu eigen machen und ganz bewusst auf die Verwischung der Grenze zwischen Polizeigewalt und rechtsradikalem Schlägertum setzen, ist nicht als lokale Episode abzuhandeln. Hier werden grundlegende Veränderungen sichtbar.

11 [23] Ich beziehe mich hier wesentlich auf ein von der Zeitschrift blätter des iz3w dokumentiertes Streitgespräch zwischen Attac Deutschland und dem BUKO-Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft. Es findet sich im Sonderheft „Gegenverkehr. Soziale Bewegungen im globalen Kapitalismus“, August 2001.

12 [24] blätter des iz3w, Sonderheft „Gegenverkehr“ S.66


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