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Wind des Südens

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S. 191 – 211)

Funken eines nicht-entfremdeten Bewusstseins inmitten des argentinischen Zusammenbruchs

versão em português [1]

Marco Fernandes

Der argentinische Kapitalismus liegt am Boden. Beinahe zehn Jahre lang hatte sich Carlos Menem, der ehemalige Präsident Argentiniens, als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds gebärdet: Er koppelte den argentinischen Peso an den US-Dollar, privatisierte in großem Stil staatliche Betriebe, baute Einfuhrbeschränkungen ab, strich die Zahl der Staatsbediensteten radikal zusammen und dergleichen mehr. Dank der künstlichen Parität von Peso und Dollar hatte die Kaufkraft der Mittelschicht quasi über Nacht zugenommen. Nach dem Motto ›Was kostet die Welt?‹ konnte sie sich nun endlich lang gehegte Konsumträume erfüllen und dankte dies ihrem Präsidenten mit politischer Unterstützung. Und während Michel Camdessus, der damalige Direktor des IWF, der Regierung ein Loblied sang und Argentinien dem Rest der Welt als Modell eines modernen Staats empfahl, wähnte die herrschende Klasse sich bereits auf dem Weg in den exklusiven Club der Länder der Ersten Welt.

Als Menem dann abtrat, überließ er es seinem Nachfolger Fernando de la Rúa, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Gewählt, um das Land aus der Rezession zu führen, die die argentinische Wirtschaft seit 1998 lähmte, wird de la Rúa stattdessen als der Präsident, der von der Bevölkerung aus dem Amt gejagt wurde, in die Geschichte eingehen. Seine letzte Amtshandlung sollte sich als politischer Selbstmord erweisen. Eine Abwertung des Peso hatte zu einem Ansturm auf die Banken geführt. Um den endgültigen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern, verfügte er, die Konten der Mittel- und Oberschicht zu sperren. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die aufgebrachte Mittelschicht schloss sich den wütenden Protesten der Arbeitslosen an, die am 19. und 20. Dezember 2001 die Straßen beherrschten. Das Bild, das von de la Rúa bleiben wird, ist das seiner Flucht. Per Hubschrauber musste er die Casa Rosada, den Sitz des argentinischen Präsidenten, verlassen, um dem Zorn der Massen zu entkommen.

Der Konsumrausch, der beinahe ein Jahrzehnt angehalten hatte, endete in einer gewaltigen Katerstimmung und einer gesellschaftlichen Krise, wie es sie in der Geschichte der argentinischen Republik noch nicht gegeben hat. Auf geradezu idealtypische Weise versinnbildlicht das Land die Krise der Arbeitsgesellschaft. Von den 14 Millionen, die den wirtschaftlich aktiven Teil der Bevölkerung ausmachen, sind heute 2,4 Millionen arbeitslos, weitere zwei Millionen beziehen Arbeitslosengeld und fast drei Millionen sind im öffentlichen Dienst angestellt. Von den sieben Millionen in der Privatwirtschaft Beschäftigten gelten ca. 20 % als ›unterbeschäftigt‹. Der Realwert der Einkommen ist auf das Niveau der 1940er Jahre abgesunken. Die Arbeitslosigkeit ist nur deswegen nicht noch höher, weil seit dem Jahr 2000 mehr als 260.000 Argentinier ausgewandert sind. Um eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Migrationsbewegung zu bekommen, muss man sich vergegenwärtigen, dass in den Jahren der blutigen Militärdiktatur (1976-83) nicht einmal 40.000 Menschen das Land verlassen haben. Selbst nach den offiziellen Angaben der Regierung leben heute von 37 Millionen Argentiniern 21 Millionen unterhalb der Armutsgrenze. Das Ausmaß der Tragödie ist nur deshalb nicht noch größer, weil die Regierung, eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung fürchtend, das Staatssäckel ein wenig aufgeschnürt hat, um den Prozess der absoluten Verelendung zu bremsen. Mehr als zwei Millionen Familien beziehen 150 Pesos aus einem Hilfsprogramm für ›Haushaltsvorstände‹. Kaum mehr als ein Almosen, das nicht einmal ausreicht, um die Grundbedürfnisse einer einzigen Person zu decken. Noch vor einigen Jahren war ein solches Szenario völlig unvorstellbar. In den 70er Jahren war Argentinien ein Land, in dem 75 % der Bevölkerung zur so genannten Mittelschicht zählten. Die wirtschaftliche Katastrophe der letzten Jahre hat diesen Anteil auf 30 % schrumpfen lassen.

