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Rechtsform und „nacktes Leben“

Anmerkungen zu Giorgio Agambens „Homo sacer“

Karl-Heinz Wedel

Zur Situation eines Staatenlosen:

„Im Grunde … war ich ja schon lange tot. Ich war nicht geboren … konnte nie im Leben einen Pass bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt nicht auf der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermisst werden. Wenn mich jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet.“

B. Traven

Wenn „das Nichts“ der warengesellschaftlichen Konstitution im Zerfall ihrer ökonomischen und politischen Formen immer mehr sichtbar wird, so eröffnen sich zwei Perspektiven: Dieses „Nichts“ oder nichts zu verstehen. Mit dem Buch „Homo sacer“ von Giorgio Agamben haben wir es mit einem überaus wichtigen Versuch zu tun, der bürgerlichen Gesellschaft in Zeiten ihres Verfalls den Spiegel der rechtsförmigen Verfasstheit, das Nichts des auf keinen Inhalt mehr beziehbaren, souveränen Willens vorzuhalten. Sichtbar werden dabei abscheuliche Umrisse der gewaltförmigen Grundverfasstheit von Staat und Politik. Agamben formuliert seine Analyse zwar in Anlehnung an Foucaults Begriff der Biopolitik (1), er geht aber in entscheidender Weise über den Positivismus der eindimensionalen biopolitischen Begrifflichkeit hinaus.

Regierungsontologie

Im Gegensatz dazu hat nach jahrelangem Vorlauf im angloamerikanischen Raum in den letzten Jahren auch in der hiesigen Linken das Verkennen zentraler gesellschaftlicher Prozesse sich zunehmend biopolitischer Kategorien bedient, allesamt aus dem Spätwerk von Michel Foucault. Dazu zählt auch der Begriff der „Gouvernementalität“ – eine Wortverbindung aus Regierung und Mentalität -, wobei diese zur Biopolitik in einem übergeordneten und sie umfassenden Verhältnis steht (2). Insgesamt handelt es sich, nach den Verlautbarungen von offiziellen Foucaultisten, beim Begriff der Regierung um eine Erweiterung und Differenzierung seines Machtbegriffes (3). Wer hier im Rahmen der schon sattsam bekannten Ontologie der Macht bei Foucault nun eine Erweiterung und Differenzierung eben derselben in Hinsicht auf die „Regierung“ vermutet, wird in seiner Annahme nicht enttäuscht. Und es verwundert auch nicht, dass diese „Theorie“ der Gouvernementalität hier zu Lande bei jenen gar freundlich begrüßt wird, denen die Regulations- und Politikfähigkeit des Staates schon immer ihre „Feste Burg“ war. U. Bröckling, S. Krasmann und T. Lemke als Herausgeber des Buches „Gouvernementalität der Gegenwart“ haben mit einigem Erfolg das Potemkinsche Dorf der Politikhalluzination mittels Foucaults Begriff der Gouvernementalität noch etwas erweitert. Konsequenterweise findet sich dann in dem Werk über die Bestimmungen des Politischen nichts, was über die offiziellen Erklärungen von beispielsweise Schröders Regierung hinausginge: „Die Perspektive der Gouvernementalität ermöglicht die Entwicklung einer dynamischen Analyse, die sich nicht auf die Feststellung eines <Niedergangs des Politischen> beschränkt, sondern den <Rückzug des Staates> bzw. die <Dominanz des Marktes> selbst als ein politisches Programm dechiffriert“ (Bröckling, S.26). Nach dem Ende der postmodernen Virtualität lässt man es sich eben angelegen sein, nicht mehr nur in perfomativer Art die Diskurspraktiken zu dekonstruieren und sich seiner lokalen Freiheit in Minipraktiken zu versichern, sondern wird wieder richtig hart politisch. Dummerweise im Mainstream der kreuzbiederen Politikillusion, die den selbstläufigen Zerfall des Politischen selber als politischen Akt missversteht.

Produktion des biopolitischen Körpers

Im Gegensatz zu diesem mehr als unbefriedigenden Ansatz geht Agamben in entscheidender Weise über den Positivismus der eindimensionalen biopolitischen Begrifflichkeit hinaus und legt richtigerweise den Fokus auf die Konstitutionsbedingungen von Staat und Politik. Obwohl er über keinerlei Begrifflichkeiten von moderner Warenproduktion und der entsprechenden Sphäre der Ökonomie verfügt, reflektiert seine Analyse zentrale Bestimmungen der modernen Subjektivität in Beziehung auf das Politische. Das mit der Souveränität erst konstituierte „nackte Leben“, das die grenzenlose Verfügbarkeit des staatlichen Souveräns über die Einzelnen ausdrückt und sich als extreme Konsequenz im Lager manifestiert, ist danach ein wesentliches Merkmal der modernen bürgerlichen Verhältnisse.

Anhand der Figur des archaischen römischen Rechts, dem „homo sacer“, der getötet werden darf, ohne dass ein Mord begangen wird, versucht der Veroneser Rechtsphilosoph die Grundbestimmungen bürgerlicher Konstitution zu verdeutlichen. Freilich verschwimmt dadurch die historische Spezifik und Einmaligkeit des modernen Staatswesens und dessen zentrale Kategorie, die Souveränität. Die Verweise auf das römische Recht könnten allenfalls als Umkreisung des Problems des bürgerlichen Souveräns und des „nackten Lebens“ dienen, keinesfalls jedoch als historisch durchgängige Struktur staatlicher Verfasstheit. Mit der Souveränität und der modernen Rechtsperson incl. deren dunkler Rückseite ist ausschließlich die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert. Doch trotz dieser Ungenauigkeiten fördert Agambens Untersuchung ungemein wichtige Einsichten zu Tage. Deshalb will ich im Folgenden versuchen, mich weniger auf Verkürzungen oder Mängel zu konzentrieren als die positiven Momente für eine wertabspaltungskritische Perspektive herauszustellen.

Das zum Faktum des bloßen Lebens reduzierte Wesen ist zum einen der Gegenspieler und die verhüllte Referenz der modernen Rechtssubjektivität. Das biopolitische Modell der modernen Politik (Foucault) bedeutet, „dass die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den ursprünglichen – wenn auch verborgenen – Kern der souveränen Macht bildet. Man kann sogar sagen, dass die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist“ (S. 16).Andererseits wird gerade in gesellschaftlichen Krisensituationen diese Bestimmung der nackten Existenz erst sichtbar: Für Agamben ist „das Lager … (das) verborgene Paradigma des politischen Raumes der Moderne“ (S. 131). Im Lager bzw. im Ausnahmezustand mit der uneingeschränkter Verfügungsmacht des Souveräns über den Einzelnen wird die unheimliche wie gewaltförmige Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar sichtbar.

Agambens Untersuchung steht wie schon angedeutet in enger Tradition zu den Arbeiten von Foucault. Aber im Gegensatz zu diesem wird die Theorie der modernen Rechtsstaatlichkeit kritisch in die Reflexion einbezogen. Foucault hingegen hatte im Interesse seiner Ontologie der Machtbeziehungen zwischen den Subjekten die juridischen Theorien als „unbrauchbare“ Legitimationsphilosophie der durchgesetzten und hegemonialen Herrschaftsform bewusst beiseite gelassen (siehe Foucault 2001). Doch damit entging ihm ein adäquates Verständnis der Konstitutionsbedingung der (politischen) Subjektform. Erst mit einer kritischen Aufarbeitung der bürgerlichen Kategorien, selbstredend jenseits eines Legitimierungsdiskurses, lassen sich die barbarischen Konsequenzen der modernen Formen kenntlich machen. Damit kann überhaupt erst eine Perspektive gewonnen werden, die auf einen radikalen Bruch mit diesen Bestimmungen zielt und die es nicht, wie bei Foucault, nötig hat, eine an die Gegenaufklärung angelehnte Moderne in Form von ominösen Machtbeziehungen fortzuschreiben. Agamben setzt sich gerade in diesem Punkt positiv von Foucault ab.

