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Muss sein?! Muss bleiben?!

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S. 247 – 250

Lose Skizzen zum Arbeitswahn in der Arbeitsgesellschaft

von Franz Schandl

Als meine 1893 geborene Großmutter sich fast hundert Jahre später, im Mai 1991, zum Sterben hinlegte, gab sie uns einen Text, den sie unbedingt auf ihre Parte gedruckt sehen wollte. Omas Nachruf auf sie (und sie war da beileibe nicht die Einzige) ging so: »Still und einfach war dein Leben/treu und liebvoll tätig deine Hand/immer helfen war dein Streben/Ruhe hast du nie gekannt.« Selbstverständlich erfüllte sich ihr Wunsch. Auch der Kaplan hielt sich in der Totenmesse ganz an Großmutters Regie: »Arbeit ist ihr das Wichtigste gewesen«, sagte er. »In der Arbeit fand sie Erfüllung«, etc.

Meine Großmutter. Aufgewachsen in armen Kleinhäusler-Verhältnissen, bei Zieheltern, jahrelang gezwungen, sich als Bauersmagd (›Herrendienst‹ nannte sich das) zu verdingen, kannte die robuste Frau, die als einziges ihrer vielen Geschwister überlebte, tatsächlich nur eines: Arbeit. Selbst der ›richtige‹ Herrgott war ihr nichts gegen den wirklichen. Für die jungen »Menscher«, d.h. Frauen unter siebzig, hatte sie meist nur Verachtung über, denn »die wissen ja gar nicht, was Arbeit ist«. Mit fortgeschrittenem Alter war aus der einstmals sehr strengen Frau eine durchaus liebenswürdige Oma geworden. Mein Vater und vor allem seine ältere Schwester wissen von ihr aber auch weniger anheimelnde Geschichten zu erzählen.

Ohne Arbeit konnte und wollte sie nie sein. Muss sein. Muss bleiben. Gab es mal nichts zu tun, ihr fiel stets was ein. Sie definierte sich über ihre Betriebsamkeit, ja hielt es ohne sie gar nicht aus. Sie hätte eben ›Ameisen im Arsch‹, meinten einige Leute. Selbst im fortgeschrittenen Alter, ja in Zeiten, wo es für sie schon Hilflosenzuschuss gab, drängte sie sich immer wieder vor, ein letztes Mal, da war sie schon weit überneunzig, als sie in fürsorglichem Übereifer meinem Vater in die Kreissäge griff. Aber ihre Verletzungen hielten sich in Grenzen, und die Wunden verheilten überraschenderweise schnell. Den Spruch für ihre Parte, den hatte sie schon Jahre vorher aufgeschrieben, im Pensionistenkalender oder auf losen Zetteln notiert und in ihrer Groschenschachtel hinterlegt. Nicht nur ein Mal, sondern einige Male. Das Motto durfte nicht verloren gehen.

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Die neuen Hiobsbotschaften der Arbeit sind die alten. Arbeit hat Freude, nicht Leid zu sein. Und sollte sie trotzdem Leid sein, hat man eben dieses als jenes zu halluzinieren. So wendet sich etwa Barbara Prammer, einstmals Frauenministerin, inzwischen nur noch Frauenvorsitzende der SPÖ, in einem Interview eindeutig gegen den im alten Programm der SPÖ (von 1978) verwandten Begriff des ›Arbeitsleids‹. »Ich habe kein gutes Gewissen dabei, wenn man von der Arbeit so herablassend redet und sie so gering schätzt. Ich verwahre mich gegen diesen Begriff Arbeitsleid«, sagt sie (Die Presse, 27. Dezember 1997). Man dürfe die Arbeit nicht mies machen, Arbeit schließlich zeichne den Menschen aus: »Es hat sich in der Geschichte nie verändert, dass sich die Menschen über ihre Erwerbstätigkeit definieren.«

Der Mensch ist also das animal laborans, er ist kein Individuum, er ist die Charaktermaske seiner Rolle. So war das immer. So hat das zu sein. Muss sein. Muss bleiben. Ob die Arbeit nun mies ist oder nicht, eines darf sie auf jeden Fall nicht: mies gemacht werden. Schließlich kann man sich heute glücklich schätzen, überhaupt eine zu haben.

Arbeiten, das meint Lust am Leiden. Es gilt, das leiden zu können, was einen leiden lässt. Und selbst in Zeiten, wo die Arbeit immer weniger versorgt, aber immer entschiedener sich entsorgt, schreien die Süchtigen nach Stoff. Wir verschicken dutzende Bewerbungsschreiben, wir fahren unzählige Kilometer, wir lassen uns in den unmöglichsten Dingen ausbilden. Hauptsache Arbeit.