Auf den Straßen von Buenos Aires sind die Zeichen der Krise allgegenwärtig. In der U-Bahn versuchen Kinder, manchmal gerade 4 Jahre alt, und arbeitslose Erwachsene alles zu verkaufen, was sich irgendwie zu Geld machen lässt. Schier endlose Schlangen bilden sich dort, wo man eine Mahlzeit umsonst bekommen kann. Die vom Markt Ausgeschlossenen im Kampf um die letzten Brosamen, die die Wirtschaft für sie bereit hält. Nachts durchstöbern Zehntausende, ein Heer von Cartoneros, den Müll nach Pappe und Papier. An den Recycling-Stationen kauft man ihnen den Wertstoff für ein besseres Trinkgeld ab. Noch vor wenigen Jahren machten das nur einige der Jüngeren unter den Arbeitslosen, doch heute streifen ganze Familien durch die Straßen der Hauptstadt, um nicht Hungers zu sterben.

Nur an wenigen Orten der Stadt lassen sich die Folgen der Wirtschaftspolitik der 90er Jahre so gut beobachten wie in Puerto Madero. Früher ein heruntergekommenes Hafenviertel, sollte es nach dem Vorbild der Hafenregion von San Francisco in Kalifornien saniert werden. Zig Millionen Dollar wurden in architektonisch gewagte Bürobauten investiert, um vor allem große Unternehmen anzusiedeln. Daneben waren Hotels, Restaurants und Geschäfte der gehobenen Preisklasse für wohlhabende Touristen vorgesehen. Yachten, für die in einem kleinen Fluss Ankerplätze geschaffen wurden, sollten dem Ort eine extravagante Atmosphäre verleihen und das Bild der Symbiose von Geschäft und Freizeit abrunden.

Da jedoch die Entwicklung der argentinischen Wirtschaft nicht so ruhig verlief, wie die dunklen Wasser des Rio de la Plata dahin fließen, blieb das Projekt unvollendet. Dem Betrachter bietet sich nunmehr ein bizarres Bild: Neben hypermodernen Gebäuden und millionenschweren Yachten stehen die noch nicht abgerissenen Überreste ehemaliger Fabriken, halbfertige Rohbauten und vor sich hin rostende Kräne. Ein Bild mit Symbolkraft für das Schicksal der peripheren Länder des kapitalistischen Systems. Die herrschende Klasse versucht, jeden wirtschaftlichen Aufschwung für eine Modernisierung zu nutzen. Da sich in diesem Teil der Welt der Geldhahn der internationalen Kredite jedoch ebenso schnell wieder schließt, wie er sich öffnete, werden ihre Pläne regelmäßig zu Makulatur und sie ist gezwungen, weiterhin mit jenen Ruinen zu leben, von denen sie sich befreien wollte.

In einigen dieser Ruinen sammeln sich heute Zehntausende Argentinier, um sich gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Die Institutionen eines gescheiterten Systems haben sich als unfähig erwiesen, die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Als Antwort darauf haben sich in den letzten Jahren unzählige Organisationen gebildet, die dies in die eigene Hand nehmen wollen. In der Peripherie der großen Städte haben sich Tausende von Arbeitslosen zu einer Bewegung der so genannten Piketeros zusammengeschlossen, die dem Staat die Stirn bietet und das Leben in den Stadtvierteln mehr und mehr in eigener Regie organisiert. Ähnliches gilt für die Stadtteilversammlungen vor allem in den Vierteln der Mittelschicht.

In den letzten vier Jahren ist die Wirtschaftsleistung um 20 % geschrumpft, mehr als 4.000 Fabriken haben ihre Tore geschlossen. Tausende von Arbeitern wollten jedoch die drohende Arbeitslosigkeit nicht einfach hinnehmen. Anstatt die Reihen der industriellen Reservearmee aufzufüllen, haben sie sich entschlossen, mit dem Tabu des Privateigentums zu brechen und die Produktion in den von ihren Besitzern aufgegebenen Fabriken selbständig wieder aufzunehmen. ›Besetzen, um zu produzieren‹ lautet eine ihrer Parolen.