Ausnahmezustand und Bann

In kritischem Bezug auf die Souveränitätslehre von Hobbes und Carl Schmitt untersucht Agamben die paradoxe Bedeutung des Ausnahmezustandes in Beziehung auf das geltende Recht. „Eine der Thesen dieser Untersuchung ist die, dass gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht. Als man in unserer Zeit versucht hat, diesem Unlokalisierbaren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen, kam das Konzentrationslager heraus. Das Lager, und nicht das Gefängnis, ist der Raum, der dieser originären Struktur des Nomos entspricht … Deshalb ist es nicht möglich, die Analyse des Lagers in jene Bahnen einzuschreiben, die Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft bis Überwachen und Strafen gezogen hat. Das Lager als absoluter Ausnahmeraum ist topologisch verschieden von einem einfachen Haftraum“ (S. 30).

Das Recht, welches die Strafe nach begangener Tat regelt, ist innerhalb der Rechtsordnung. Das positive Recht regelt oder normalisiert immer nur ein faktisches Verhalten. Die Frage wie dieses Recht aber selbst entsteht, auf was es sich stützt und wie es sich legitimiert, führt unmittelbar zur Frage der Konstitution des Staates und zur Formulierung des Souveräns. Im Gegensatz zu Foucault, der sich Nietzsches Macht-Brille aufgesetzt hatte und für den die Wirklichkeit somit zum Hin- und Herwogen von einzelnen Macht-Willen wird, gewinnt Agamben gerade durch die Fokussierung der juridischen-politischen Theorie einen klaren Blick für das Konstitutive der Staatlichkeit. Die Souveränität korrespondiert mit dem Ausnahmezustand und dieser bezieht die Menschen als „nackte Leben“ in das Rechtsgefüge des Staates ein. „Der Souverän entscheidet … über die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts“ (S. 36). Die Souveränität „ist die originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht und es durch die eigene Aufhebung in sich einschließt. Diese Potenz des Gesetzes, sich im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung anzuwenden, nennen wir … Bann (das alte germanische Wort bezeichnet sowohl den Ausschluss aus der Gemeinschaft als auch den Befehl und das Banner des Souveräns). Die Ausnahmebeziehung ist eine Beziehung des Banns. Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen worden, sondern von ihm verlassen …, das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen … Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit … Die unüberbietbare Potenz des Nomos, seine originäre <Gesetzeskraft>, besteht darin, dass er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verlässt. Diese Struktur des Banns gilt es hier zu verstehen, um sie gegebenenfalls in Frage zu stellen. Der Bann ist eine Beziehungsform. Doch um was für eine Beziehung handelt es sich eigentlich, wenn sie keinen positiven Inhalt hat und sich die Glieder gegenseitig auszuschließen (und zugleich einzuschließen) scheinen? Welche Gesetzesform drückt sich darin aus? Der Bann ist die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt die Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen. … Die Kritik des Banns muss also notwendigerweise die Beziehungsform selbst zum Problem erheben …“ (S. 39f.). Gerade durch die Foucault diametral entgegengesetze Analyse der einheitlichen Form der staatlichen Konstitution, der Souveränität, dringt Agamben zum gewaltförmigen Kern der bürgerlichen Vergesellschaftung vor. Im Zentrum der modernen Souveränität herrscht nicht die harmonisierende Kraft von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, sondern die unüberbietbare Gewaltform von Bann, Lager und Verlassenheit.

Der sinn-lose Wille als Ausnahmezustand

Nicht zufällig findet man in der Untersuchung die Frage der „Beziehungsform“. Denn mit dem Konstitutionsproblem des Rechts ist genau die Ebene der gesellschaftlichen Form erreicht und so ist es nur konsequent, wenn Agamben den Theoretiker der bürgerlichen Rechtsverhältnisse anruft, der wie kein anderer die reine Beziehungsform der bürgerlichen Vermittlung sich zum Gegenstand gemacht hatte: Immanuel Kant. Dessen „praktische Vernunft“ ist die klare Ausformulierung und unumschränkte Affirmation genau dieser Beziehungsform, deren Sichtbarwerden nach Agamben das Lager darstellt. Mitnichten ist sie das, was die aufgeklärten Selbstdenker und ewigen Wiederkäuer der abgeschmackten Vernünftigkeit unterstellen: eine Kritik im Sinne der Gültigkeit dieser Form oder gar die Grundlegung eines „ewigen Friedens“ zwischen den Subjekten. Agamben trifft ins Schwarze der Aufklärung: die Vernunft ist das Lager. Die von Kant formulierte reine Gesetzesform, der kategorische Imperativ einer „Gesetzlichkeit überhaupt“, kennzeichnet die Beziehung zwischen den Individuen in der warenförmig vermittelten Gesellschaft. Grundlegend ist dabei die abstrakte Vermittlung und zwar als verselbständigte Abstraktion. Das Kapital muss sich zwar in irgendwelchen Gegenständen veräußern bzw. anwenden, aber in der geschlossenen Bewegungsform hat es als Bezugspunkt immer nur sich selbst. Der Kapitalismus stellt also eine abstrakte Form dar, die nur durch sich selbst bedingt ist, die nur sich selbst zur Voraussetzung hat und sich immer nur auf sich selbst bezieht. Und genau den Charakter einer selbstbezüglichen Form formuliert Kant in seinem kategorischen Imperativ. Was dieser als „Grundlegung“ der Sittenlehre aufzeigt, ist die rechtsförmige Entsprechung der Kategorie des Kapitals: die Form der reinen, nur auf sich bezogenen Gesetzlichkeit. Die Freiheit dieses auf das Prinzip eines Gesetzes bezogenen „sinn-losen Willens“ (4) zielt auf das „Dasein durch das Gesetz“ (Kant), unabhängig von jeglichem sinnlichen Inhalt. Kant hat bekanntlich sein transzendentales Subjekt, die Bezüglichkeit des freien Willens auf die Gesetzesform überhaupt, scheinbar unvermittelt zur Empirie gesetzt. Doch das Verhältnis der Vernunft zur sinnlichen Wirklichkeit ist stets durch geschlechtliche und rassistische Hierarchisierung gekennzeichnet. In letzter Konsequenz geht die (männliche) Vernunft immer auch aufs Ganze und das heißt ganz schlicht die Negation der sinnlichen Welt. In der Orientierung zur reinen Form, so macht Kant unmissverständlich deutlich, ist nicht die Existenz irgendwelcher sinnlicher Wesen wichtig, sondern es gilt nur die „Achtung für etwas ganz anderes als das Leben“ (KpV, A157), nämlich die Abstraktion für sich selbst, sei es als Rechtsform oder als Kapital. Auf die Vermittlung zwischen der Ebene der „Gesetzlichkeit überhaupt“ und dem sinnlichen Leben – darauf zielt Agambens Argumentation in rechtsformkritischer Hinsicht – lassen sich nun aber die Begriffe von Souveränität, Ausnahmezustand und Bann beziehen. Wie sich dieser Wille zur sinnlichen Wirklichkeit und zum empirischen Leben verhält, dies wird durch die Explikation der „originären Gesetzeskraft im Bann“ deutlich. Gerade die „Potenz des Gesetzes, sich im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung anzuwenden“ bannt die sinnliche Wirklichkeit in einen Zustand des „nackten Lebens“. „Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen aufrechtzuerhalten. Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verlässt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt … Der Bann ist im strengen Sinne die zugleich anziehende und abstoßende Kraft, welche die beiden Pole der souveränen Ausnahme verbindet: das nackte Leben und die Macht, den homo sacer und den Souverän“ (S. 119f.).

Im Ausnahmezustand und im Bann zum tötbaren Leben wird deutlich, wie die Vermittlung zwischen der Sphäre der reinen Form und der sinnlichen Wirklichkeit zu intepretieren ist. Kant hat die Sphäre des „freien Willens“, den Inbegriff bürgerlicher und aufklärerischer Verhältnisse, gerade in Abgrenzung zu empirisch Inhaltlichem und sinnlich Bedeutsamem formuliert. Mit Agambens Interpretation sieht die weltabgewandte Willensfreiheit und der autonome wie souveräne Wille nicht mehr gerade nach Eierkuchen aus, wie sich dies die Aufklärungsapologeten immer noch zusammenphantasieren. Der „sinn-lose Wille“ der souveränen Entscheidung vermittelt sich im Bann mit der sinnlichen Wirklichkeit und produziert dabei das nackte, d.h. das absolut tötbare Leben. Gerade in Kants “Achtung des höchsten Gutes” ist stets die Negation des Sinnlichen impliziert. In der verselbständigten Abstraktionsbewegung der bürgerlichen Form „gelten“ die Individuen nicht als konkret sinnliche, sondern nur im Hinblick auf ihre abstrakte Verwertbarkeit und ihre Rechtssubjektivität.