Arbeitswahn ist kennzeichnend für ein gesellschaftliches Verhältnis, wo alles an, über oder durch die Arbeit definiert und gemessen wird. Arbeitswahn meint weiters aber auch einen Wahn an den Gestaden einer Endzeit. Alle rasen auf den Abgrund zu und treiben sich gegenseitig mit dem Versprechen an, dass, wer am schnellsten, verschlagensten und flexibelsten ist, als erstes den geheiligten Arbeitsplatz erreicht oder den angebeteten Auftrag bekommt. Das beweisen auch alle einschlägigen Fallstudien. Und so drängt die Herde und wird zur Horde im Konkurrenzkampf, der sich als ewig missversteht und doch nichts anderes ist als der Furz von gestern, der zwar nicht vergehen will, aber sich doch fortwährend verirrt.

Die Jagd nach Arbeit ist die Jagd auf etwas Verschwindendes. Wird sie jedoch weniger und immer weniger können sie erheischen, dann muss die Konkurrenz immer irrer werden und die Konkurrenten sich dementsprechend irrer aufführen. Das tun sie auch. Die kannibalistische Orgie und die entsicherte Kommunikation sind Folgen dieser Entwicklung.

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Nicht ›Allen soll es so gut wie möglich gehen‹ steht an, nein: ›Denen soll’s auch nicht besser gehen als uns.‹ Aus den Leidgenossen werden Neidgenossen, die nicht mehr ihr eigenes Unwohlsein beseitigen, sondern den anderen dieses geradezu schmackhaft machen wollen. Ganze Gesellschaften diskutieren nicht die Ausweitung ihrer materiellen und ideellen Möglichkeiten, sie diskutieren ernsthaft, wem sie jetzt wo was wegschneiden müssen. Das ist schon ein richtiger Volkssport geworden. Nicht Gönner sind wir, sondern Missgönner.

Wer seine eigene Haut nicht zu retten versteht, ist sowieso nicht zu retten, auch wenn die eigene Rettung den Untergang noch so vieler ausgeschalteter Konkurrenten nach sich zieht. So ist das Leben. Muss sein. Muss bleiben. Nur die Harten kommen durch.

»Die Arbeit bleibt hart!« ließ der niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll vor den letzten Landtagswahlen im Frühjahr 2003 flächendeckend plakatieren. Es ist wirklich Härte, die uns entgegengebracht wird und die wir selbst anwenden sollen. Hart sollen wir sein im Austeilen wie im Einstecken. Verhärten sollen wir an den Zuständen, die man uns aufherrscht und die wir zu reproduzieren haben.

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Arbeit, die hohe Braut, liegt gleich Schneewittchen im gläsernen Sarg. Und alle Zwerge in Gewerkschaften und Parteien, Wirtschaft und Wissenschaft warten auf den Prinzen, der die Tote wach küsst. Doch mehr als eine Leichenvergiftung kann man sich dort nicht mehr holen. Da wird eher aus Großmuttern Schneewittchen, als dass die erweckte Prinzessin viele kleine Arbeitskräfte wirft. Aber man muss nur fest dran glauben.

Nicht das fällige Leichenbegängnis findet statt, nein, ein Leichenverdrängnis der irrsten Sorte beherrscht die Gesellschaft. Es stinkt an allen Ecken, doch niemand darf es riechen. Dass die Erlösung nicht durch die Arbeit stattfindet, sondern von ihr, das darf nicht in die Köpfe. So schütteln sich alle im Leichenfieber, befehlen sich Illusionen und Motivationen, die weder greifen noch begreifen.

Wenn die Realität nicht spurt, muss die Ideologie es halt richten. »Das Hohelied der Arbeit wird das politische Leitmotiv«, schrieb der Wiener Kurier bereits zur Jahreswende 1997/98. »Wir wollen Arbeit!«, fordert die Klasse G2 der Polytechnichen Schule in der Wiener Benedikt Schellinger-Gasse. Arbeit statt Profite, lallt irgendein traditionssozialistisches Blatt.

Muss sein. Muss bleiben. Arbeit wird so verstanden als das Unhintergehbare, das Unhinterfragbare, das Unvermeidliche. Die allgemein akzeptierte Blendung meint: Arbeit kann nicht nicht gedachtwerden.

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Muss sein? Muss bleiben? – Aber woher denn. Es ist eines dieser Volksvorurteile, mit denen es im Interesse aller Menschen aufzuräumen gilt. Emanzipation ist jenseits der Arbeit . Niemand braucht „Ameisen im Arsch“ oder gar welche im Hirn. Lasst uns also darüber reden, was gutes Leben bedeuten soll: Genuss, Liebe, Zufriedenheit, Wohlversorgtheit. Erfüllung. – Muss werden.


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