Die Produktionsmittel kontrollieren

Es ist momentan noch sehr schwer, ein genaues Bild der Umwälzungen, die sich in den letzten Jahren in den besetzten Fabriken ereignet haben, zu zeichnen. Es handelt sich um ein neues Phänomen, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Bislang hat sich erst eine wissenschaftliche Studie genauer mit der Situation in den Fabriken auseinander gesetzt. Diese Studie wurde von Gabriel Fajn, der an der Universität von Buenos Aires ein Team von Wissenschaftlern um sich sammelte, durchgeführt. Allerdings konnten in der Studie nur die ersten 87 besetzten Fabriken berücksichtigt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass sich heute ca. 180 Fabriken im ganzen Land in der Hand der Arbeiter und Arbeiterinnen befinden. Das bedeutet, dass mehr als 10.000 Arbeiter und Arbeiterinnen heute in selbstverwalteten Betrieben arbeiten. (In Brasilien wird die Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen, die in selbstverwalteten Betrieben arbeiten, auf 30.000 geschätzt. Immer mehr von ihnen organisieren sich in der Associação Nacional dos Trabalhadores de Empresas de Autogestão ANTEAG – Nationale Vereinigung der Arbeiter aus selbstverwalteten Fabriken. Aber das ist eine andere Geschichte…)

Fajn zufolge sind 80 % der 87 von ihnen untersuchten Fabriken als klein zu bezeichnen. Sie weisen im Schnitt eine Belegschaft von 38 Arbeitern auf. Lediglich in einem Fünftel der Fabriken arbeiten durchschnittlich mehr als 100 Arbeiter. Es handelt sich dabei um Fabriken, die in ihrer Mehrheit noch nach dem fordistisch-tayloristischen Schema arbeiten. Nur in wenigen sind ›fortgeschrittene‹, so genannte toyotistische Produktionsmethoden anzutreffen. Schaut man auf die Produktionskapazitäten, lässt sich feststellen, dass die besetzten Betriebe ihre Kapazität im Schnitt zu 52 % ausschöpfen. Beim größeren Teil der Betriebe lag dieser Wert um die 40 %. Andererseits haben sieben von zehn Betrieben das Produktionsniveau aus der Zeit vor der Besetzung erreicht oder sogar übertroffen. In Bezug auf die Gehälter ergab die Untersuchung, dass sie in 16 % der Fälle auf demselben Niveau geblieben sind. Bei 31 % der Unternehmen sind sie gestiegen und bei 52 % gefallen. Um diese Zahlen einordnen zu können, muss man berücksichtigen, dass in vielen Fabriken auch leitende Angestellte und Mitglieder der Geschäftsleitung weiterhin arbeiten. Deren Bezüge sind in der Regel stark gefallen, während die der einfachen Arbeiter in der gleichen Fabrik tendenziell gestiegen sind. Es gibt auch Ausnahmen wie z.B. die Stahlhütte Union y Fuerza. Dort hat man es in einem Zeitraum von zwei Jahren geschafft, sämtliche Schulden zu begleichen, einen Hochofen für 90.000 Pesos zu kaufen und einen Kupfervorrat von 140 Tonnen anzulegen. Die Gehälter haben sich im gleichen Zeitraum beinahe vervierfacht.

An den Arbeitszeiten hat sich nicht viel geändert. In der Regel hat man an einem Arbeitstag von acht Stunden festgehalten, in einigen Fällen blieb man auch darunter, etwa bei Brukman in Buenos Aires, wo die Arbeitszeit durchschnittlich um zwei Stunden pro Tag reduziert wurde. Insbesondere interessierten sich die Forscher für die Gefahr der Selbstausbeutung als Folge der Selbstverwaltung. Der Großteil der Fabriken hat jedoch die Produktion zurückgefahren. Aber auch in den Betrieben, wo sie erhöht wurde, konnte keine Zunahme der Ausbeutung der Arbeitskraft festgestellt werden. Dies mag daran liegen, dass in 90 % der Fälle die innerbetrieblichen Hierarchien abgebaut wurden. Alles wird auf Betriebsversammlungen entschieden und alle, von der Putzkraft bis zum Vorstand oder dem obersten Koordinator, verdienen das gleiche. Das dürfte das interessanteste Ergebnis der Untersuchung sein, denn es zeigt, dass sich der Fabrikalltag in dem Moment entscheidend ändert, in dem man mit den Versammlungen einen Raum für Diskussionen schafft, eine Möglichkeit für den Austausch von Erfahrungen, für gemeinsame Entscheidungen im Hinblick auf die Produktion sowie für die politische Kommunikation mit anderen Teilen der Gesellschaft.