In der Zuspitzung auf die „Beziehung mit einem Beziehungslosen“ assoziiert sich zwangsläufig die männliche Besetzung. Laut einer empirischen Untersuchung kommuniziert der durchschnittliche moderne Arbeitspapi täglich etwa 15 Sekunden mit seinem Nachwuchs. Der Mann steht also in den tatsächlichen empirischen Beziehungen gerade für das Moment eines Bezogenseins zu einem Beziehungslosen. Die angesprochene Ebene der geschlechtlichen Abspaltung in den abstrakten Beziehungen der Warenform wird allerdings bei Agamben vollständig ausgespart. Dieser konzentriert sich – um es wohlwollend zu formulieren – gänzlich auf die Sphäre der rechtlichen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft.

Kants Geltung ohne Bedeutung und der Tod

Der Kantschen Beziehungsform gibt Agamben in diesem Horizont den Charakter einer „Geltung ohne Bedeutung“. Diese Formulierung über den Inhalt der bürgerlichen Vernunft hat er aus einem Briefwechsel zwischen Gershom Scholem und Walter Benjamin übernommen. Überhaupt scheint der enge Bezug zu Benjamin – Agamben ist der italienische Herausgeber seiner Schriften – die nötige Ebene zur Reflektion der Rechtsform zu eröffnen. In seinem Text „Zur Kritik der Gewalt“ hatte Benjamin schon zentrale Bestimmungen über den mythischen bzw. metaphysischen Charakter des Rechts herausgestellt und die gewaltförmige Konstitution in Bezug auf das Recht klar erkannt. Agamben knüpft bis zur Übereinstimmung mit einzelnen Formulierungen an diese Analysen Benjamins an. Bezeichnenderweise wird in den meisten Rezensionen über Agamben das Überschreiten des Foucaultschen bzw. demokratischen Horizonts negativ vermerkt, kaum einmal aber positiv auf die dazu verwendete Benjaminsche Brücke verwiesen. Denn genau das „Aufsprengen der Kontinuität der Geschichte“ und die „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes“ (Benjamin, 1965) sind Perspektiven, die eine politikasterhaft eingelullte Linke wohl nicht zu fassen imstande ist. In der Benjaminschen Tradition der Bestimmungen von Souveränität und Bann wird klar, welchen Gewaltkern die moderne Rechtsform beinhaltet. „Es gibt keine bessere Definition des Banns, mit dem unsere Zeit nicht zu Rande kommt, als diese Formel … Welches ist denn die Struktur des souveränen Banns, wenn nicht die eines Gesetzes, das gilt, ohne zu bedeuten? Überall auf der Erde leben die Menschen heute im Bann eines Gesetzes und einer Tradition, die sich einzig als <Nullpunkt> ihres Gehaltes erhalten und die die Menschen in eine reine Beziehung der Verlassenheit … einschließen. Alle Gesellschaften und alle Kulturen (gleichviel ob demokratisch oder totalitär, konservativ oder progressiv) sind heute in eine Krise der Legitimität geraten, in der das Gesetz … als reines <Nichts der Offenbarung> gilt. Doch das ist gerade die ursprüngliche Struktur der souveränen Beziehung, und in dieser Perspektive ist der Nihilismus, in dem wir leben, nichts anderes als das Auftauchen dieser Beziehung als solcher“ (S. 62). Auch wenn bei Agamben die Ebene des Krisenprozesses der Wertverwertung schlichtweg fehlt, so ist die juridisch-politische Perspektive auf den Krisenprozess der Warengesellschaft dennoch schlagend. Genauso wie die Krise der Arbeit nicht die Form selber sprengt, sondern im Gegenteil deren repressiven Kern des totalen Arbeitszwanges deutlich macht, so lässt der Krisenprozess den von Kant formulierten ungeheuren Kern der politischen Konstitution erkennbar werden. „Das Leben unter einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, gleicht dem Leben im Ausnahmezustand“ (ebd.). Indem sich das Recht als positives nicht mehr auf einen Inhalt anwendet und diesen einer Normierung unterzieht, wird die konstitutive Voraussetzung deutlich. Wenn die Bedingung für die Geltung des Kantschen freien Willens darin liegt, sich unter „Abbruch aller Neigungen“ von der sinnlichen Wirklichkeit abzuwenden und etwas ganz anderes als das Leben zu achten, so heißt dies nur, die leibliche Existenz zu verachten. Das Leben verliert somit seine Bedeutung, wird zum „nackten Leben“ des homo sacer, das man töten kann, ohne einen Mord zu begehen. In der Erhebung über alle Sinnlichkeit, in der reinen Gesetzesform wird gleichzeitig diese sinnliche Wirklichkeit und das Leben der Menschen absolut gleichgültig und damit tötbar. Ja, die Auslöschung des sinnlichen Wesens dient im Ausnahmezustand geradezu als notwendiger Beweis für die Kraft des Nomos. Das von Kant formulierte „Untersichhaben der ganzen Sinnenwelt“ impliziert immer auch deren Vernichtung. Die Achtung für das Gesetz als oberste Maxime beinhaltet als Extrem letztlich die Verachtung der sinnlichen Wirklichkeit.

Schon Hegel war sich der Rolle des Todes als des „absoluten Herrn“ selbstverständlich bewusst. Der todesähnliche Charakter des freien Willens wird in zentralen Passagen seines Werkes dargelegt. In seiner Herr-und-Knecht-Dialektik der Phänomenologie beispielsweise ist es nicht der Herr, der den Knecht zum Arbeiten zwingt, sondern die Angst vor dem Tode, denn der Tod ist der eigentliche Herr über beide. Auch in Hegels zentralem politisch-rechtlichen Werk, der Rechtsphilosophie, stellt der abstrakte und inhaltsleere Wille, der Wille der „Leere“ den zentralen Gegenstand seiner Theorie dar. Hegel hat als Ideologe der bürgerlichen Versöhnung versucht, den immensen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, den sinn-losen Selbstzweck Charakter der reinen Form, in spannungsfreie Vermittlung aufzulösen. Das In-die-Welt-kommen des Begriffs stellt sich angeblich als Harmonie- und Einheitsbewegung in der Verobjektivierung dar. Doch tatsächlich ist das Wirklichwerden der abstrakten Form alles andere als eine gelungene Vermittlung, sondern durch permanente Krisen gekennzeichnet. Man muss die Rechtsphilosophie Hegels als ein gescheitertes theoretisches Großprojekt ansehen, den von Kant formulierten freien Willen, die „Idee des Rechts“ wirklich werden zu lassen (siehe Hegel, §1). Die Hybris seines Werkes drückt sich v.a. darin aus, dass er gerade auf der Grundlage der „absoluten Negativität“ durch die Verobjektivierungsbewegung hindurch ein Gebäude der Einheit und Harmonie entstehen sehen wollte.

Die auf dieser Grundlage prozessierende soziale Vermittlung, dessen Grundprinzp das Wollen des Nichts oder der Form ist, stellt sich dabei nicht, wie Hegel meinte, als Versöhnungsprozess dar, sondern als eine gesellschaftliche wie individuelle Katastrophe. Im Krisenprozess des Umöglich-Werdens der Wertverwertung „schreitet das Selbstbewusstsein nicht mehr in den geistigen Tag der Gegenwart ein“, vielmehr wird immer mehr deutlich, welche Ungeheuerlichkeit die von Hegel reflektierte „leere Nacht“ des Todes darstellt (5).

Tötbares Leben als Grundlage der Biopolitik

Sehr richtig formuliert Agamben die Grundlage der Einbeziehung in die politische Form als Rechtssubjekt: „Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetze Leben (das nackte … Leben) ist das ursprüngliche politische Element“ (S. 98). „Das menschliche Leben politisiert sich nur durch das Überlassensein an eine unbedingte Macht über den Tod“ (S. 100). „Er (der Tod) scheint als solcher der höchsten Macht innezuwohnen, wie wenn diese letztlich nichts anderes wäre als die Fähigkeit, sich und die anderen als tötbares … Leben zu konstituieren“ (S. 110f.).

Foucault hatte die Bestimmung der modernen (politischen) Konstitution, gerade was die grundlegende Ebene der Einbeziehung in das Recht und die Politik betrifft, verfehlt. Denn die Durchsetzung der Abstraktion der Wertverwertung und der modernen bürgerlichen Formen lässt sich nicht wesentlich als „Bio-Politik“ und als „Eintritt des Lebens in die Geschichte“ (Foucault 1983, S. 169) kennzeichnen. „In dem neuen Verhältnis zwischen der Geschichte und dem Leben“ (ebd., S. 171) kommt es gerade auf die spezifische Art und Weise der Konstitution von „Leben“ an. Der politische Souverän ist nicht einfach die Macht, welche jetzt produktiv in verschiedensten Kalkülen wie Bevölkerungswachstum, Geburtenkontolle usw. auf das „Leben“ wirkt. Sondern diesem politischen Einwirken liegt ein grundlegendes gesellschaftliches Verhältnis zugrunde, das dem Souverän eine „unbedingte Macht über den Tod“ verleiht. Foucault missversteht diese Zugriffspotenz als Kennzeichen der angeblich vormodernen absolutistischen Souveränität. „Jetzt (Foucault meint die Moderne) richtet die Macht ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf; der Augenblick des Todes ist ihre Grenze und entzieht sich ihr“ (ebd., S. 165). Früher war es Inbegriff der Macht, „sterben zu machen oder leben zu lassen“. Richtig müsste es heißen, dass die moderne gesellschaftliche Vermittlung, sowohl was die Sphäre der Arbeit angeht als auch die des Staates, eine dialektische Verschränkung von Leben und Tod darstellt. Wie im Produktionsprozess die lebendige Arbeit immer bezogen ist auf die tote und die Arbeitskraft im Arbeitsprozess als „totes Leben“ hergestellt wird, so kennzeichnet die Grundverfasstheit des souveränen Willens, „sich und die anderen als tötbares … Leben zu konstituieren.“

Recht auf alles und nacktes Leben im Ausnahmezustand

Auf das dem Tode ausgesetzte Leben bezieht Agamben auch Hobbes` „homo homini lupus“: „Hobbes` Naturzustand ist kein vorrechtlicher, dem Recht des Staates gleichgültiger Zustand, sondern die Ausnahme und Schwelle, die ihn konstituiert und bewohnt; er ist nicht so sehr Krieg aller gegen alle als vielmehr eine Lage, in der jeder für den anderen nacktes Leben und homo sacer ist“ (S. 116). Die Besonderheit des Souveräns besteht darin, dass er sein Naturrecht, das „Recht auf alles“ bewahrt und im Ausnahmezustand wird dieses Recht Wirklichkeit. Agamben stellt im Zusammenhang der Hobbesschen Formulierung des gegenseitigen Wolfseins dem homo sacer eine zweite, ebenso in einem Banne begriffene Figur entgegen, den Werwolf. Genauso wie das nackte Leben sich durch die Form des „Gesetzes überhaupt“ in die Körper einschreibt, so bleibt auch der Souverän mit einem nicht gerade angenehmen Partner in Beziehung, der jederzeit alle und alles für tötbar erklären kann, wenn er aus der Verbannung in den blutigen Tag tritt. Einerseits impliziert also die Souveränität die Reduktion auf bedeutungsloses Leben und andererseits eine noch von keinem Naturwesen darstellbare Grausamkeit. Insofern ist Agamben unbedingt zuzustimmen, wenn er sagt, „dass er als Wolfsmensch und nicht einfach als Wolf bestimmt wird … ist hier entscheidend: Das Leben des Verbannten ist – wie dasjenige des homo sacer – kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle der Ununterscheidbarkeit und des Übergangs zwischen Tier und Mensch, zwischen physis und nomos“ (S. 115). Dieses „Recht auf alles“ des Hobbesschen lupus hat weder in der Natur seine Entsprechung, noch ist es als gesellschaftliches Prinzip jemals in der vormodernen Geschichte der Menschheit als allgemeines gesellschaftliches Prinzip zur Geltung gelangt. Ausschließlich die so vernünftige und aufgeklärte Welt von Freiheit und Gleichheit basiert auf dieser ungeheuren Konstitution. „Die souveräne Gewalt gründet in Wahrheit nicht auf einem Vertrag, sie gründet in der ausschließenden Einschließung des nackten Lebens in den Staat. Und so wie jenes tötbare … Leben … die erste und unmittelbare Referenz der souveränen Macht ist, bewohnt der Werwolf, der Wolfsmensch des Menchen, in der Person des Souveräns dauerhaft den Staat“ (S. 117). Kant hat wohl durchaus geahnt, welche Ungeheuerlichkeit die bürgerliche Vernunft beinhaltet. Und so legt er größtes Gewicht darauf, die beiden Momente seines kategorischen Imperativs, Freiheit und Gesetzlichkeit, immer in Verbindung miteinander zu denken. Das Bedingtsein durch das Gesetz macht die „frei“gewählte Unterwerfung der Subjekte nötig. Freiheit ergibt sich also aus der Unterwerfung unter die Gesetzesform. Aber ohne Bezug zum Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung darf Freiheit nimmermehr sein. „Die Freiheit ist eine subjektive Gesetzlosigkeit … Sie verwirret also … Die ganze Natur wird dadurch in Verwirrung gebracht. Daher ohne moralisches Gesetz der Mensch selbst unter das Tier verächtlich und mehr als dasselbe hassenswürdig wird“ (zit. nach Böhme/Böhme, S. 341). Sehr zutreffend weist Kant auf die impliziten Potenzen seiner vernünftigen Freiheit hin, die Agamben mit der Figur des Wolfsmenschen charakterisiert. Im die ganze Natur verwirrenden Ausnahmezustand haust ein Wesen, das seine Freiheit und sein „Recht auf alles“ nur allzu konsequent in seinem Gegenüber, dem nackten Leben findet. Im Zustand der Ausnahme, in dem sich der „freie“ Wille nicht mehr durch die Gesetzesform hindurch auf einen Gegenstand bezieht und diesen formiert, treten die Figur des Wolfsmenschen und des homo sacer aus der Verbannung heraus. In diesem anomischen Zustand der Freiheit ohne Gesetzlichkeit werden Recht und Gewalt unmittelbar identisch. Es wird also kein Inhalt mehr einer Gesetzesform subsumiert, sondern die Menschen werden als „nacktes“ Leben, als bloße Bio- und Verfügungsmasse, mit der Freiheit der Souveräntität konfrontiert. „Der Souverän ist der Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht“ (S. 42). Und genau diese Struktur des Identischwerdens von Recht und Gewalt wird nach Agamben im Lager sichtbar. Die Kraft des Nomos zeigt sich im Lager dadurch, dass sich der Wille unmittelbar auf den tötbaren Körper bezieht. Als verborgene Grundlage impliziert der Souverän immer die Reduktion des Menschen auf seine bedeutungslose Körperlichkeit. In Anschluss an Hobbes lässt sich feststellen: „Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden“ (S. 134). Und im Lager macht die Souveränität diesen konstituierten Körper sichtbar. Es ist die männlich konnotierte Freiheit der Kantschen Vernunft, die „Geltung ohne Bedeutung“, die sich ihrer Potenz versichert, indem sie das Leben für absolut bedeutungslos und damit für jederzeit tötbar erklärt. Das vom Souverän verkörperte „Recht auf alles“ wird im Lager zum Prinzip, nach dem „alles möglich ist“ (H. Arendt).