Fajn kam ferner zu dem Ergebnis, dass in nur einem von vier Fällen eine Übereinkunft zwischen den ehemaligen Chefs und den Beschäftigten erzielt wurde. In den restlichen 75 % der Fälle kam es zu Besetzungen, Straßenprotesten und Konfrontationen mit der Polizei und den ehemaligen Eigentümern. Aus diesem Grund sind auch die Besitzverhältnisse in vielen Fabriken rechtlich noch ungeklärt. In den meisten Fällen hat der Staat zwar einer auf zwei Jahre befristeten Enteignung der Gebäude und der Maschinen zugestimmt, aber es ist völlig offen, was nach Ablauf dieser Frist geschehen wird. Die Arbeiter kämpfen darum, als Eigentümer der Fabriken anerkannt zu werden. Die immensen Schulden, die von den alten Besitzern angehäuft wurden und die sich auf Hunderte Millionen von Pesos belaufen, stärken dabei ihre Position. Der größere Teil dieser Schulden setzt sich aus ausstehenden Gehältern und nicht geleisteten Sozialabgaben zusammen, aber auch Steuern und nicht bezahlte Strom-, Wasser- und Gasrechnungen schlagen zu Buche. Es ist jedoch klar, dass der von der peronistischen Bande beherrschte Staat nicht bereit sein wird, gegenüber den Arbeitern die gleiche Großzügigkeit walten zu lassen, die er immer dann zeigt, wenn es gilt, Unternehmern Millionenkredite zu bewilligen oder Steuerschulden zu erlassen. Zudem hatten zahlreiche Unternehmer, als sie merkten, dass es wegen der Wirtschaftskrise immer schwieriger wurde die gewünschten Profitraten zu erzielen, eine Strategie verfolgt, die darin bestand, die Fabriken ›auszuschlachten‹. Um ihr privates Vermögen zu retten, wurden Gehälter und Sozialabgaben sowie Gelder für neue Investitionen in spekulative Geschäfte auf den Finanzmärkten umgeleitet. Darin zeigt sich die neue Realität der kapitalistischen Akkumulation: Waren zu verkaufen ist kein gutes Geschäft mehr.

Funken eines nicht-entfremdeten Bewusstseins

Volkswirtschaftlich gesehen sind die besetzten Fabriken (Okupas) noch immer praktisch unbedeutend. Und trotz der beträchtlichen Bandbreite von Produktionssektoren, die an dieser Erfahrung der Selbstverwaltung beteiligt sind, verläuft der Aufbau von Tauschnetzen zwischen diesen Fabriken, von denen alle wirtschaftlich wie politisch profitieren würden, noch immer sehr schleppend. Dennoch zeitigt dieses in der argentinischen Geschichte einmalige Phänomen Folgen, die bedeutsamer sind als die bloße Sicherung von Arbeitsplätzen in den bankrotten Unternehmen. Zugleich wirft es auch viele Fragen auf: Welche Veränderungen sind möglich, wenn die Kontrolle über die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiter übergeht? Was bedeutet es für die Arbeiter, sich nicht mehr den Hierarchien am Arbeitsplatz unterwerfen zu müssen, nicht mehr der Willkür eines Chefs ausgesetzt zu sein, sondern selbst die Verantwortung über die Produktion und über die Kriterien der Verteilung des produzierten Reichtums zu übernehmen? Ist es möglich, selbst wenn die Zwänge der Marktgesetze weiterhin bestehen und objektive Grenzen setzen, einen ›autonomen Raum‹ für die Arbeiter in diesen Fabriken ohne Chef zu denken? Wie wirkt sich schließlich all dies auf die Subjektivität eines Arbeiters aus, der an diesem Erfahrungsprozess beteiligt ist?

Bedenkt man die erschreckenden Ausmaße, die der Stress wegen der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen in den letzten Jahren angenommen hat (Erhöhung der Arbeitszeit, Lohnkürzung, Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes etc.), dann kommt einigen der Erfahrungen die im Rahmen der Selbstverwaltung gemacht werden in politischer Hinsicht eine noch größere Bedeutung zu. Denn hier zeigt sich in der Praxis, dass die materielle Produktion der Gesellschaft anders organisiert werden kann. Gespräche, die ich zu Beginn des Jahre 2003 mit Arbeitern in einigen der besetzten Betriebe führen konnte, machen das deutlich.