Die Analyse Agambens erhellt das Verständnis des Konzentrationslagers als wichtige Erscheinungsform der modernen Verknüpfung von Individuum und abstrakter Allgemeinheit: „das Lager … als verborgene Matrix, als Nomos des politischen Raumes“ (S. 175). „Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, ist das Lager auch der absoluteste biopolitische Raum, der je in der Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raums“ (S. 180). Das Verhältnis zwischen der abstrakten Allgemeinheit (des Souveräns) und dem Einzelnen impliziert als Extrem die vollständige Rechtlosigkeit oder – je nach Sichtweise – das absolute Recht. Und Agamben fragt nach den Hintergründen, „durch welche juridischen Prozeduren und welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre (an diesem Punkt war in der Tat alles möglich)“ (ebd.). Als verborgene Grundlage der Figur des Rechtsubjekts, auf das sich die politisch-juridischen Diskurse beziehen, setzt der Souverän das „nackte“ Leben der Individuen, über das er im Ausnahmezustand jederzeit und unumschränkt verfügen kann. Die beiden Pole der Rechtssubjektivität und des nackten Lebens bedingen sich gegenseitig, und das erstere hat die Reduktion auf bedeutungsloses Leben zur Voraussetzung. Sie ist die „Geltung ohne Bedeutung“, die die sinnliche Wirklichkeit in dem Bann des nackten Lebens hält.

Nacktes Leben als „Flüchtling“

Das Verhältnis zwischen Subjekt des Rechts und der biologischen Referenz im nackten Leben lässt sich auch als Problem der Beziehung zwischen Menschenrecht und der Geburt bzw. zwischen Staatsbürger und „Flüchtling“ analysieren. In Rekurs auf Hannah Arendt schildert Agamben den prekären Bezugspunkt der Menschenrechte: „Im System des Nationalstaates erweisen sich die sogenannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte, sobald sie nicht als Rechte eines Staatsbürgers zu handhaben sind, als bar allen Schutzes und aller Realität“ (S. 135). Es ist die notwendige Verkopplung von nationalem Territorium und dem Anspruch der Rechtsperson, die die menschenrechtliche Situation für flüchtende Menschen so prekär werden lässt. Entfällt die Eigenschaft der Rechtssubjektivität, an die die sog. unveräußerlichen Grundrechte geknüpft sind, so wird die Figur des nackten Lebens sichtbar. „Wenn die Flüchtlinge … in der Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen … Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist“ (S. 140).

B. Traven hat schon in den „Goldenen Zwanziger“ Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem Roman das „Totenschiff“ die grauenvolle Lage von Staaten- bzw. Passlosen deutlich gemacht. Bei Verlust des Ausweises, was dem Verlust der Rechtssubjektivität gleichkommt, drohte nicht nur die Situation, zum Freiwild für jedermann und v.a. für den Staat zu werden, da ja kein Mord verübt werden konnte. Auch jede Rückkehr in den rechtsförmigen Normalzustand war unmöglich geworden, mithin auch die Aufnahme in ein nationalstaatliches Territorium. Die einzige Alternative für „Papierlose“, die Traven schildert, war die Existenz als Fremdenlegionär oder die Elendsarbeit als Seemann auf einem „Totenschiff“ unter erbärmlichsten Bedingungen: „Das Land ist mit einer unübersehbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines Sinnes entwickeln will und muss, dem einzelnen Menschen, der nicht numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen müssen. Vorläufig aber hat Caesar Capitalismus an diesem Mord noch kein wesentliches Interesse, weil er den Kehrricht, der über die Zuchthausmauern geworfen wird, noch brauchen kann. Und Caesar Capitalismus lässt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht. Auch der Kehrricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre, unverzeihliche Sünde.“

Ebenso wie die Vernutzung für den Profit unter absoluten Elendsverhältnissen, die Traven anhand der Zwangsarbeit von staatenlosen Seeleuten auf sog. Totenschiffen schildert, als das bedingungslose Ausgeliefertsein an die Macht des Staates ist auch und gerade 80 Jahre später wirklicher denn je. Auf den Flüchtlingsschiffen, wie der „Tampa“ in Australien oder der „Vlore“ in Italien, wird der Begriff Totenschiff allerdings auf eine andere aber ebenso furchtbare Weise Realität. Dort figurieren zwar die Menschen nicht als bloßes Material zur Arbeitsverausgabung, aber die Quasi-Nichtanerkennung als Rechtssubjekte impliziert für sie eben den anderen Pol der bürgerlichen Konstitution, das nackte Leben. Und als diese homines sacri bekommen die Flüchtlinge zu spüren, worin die „kühle Geste“ der staatlichen Macht bestehen kann: Abtransport in Flüchtlingslager, ob in die australische Wüste in das Konzentrationslager Woomera oder in das Fußballstadion von Bari. Notfalls aber auch ein direkter Schießbefehl gegen Flüchtlingsboote und deren Insassen (siehe Süddeutsche Zeitung, 25.1.2002; Zeit, 29.11.2001).

Mit steigender Zahl der Gebiete, die von der globalen Vernutzung von Arbeit ausgeschlossen werden, nimmt der Zwang zur Migration zu und somit auch das Problem des „nackten Lebens“. In Form von Flüchtlingselend bis zum Tod auf Elendskähnen von Menschschleppern erscheint dieses für die metropolitane Öffentlichkeit meist nur dann, wenn wieder eine neues Extrem an Grauenhaftigkeit und Brutalität überschritten wurde. Das gezeigte Elend wird aber für den aufgeklärten Medienkonsumenten als etwas Unwirkliches in mehrfacher Hinsicht wahrgenommen. Zuerst ist es natürlich immer die Not der anderen und mit dem normalen Gang der kapitalistischen Dinge hat dies scheinbar überhaupt nichts zu tun. Aber auch die mediale Darstellung mit teils offener rassistischer Schlagseite zeigt die betroffenen Menschen nicht selten als inferiore Masse und keineswegs als anerkannte und gleichwertige Subjekte. Schon der deutsche Begriff „Flüchtling“ hat eine eindeutig abwertende Konnotation.

Neben dem gänzlichen Ausblenden und rassistischen Abwerten gibt es aber noch einen dritten Umgang damit: als Skurrilität. Depotenzierte „Fälle exterritorialer Existenz“ lassen sich so durchaus in die bornierte Vorstellungswelt des westlich postmodernen Subjekts einpassen und als etwas Absonderliches abtun: Im Jahre 1999 wurde der aus dem Iran stammende Karimi Nasseri unter dem Namen „Sir Alfred“ in aller Welt bekannt. Denn seit 1988 lebt dieser auf dem Gelände eines Flughafens in Paris. Doch Frankreich hatte Nasseri offiziell nie betreten, denn als die Behörden in England seinen Pass einbehalten hatten und ihn in ein Flugzeug nach Paris schickten, kam er dort als juristische Person niemals an. Seitdem lebt „Sir Alfred“ in dem Niemandsland des Flughafengeländes in einer Situation, dem sich das individualisierte Metropolensubjekt verständlicherweise näher fühlt als der Existenz eines Insassen von Woomera oder dem einer Geflohenen in Afghanistan. Deshalb eignet sich die unglaubliche Lebensgeschichte des Karimi Nasseri auch so gut für die Darstellung des Problems der Exterritorialität eines Staaten- und Passlosen in den westlichen Medien. Steven Spielberg erzählt in seiner nächsten Hollywood-Produktion denn auch nicht eine Geschichte eines „Flüchtlings“ aus dem Kosovo oder dem Kongo, sondern genau die des „Sir Alfred“ auf dem Charles-de-Gaulle-Airport in Paris, von einem Ort also, der den Inbegriff moderner Mobilität und Flexibilität darstellt. In der New York Times liest sich dies wie folgt: „He has lived here between the pizzeria und an electronic store, his days punctuated by the rhythm of the flights. Bustling travelers gather in the mornig and dwindle away in the evening. Tidy and dignified, Nasseri remains on his bench. He shaves with an electric razor every morning, washes in the passengers faciltities and takes his clothes to the cleaner here. He survived for years on the kindness of strangers. He never begs (!). But airport employees routinely give him their meal coupons. Flight attendants give him toiletries left over from the first-class passengers. Occasionally, people who have heard his story send him money in the mail. One traveler gave him a sleeping bag and camping mattress, though he generally prefers to sleep on his curved bench. (New York Times- International, 27.11.1999) Wenn schon das Problem mit der staatenlosen Existenz so unabweislich scheint, dann aber bitte zwischen netten Buchläden, hippen Klamottenshops und trendigen Bars und in aller Bescheidenheit und mit der nötigen Zurückhalten, v.a. aber ohne Belästigung für den Normalbetrieb.