Wozu einen Chef? Als ich Ana Maria, die am Empfang der Clínica Junín in Cordoba arbeitet, bitte, ihren Alltag vor der Besetzung der Klinik zu beschreiben, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen:

»Ich kann dir sagen: Früher kam ich hier an, setzte mich hier auf diesen Stuhl«, ihre Worte untermalt sie mit ausdrucksstarken Gesten, »und machte meine Arbeit, den ganzen Tag. Ich hatte kaum Zeit, mal zur Seite zu blicken. Ich habe mich gefühlt, als ob ich in eine Tupperware-Dose eingesperrt sei.« Mit ihren Händen deutet sie ein Plastikbehältnis an, während ihr Kopf unentwegt nach unten gerichtet ist, so, als würde sie arbeiten. »Nach Feierabend«, fährt sie fort, »bin ich dann nach Hause gegangen. Todmüde bin ich in einen Sessel gesunken und habe den Fernseher angemacht. Unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, konnte ich bloß noch vor der Glotze hängen. Und als ob das nicht schon gereicht hätte, mussten wir auch noch das ewige Genörgel des Chefs ertragen. In letzter Zeit haben wir nicht mal mehr unser Gehalt ausgezahlt bekommen.«

In wenigen Worten bringt Ana Maria den Alltag, wie er von der großen Mehrheit der Lohnarbeitenden erfahren wird, auf den Punkt. Einer Arbeitsroutine unterworfen, die in diesen Zeiten der Krise des Kapitals immer aufreibender wird, erleben sie die nicht enden wollenden Stunden am Arbeitsplatz wie einen täglichen Gefängnisaufenthalt. Und die Rückkehr in die eigenen vier Wände, nach langen Stunden der Enteignung von Körper und Geist, bietet nur eine kurze Verschnaufpause, bis der Wecker am nächsten Morgen schmerzhaft an die Gefahr erinnert, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Selbst mit der ›Freizeit‹ kann man kaum etwas anfangen: Nach acht Stunden Arbeit sowie der in den öffentlichen Verkehrsmitteln verbrachten Zeit – in Städten wie São Paulo oder Buenos Aires können das leicht vier bis fünf Stunden sein – bleibt nicht mehr viel übrig, um zu leben. Der während des ganzen Tages ausgelaugte Körper weiß nicht, wo er noch Energie hernehmen soll. Deshalb ist, ›vor der Glotze zu hängen‹, oft das Einzige, was einem zu Hause noch bleibt – und in Lateinamerika sind es nicht wenige, die nicht einmal ein Zuhause haben. Jedoch scheint sich für Ana Maria einiges geändert zu haben, seit sie und ihre Kollegen die Klinik besetzt und die Kontrolle über sie übernommen haben.

Zwar sind die finanziellen Probleme noch immer gewaltig. Die Rechtslage erlaubt noch keine stationären Behandlungen. Außerdem hat sich die Belegschaft der Klinik entschlossen, nur 5 Pesos (1,50 €) pro Sprechstunde zu berechnen, um die Behandlungen für mehr Menschen zugänglich zu machen. Jeder der Beschäftigten der Klinik erhält deshalb ein monatliches Gehalt von ungefähr 200 Pesos, nur wenig mehr als das miserable Arbeitslosengeld und in keiner Weise ausreichend, um die monatlichen Ausgaben eines Menschen zu decken. Nachdem sie dies in sehr ernstem Ton erzählt hat, hält Ana Maria für einige Momente inne, wie jemand, der kühl die eigenen Worte abwägt. Dann diese Einsicht:

»Weißt du was? Es ist alles sehr, sehr schwierig hier. Das ist wahr. Manchmal möchte man einfach alles hinschmeißen… Aber eins ist sicher: Kein Geld der Welt kann die Tatsache aufwiegen, dass wir hier keinen Chef mehr haben!«

Das ansteckende Lachen, in das sie gleich darauf ausbricht, lässt niemanden unberührt, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen und sich der Willkür eines Chefs auszusetzen, der in Zeiten, in denen es an Arbeitsstellen mangelt, immer mächtiger wird.