Nacktes Leben“ als Arbeitskraft

Travens Anklage richtet sich aber nicht nur gegen die „tödliche“ Existenz als Staaten- und Papierlose, sondern treffenderweise auch gegen das Dasein als „nacktes Leben“ und totes Material zur Arbeitsvernutzung: „Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie gepackt worden. So hart, wie wir arbeiten mussten, haben Skalven nie zu arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind Skalven nie gewesen, Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden war und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware musste sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur Transportkosten, geschweige denn einen Preis, dass der Händler noch tüchtig daran verdienen konnte. Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie Menschen. Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten, bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie das Futter nicht mehr wert sind … Wir verkommen im Dreck. Wir sind zu müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern, weil wir vor der Schüssel einschlafen. Wir verhungern, weil die Kompanie sparen muss, um die Konkurrenz auszuhalten. Wir sterben in Lumpern, schweigend, auf einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum. Wir sehen das Wasser kommen, und wir können nicht rauf. Wir hoffen, dass der Kessel explodiert, um es kurz zu machen, weil die Hände eingeklemmt, die Feuertüren aufgerissen sind und die glühenden Kohlen an unsern Füßen und Schenkel langsam frisst. Der Kesselgang? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das Verbrennen und Verbrühen nichts aus. Wir sterben schweigend in Lumpen, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität. Wir sind niemand, wir sind nichts. Heil dir, Caesar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und Waisen Pension zu zahlen. Wir, o Caesar, sind die getreuesten deiner Diener. Die Todgeweihten grüßen dich. Morituri te salutant … Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein Toter sein, ein Toter zwischen Lebenden. Ausgelöscht kann man sein aus der Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und kann dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen man nicht entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer Weg zur Flucht offen gelassen wird.“

Die moderne bürgerliche Form impliziert nicht nur die Existenz als bedeutungsloses und „nacktes“ Leben in Bezug auf die Rechtsform, sondern die Reduktion auf das bloße physiologische Dasein manifestiert sich ebenso in der Vernutzung von Arbeitskraft. Neben dem „homo politicus“, der Rechtssubjektivität und dem korrelierenden „homo sacer“, beinhaltet die Warengesellschaft auch den „homo oeconomicus“, das im Extremfall zur bloßen Materie degradierte Arbeitswesen. Um eine adäquate Beschreibung der modernen Verhältniss liefern zu können, müsste Agambens Analyse also auf den anderen Pol der modernen Warengesellschaft erweitert werden, denn die moderne Form der Reduktion auf bloße Bio-Masse umfasst neben dem Staat und der Rechtsform eben auch die Sphäre der Ökonomie und Warenform. Gleichgültig ob als illegale Einwanderer ohne Papiere und damit rechtsförmigen Status in elendigsten Arbeitsverhältnissen unter unmenschlichen Bedingungen oder ob als vor Bürgerkrieg und Massenelend Fliehende auf Totenschiffen: In den immer häufiger auftretenden Extremen des globalen Kapitalismus wird der Bann der modernen Form von Staatlichkeit und Ökonomie grauenvoll kenntlich, der die Menschen auf ihre nackte Existenz reduziert.

Kritik der Rechtsform und des Staates überhaupt

Auch wenn dieser notwendige Zusammenhang in Agambens Untersuchung gänzlich außer Acht gelassen wird, führt sie doch auf der Ebene der Rechtsform und der Politik zu den Wurzeln der gewaltförmigen Konstitution und damit zur Infragestellung von traditionellen Perspektiven der Linken. So lässt die Unterscheidung zwischen dem nackten Leben („Flüchtling“) und der Rechtsperson als zentrale Polarität die von der Linken emanzipativ besetzte Differenzierung zwischen dem ius soli und dem ius sanguinis fraglich erscheinen. Sowohl das Bürgerrecht verliehen nach der Geburt in einem bestimmten Territorium als auch jenes, das sich auf die Geburt von Bürgereltern bezieht, hat zur gemeinsamen Grundlage „das reine Faktum der Geburt …, das sich als Quelle und Träger des Rechts präsentiert … La Fayette: <Jeder Mensch wird mit unveräußerlichen und unantastbaren Rechten geboren>. Gleichzeitig verschwindet das natürliche Leben … wieder in der Figur des Bürgers, in dem sich die Rechte <bewahrt> finden“ (S. 136). „Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch-politische Ordnung des Nationstaates dar“ (ebd.). „Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der Souveränität … vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des <souveränen Subjekts>, um das Fundament des neuen Nationalstaates zu bilden. Es ist nicht möglich, die <nationale> und biopolitische Entwicklung und Bestimmung des modernen Staates des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen, wenn man vergisst, dass ihm nicht der Mensch als freies und bewusstes politisches Subjekt zugrunde liegt, sondern vor allem sein nacktes Leben, die einfache Geburt, die als solche im Übergang vom Untertan zum Bürger vom Prinzip der Souveränität eingesetzt wird“ (S. 137).

Agambens Analyse, die die Basiskategorien der modernen Staatlichkeit in Augenschein nimmt, kann schließlich dazu führen, die Gesellschaftskritik wirklich an den Wurzeln moderner Konstitution ansetzen zu lassen. Nicht das Einklagen eines nur immer gutgemeinten und immer nur das Gegenteil bewirkenden abstrakten Humanitarismus müsste das Ziel einer emanzipativen Perspektive sein, sondern nur die Abschaffung der Formen des Staatsbürgerrechts überhaupt, egal ob ius soli oder ius sanguinis. In einer Linken, die sich den realen Veränderungen stellt und sich nicht mit pseudoemanzipativen westlichen Werte-Halluzigenen entmündigt, scheint eine an die Wurzeln gehende Perspektive der Kritik der „Staatsbürgerlichkeit überhaupt“ durchaus Anklang zu finden. So kann man in einem Papier der MigrantInnen-Initiative „Kanak Attak“ gegen einen Reformismus im Staatsbürgerschaftsrecht lesen: „Diese Perspektive (ausschließlich „ius soli“ gegenüber „ius sanguinis“ emanzipativ zu besetzen, KW) bleibt aber den hegemonialen Verhältnissen immanent und variiert lediglich den Modus ihrer Herrschaftstechniken. Indem sie den Status derer verhandelt, die es nach <Drinnen> geschafft haben, ohne die Mechanismen dessen Erzeugung anzugreifen, stellt sie die moderne Biopolitik nicht in Frage, sondern verändert lediglich ihren Vollzug. Eine Perspektive kann daher nur darin bestehen, den Nexus Geburt-Territorium-Staat anzugreifen, der das Lager als monströses Dispositiv der Normalisierung hervorbringt“ (www.kanak-attak.de, Januar 2003). Eine Kritik am barbarischen Gewaltpotential der modernen Souveräntität gewinnt nur dann ein wirklich emanzipatives Ziel, wenn kategorial der Zusammenhang von Rechtsperson als „Geltung ohne Bedeutung“ erfasst wird. Der Angriff gegen die „hegemonialen Verhältnisse“ führt dann nämlich zutreffenderweise über den „migrantischen Reformismus“ hinaus zu einem Bruch mit den Bestimmungen von „Geburt-Territorium-Staat“. Auch Agamben verbindet mit der Offenlegung der verborgenen Struktur bürgerlicher Konstititution notwendigerweise eine Perspektive des Bruchs mit diesen Grundkategorien. „Nun ist es also an der Zeit, den Mythos von der Gründung des modernen Staates von Hobbes bis Rousseau noch einmal von vorn zu lesen. Der Naturzustand ist in Wahrheit ein Ausnahmezustand … Sämtliche Vorstellungen vom originären politischen Akt als Vertrag oder Übereinkunft, der den Wechsel von der Natur zum Staat eindeutig und endgültig markieren würde, sind rückhaltlos zu verabschieden“(S.118f.).

Homo sacer“ und Auschwitz

Doch wie so häufig, wenn versucht wird, Mannigfaltiges und Vielfältiges auf einen Begriff zu bringen, stehen diverse Ecken und Kanten hervor. Ein solch Überstehendes in Agambens Begriffssystem ist sicherlich die Frage des Antisemitismus. „Die für die Opfer selbst schwer zu akzeptierende Wahrheit, die nicht mit Opferschleiern zu verhüllen wir gleichwohl den Mut haben müssen, ist, dass die Juden nicht im Verlauf eines wahnsinnigen und gigantischen Holocaust, sondern buchstäblich, ganz Hitlers Ankündigung gemäß, <wie Läuse>, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind. Die Dimension, in der die Vernichtung stattgefunden hat, ist weder die Religion noch das Recht, sondern die Biopolitik“ (S.124). Hier hat sich Agamben doch zu sehr in seinen Ansatz des nackten Lebens verrannt. Die Vernichtung der Juden als bloßen Ausdruck der Biopolitik zu nehmen, verlängert gerade den unzureichenden Ansatz Foucaults. Wie er sich im Hinblick auf die Fokussierung der Souveränität als Basiskategorie der Moderne zutreffenderweise von Foucault absetzt, so bleibt er hier der behavioristischen Sichtweise seines Lehrers durch dessen Machtontologie hindurch leider verhaftet. Damit entgeht ihm völlig die irrationale Rückseite der bürgerlich-warenförmigen Beziehungen mit deren projektiven und antisemitischen Charakter. Der Holocaust ist nicht einfach ein Element der rational kalkulierenden Biopolitik, die den nationalen Körper seiner planenden Vernunft unterstellt, sondern auf einer grundsätzlicheren Ebene deren dunkle Rückseite. In der begrifflichen Fokussierung auf den Ausnahmezustand und das nackte Leben in ihrer Beziehung zum Foucaultschen biopolitischen Positivismus verschwimmt bei Agamben die entscheidende Differenz von Lager im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen.

Gerade Carl Schmitt, auf dessen Begrifflichkeiten sich Agamben ja bezieht, macht klar, dass im Zentrum des „Politischen“ der Warengesellschaft nicht nur der Bann der Souveränität steht, sondern die im Extrem deutlich werdende Grundstruktur des Antisemitismus. Zur Konstitution der Moderne gehört als extremste Mobilisierung eben nicht nur der Ausnahmezustand und das Lager, sondern gerade auch der „wahnsinnige und gigantische Holocaust“. Es ist das Unfassbare an Auschwitz, dass an Menschen mit projektiv zugeschriebenen Eigenschaften versucht wurde, die eigene unbegriffene abstrakte gesellschaftliche Vermittlung zu vernichten. Und es ist durchaus zutreffend, wenn man die Tötung von Millionen von Menschen für den absurden Selbstzweck der Wertform in Kategorien des Opfers beschreibt. Hier macht es sich Agamben entschieden zu einfach mit seiner „Dimension der Biopolitik“ und es zeigt sich, dass für eine adäquate Bestimmung der kapitalistischen Prozesse, immer die vom Wert miterzeugte „dunkle“ und irrationale Seite mitzureflektieren ist.

In Schmitts Bestimmungen der politischen Konstitution geht der Antisemitismus grundlegend ein. Die wahrhafte politische Entscheidung besteht nach ihm darin, Freund und Feind bestimmen zu können. Wenn Schmitt davon spricht, dass in dieser existenziellen Situation keine inhaltlichen Interessen, wie z.B. wirtschaftliche, moralische usw. eingehen, so ist die enge Verwandtschaft zum Kantschen „Gesetz überhaupt“ alles andere als zufällig. Denn gerade der von jedem Inhalt gereinigte Wille ist der Aufklärung höchste Sehnsucht und überhaupt Grundlage der Rechtsform. Und auch bei Schmitt bildet der von allen sonstigen Inhalten wie „Religionspolitik, Schulpolitik, Kommunalpolitik, Sozialpolitik“ (Schmitt, S.30) abstrahierende Wille der Freund-Feind-Definition die zentrale Bestimmung des Politischen. Diese konstituiert erst „die Existenz der alle Gegensätze umfassenden politischen Einheit des Staates“ (ebd.). Doch dies ist noch nicht alles. Die Bestimmung eines Gegners könnte bedeuten, dass dieser sozusagen als „gerechter Feind“ auf derselben Ebene anerkannt wird.

Die Abgrenzung des eigenen souveränen Willens ist aber konstitutiv mit der Vernichtung des als „seinsmäßig Fremden“ und „existentiell Anderen“ verbunden: „ Er (der politische Feind) ist eben der andre, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in seinem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“ (ebd., 27). Welchen Charakter diese Auseinandersetzung im Extremfall haben kann oder gar haben muss, verdeutlicht Schmitt unumwunden. Der staatliche Souverän entscheidet, „ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (ebd.). Es ist also keineswegs nur ein einfaches und rational bestimmtes Gegenüber zweier souveräner Willen, sondern der Fremde und Andere stellt im Extremfall die existentielle Bedrohung der „eigenen, seinsmäßigen Art“ dar. Doch was Schmitt als „seinsmäßig“ Anderes und Feindliches bestimmt, ist letztlich nur ein perfider Mechanismus der Projektion. Denn schließlich ist es die eigene unbegriffene und unbewusst hergestellte abstrakte gesellschaftliche Vermittlung eines „Gesetzes überhaupt“ mit deren von jeglichem sinnlichen Inhalt „befreiten“ Willen, welche eine solch existentielle Bedrohung hervorruft. In der Abstraktion von jeglichem Inhalt verbleibt dem so gestalteten Willen nämlich kein anderes Gegenüber als die dunkle und irrationale Rückseite der eigenen Konstitution. Jenseits der scheinbar intelligibel verbürgten Synthesis der Ratio droht das Chaos und die Auflösung (4). Und vor dieser, die bürgerliche Vernunft umhüllenden Bedrohung, gilt es sich zu retten. Je stärker und enger sich das moderne Subjekt auf den reinen, von allen Inhalten entblößten Willen, den Kantschen „Willen überhaupt“ stützt, desto größer auch die Gefahr der Ohnmacht gegenüber dem „Abgrund“. Die Hybris dieses von den Nationalsozialisten tatsächlich verwirklichten Willens ist die Annahme, die eigene Irrationalität im Juden vernichten zu können. Der scheinbar souveräne Akt der Feindbestimmung transformiert den Feind, der also immer im „eigenen“ Land, d.h im eigenen Selbst steht, in eine äußere Bedrohung. Der von jedem Inhalt gereinigte Wille versucht der ohnmächtigen Lage seines irrationalen Gegenübers durch Projektion Herr zu werden und sich einen Feind zu definieren, der weniger zu bekämpfen als zu vernichten ist.

Für den Erhalt der eigenen Art und Volks-Gemeinschaft scheint also die Negation des Anderen konstitutiv. Schmitt formuliert schon 1932 das Ziel der nationalsozialistischen Kriegsführung: die Vernichtung der Juden, um die eigene „seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“ Gerade in der begrifflichen Bestimmung der Freund-Feind-Konstellation als Kern des Politischen macht Schmitt also klar, dass der eigene scheinbare Existenzkampf nicht etwas der Rechtsform Äußerliches darstellt. Carl Schmitts Politische Theorie ist infam, genauso infam wie die Verhältnisse, die sie affirmiert. Sein antisemitischer Inhalt ist nicht eine Verirrung, sondern hat Methode.

Positivismus oder die Kritik der Totalität ist totalitär

Dass Agamben die ganze Ebene des Irrationalen und damit des Antisemitismus der Rechtsform unbeleuchtet lässt, hängt wohl, wie schon erwähnt, mit der eindimensionalen Reflektion im Horizont der foucaultschen Biopolitik zusammen. Das nichtpositivistische Begreifen der Moderne als durch ein verheerendes einheitliches Prinzip des Rechts konstituiert, führt ihn allerdings über den verkürzten Politik- und Regierungsbegriff Foucaults („Gouvernementalität“) hinaus. Dem Positivismus im Allgemeinen und dem „fröhlichen“ im Besonderen ist diese notwendige Ebene der Kritik per se verschlossen. Ganz der Buntscheckigkeit der Oberfläche verfallen sind es immer nur die mehr oder weniger bewussten Willensäußerungen von Subjekten oder Nicht-Subjekten, die das gesellschaftliche Geschehen produzieren. Jeder Ansatz, der dagegen Gesellschaft nicht in den lokalen und pluralen Praktiken situiert, verfällt dem Verdikt, antiquiert oder gar totalitär zu sein.

Der Positivismus verfügt bekanntlich über kein Unterscheidungskriterium zwischen einheitlicher Form und dem damit verbundenen Inhalt. Dass beispielsweise Rousseaus Philosophie totalitär ist, ergibt sich eben nicht – wie die PositivistInnen meinen – aus einem repressiven politischen und damit inhaltlichen Programm, sondern aus den Zumutungen der gesellschaftlichen Formkonstitution, die er, rein affirmativ, im Begriff des „Allgemeinwillens“ entwickelt (6). Aus diesem zentralen Defizit der Differenzierungsfähigkeit von Form und Inhalt scheinen andere wie von selbst zu folgen. In einer Rezension zum „Homo sacer“ gibt Astrid Deuber-Mankovsky einen kleinen Einblick in die Vielfalt – oder sollte man sagen Einfalt? – positivistischen Verkennens. So wird Agambens Kritik wie selbstverständlich in die Tradition des Totalitarismus gestellt und sein kritisches Festhalten der gewaltförmigen Grundkonstitution zum eigentlichen Problem stilisiert. Die kritische Reflexion des Gewaltkerns, wird verkehrt zum Kern der Gewalt. Dabei ist es auch schon gleichgültig, ob in kritischer (Agamben) oder rein affirmativer (Rousseau) Absicht versucht wird, gesellschaftliche Praxis in ihrer Formkonstituiertheit zu bestimmen. „Die agambensche Philosophie verspricht also eine Sicht der Welt aus der Perspektive der Extremsituation, die zur Regel geworden sei … Eine Philosophie in diesem Sinn löscht die Differenzen, statt ihnen gerecht zu werden. Sie wird gewalttätig“ (Deuber-Mankowsky, S. 97). Nun, was soll man mit einer Argumentation anfangen, die eine negatorische Kritik der Verhältnisse nicht von einer positiven Fundierung derselben zu unterscheiden weiß? Wenn der positivistische Verstand unumwunden zugibt, nicht mehr zwei und zwei zusammenzählen zu können, so darf man getrost mehr als nur geistige Unzulänglichkeit dahinter vermuten. Es nützt einem solchen Standpunkt nichts, wenn argumentiert wird. Nicht nur, dass die Arbeit Agambens eine radikale Infragestellung zentraler Kategorien darstellt, deren Gehalt doch allen Verfechtern von Freiheit, Gleichheit und Ausnahmezustand so ans Herz gewachsen sind und deshalb massive Gegenfeuer auslöst. Es ist nicht nur das ungehobelte westliche Werte-Brett vor dem Kopf, das den Positivismus vor einem adäquaten Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit schützt, sondern der Grund liegt vielmehr in der eigenen theoretisch-sterilen Selbstvergatterung.

„Nun überträgt Agamben die Souveräntitätstheorie von Schmitt auf sein Konzept einer <ursprünglich politischen Beziehung>, die nach seiner Auffassung der gesamten abendländischen Geschichte zugrunde liegt. Damit schreibt er Schmitts Theorie der Souveränität als Konstituens der abendländischen Geschichte fest. So ist es kein Wunder, dass auch in Agambens Konzept der demokratische Rechtsstaat zum Feind gerät, den es, und darin folgt er wieder (wider Willen?) Schmitt, zur Rettung des Politischen zu überwinden gelte“ (Deuber-Mankowsky, S.100). „Agamben universalisiert jenen exklusiven Begriff des Rechts, den Schmitt in den dreißiger Jahren als Wesen des deutschen Rechts entworfen … hatte“ (ebd., S.101). Agamben hat seine Hand ans Heiligste gelegt und entsprechend ist die Reaktion. Wer die Totalität benennt, ist totalitär. Das Recht ist eben nicht sacer, sondern sakrosankt. So wird der Souveräntitätsbegriff, den Agamben zutreffenderweise kritisch gegen die moderne politische Konstitution insgesamt wendet, als ausschließlich deutsche Theorie entsorgt. Den Totalitarismus unterstützen jene, die ihn benennen. Und da die Differenz von Kritik und Affirmation auch schon egal ist, kann man Agamben getrost auf die gleiche Seite wie den Nazi-Theoretiker Carl Schmitt stellen, um ihm dann den blinden Prozess des positivistischen Pluralitäts-Geseiches zu machen. Solch eine Theorie ist nicht nur nicht ganz bei Trost.

Es hat fast schon etwas Tragisch-Komisches wie Deuber-Mankovsky immer wieder an den zugenagelten Brettern des Positivismus kratzt und beispielsweise den Begriff der gesellschaftlichen Realvermittlung als totalitäre Marotte subjektivistisch missversteht. So meint sie mit Agambens von Benjamin übernommener Figur des für die Regel wichtigen Extrems ein Beispiel dafür zu finden, „wie das Denken im Ausnahmefall funktioniert und wohin es führt. So verspricht die Orientierung am Extrem höchste Konkretion und führt doch, wie die pauschalisiernde Verallgemeinerung, wir seien potentiell alle homines sacri deutlich macht, in die reine und leere Abstraktion“ (ebd., S.107). So etwas Ungeheuerliches wie eine „reine und leere Abstraktion“ ist für den positivistischen Verstand nur als subjektivistisches Konstrukt denkbar und nicht als allgemeines gesellschaftliches Vermittlungsprinzip. Was das positivistische Denken nun eben gar nicht verstehen kann, auch wenn er es vielleicht wollte, ist das Problem der Fetischkonstitution. Will man dem Positivismus das Phänomen staatlicher Souveränität nicht als Oberflächenphänomen von widerstreitenden Kräften begreiflich machen, sondern als Formkonstitution, könnte man ebenso einem Schienenfahrzeug etwas über das Fliegen erzählen oder gar dem Kantschen Bratenwender etwas über Realmetaphysik. Agamben gebührt der Verdienst den positivistisch verkürzten Ansatz der Biopolitik entscheidend erweitert zu haben. Nur so kann eine kritische Theorie der Gesellschaft überhaupt wieder eine emanzipative Perspektive gewinnen.

Anmerkungen

(1) Foucault bestimmt Biopolitik als einen Pol, mit der die „Macht“ das „Leben“ reguliert (siehe Foucault, 1983). Neben den Disziplinartechniken, die sich auf den Körper beziehen und in Schulen, Internaten, Kasernen und Fabriken manifest werden, drückt sich die „Macht“ auch in den Formen der „Bio-Politik der Bevölkerung“ aus, wie Regulierung der „Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit“ usw. (ebd.)

(2) Siehe den Aufsatz von M. Foucault, in Bröckling u.a.(2000)

(3) Siehe Lemke, 29

(4) Siehe meinen Artikel in Krisis 26

(5) Siehe dazu auch den Artikel von Ernst Lohoff in diesem Heft.

(6) Siehe dazu Peter Kleins Artikel „Das Wesen des Rechts“, in: Krisis 24

Literatur

Agamben, Giorgio (2002, zuerst 1995): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackt Leben; Frankfurt am Main.

Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze; Frankfurt am Main.

Böhme, Hartmut/ Böhme, Gernot (1983): Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants; Frankfurt am Main.

Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen; Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I; Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975-76); Frankfurt am Main.

Deuber, Mankowsky (2002): Homo sacer, das bloße Leben und das Lager; in: Die Philosophin 25/2002, Forum für feministische Theorie und Philosophie.

Kant, Immanuel (1998, zuerst 1789): Kritik der praktischen Vernunft (KpV), in: Werke

Bd IV, Darmstadt.

Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität; Berlin und Hamburg.

Schmitt, Carl (1987, zuerst 1932): Der Begriff des Politischen, Berlin.


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