Allgemein erschien die Tatsache, in einem Betrieb ohne Chef zu arbeiten, in den Aussagen als eine unschätzbare Errungenschaft, etwas, auf das man stolz ist und das einen qualitativen Unterschied im so schwierigen Alltag ausmacht. In der Figur des Chefs verdichten sich zweifellos die Zwänge der kapitalistischen Produktion: von der Aneignung des Mehrwerts bis zum Kontrollregime in der Fabrik, von der zwangsweisen Unterordnung unter die Produktionshierarchie bis hinein in die tagtäglich reproduzierten Herrschaftsverhältnissein den persönlichen Beziehungen. Mit dem Verschwinden dieser Figur durch die Besetzung des Betriebs und seine Neuorganisation unter den Bedingungen der Selbstverwaltung gewinnen die Subjekte einen gewissen Grad an Autonomie zurück, die die Unterordnung unter einen Chef und die aufgezwungenen Arbeitsbedingungen ihnen genommen hatte. Dadurch gewinnt ihre alltägliche Tätigkeit eine neue, bisher unbekannte Dimension.

Wiederaneignung von Zeit und Raum und Reorganisation der Arbeitsteilung

Die Kontrolle über Zeit und Raum in einer Fabrik gehört zu den grundlegenden Mechanismen der kapitalistischen Profitproduktion. Ersteres bedeutet, dass die Arbeiter zu den vom Chef festgelegten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend sind und während der Arbeit den vom Unternehmen vorgegebenen Produktionsrhythmus einhalten. Letzteres verlangt, dass jeder in der Fabrik sich nur dem Raum bewegt, der ihm von der Arbeitsteilung zugewiesen wurde, und, wichtiger noch, dass niemand Zugang zu allen Bereichen der Produktion hat, so dass die Arbeiter den Produktionsprozess, in den sie eingebunden sind, in seiner Gesamtheit nicht überschauen können. Um dies sicherzustellen, üben Vorgesetzte und Abteilungsleiter auf dem Fabrikgelände eine Polizeifunktion aus, womit sie den Stress, dem die Arbeiter ausgesetzt sind, noch erheblich steigern.

»Früher musste ich die ganze Zeit hier am Hochofen bleiben. Ich konnte nicht mal in die Nachbarabteilung gehen, um mich mit einem Kollegen zu unterhalten. Sofort kam jemand, um mich zurückzuschicken«, erzählt Angel, ein Arbeiter der Keramikfabrik Zanon. Keine zehn Meter liegen zwischen seinem Arbeitsplatz und der Nachbarabteilung. »Weißt du, hier gab es für alles Vorgesetzte. Ich habe noch nie so viele Vorgesetzte auf einem Haufen gesehen! Und das Schlimmste war, dass sie den ganzen Tag überall herumschnüffelten. Jede Kleinigkeit war ihnen willkommen, um uns zusammenzustauchen. Du kannst dir vorstellen, wie hier die Stimmung war!«

Mit der Selbstverwaltung der Fabriken löste sich auch die rigide Arbeitsteilung des Fordismus auf. In erster Linie lag das daran, dass ein Großteil der leitenden Angestellten und des Verwaltungspersonals nicht bereit war, zu Bedingungen zu arbeiten, die ihnen ihre Privilegien nahmen. Deshalb war eine Neuverteilung der Aufgaben in der Fabrik unumgänglich. Die Tatsache, dass nunmehr die Belegschaftsversammlungen über alle internen Fragen entscheiden können, bedeutet außerdem, dass auch ein Wechsel zwischen verschiedenen Funktionen möglich ist, wenn die Versammlung zustimmt. Darüber berichtet Sérgio, ein Arbeiter der Textilfabrik Brukman :

»Seit wir die Fabrik besetzt haben, haben sich die Dinge in dieser Beziehung ein wenig geändert. Wir haben jetzt mehr Mitsprache bei der Entscheidung, wo wir arbeiten. Ich z.B. arbeite beim Zuschnitt, aber auch in der Verwaltung und manchmal, so wie jetzt, helfe ich im Verkauf aus. Das heißt, wenn jemand etwas anderes machen will, muss er seinen Wunsch nur auf der Betriebsversammlung äußern. Dort wird man dann schauen, ob sich das realisieren lässt. Das läuft hervorragend. Wenn jemand in eine andere Tätigkeit eingearbeitet werden möchte, dann haben wir hier in der Fabrik die Möglichkeit, ihm dies zu ermöglichen. Ist das nicht toll? Die ganze Zeit das gleiche zu machen, kann einem gehörig auf die Nerven gehen. Irgendwann hält man das nicht mehr aus!«

Auch bei der Arbeitszeit gab es ein paar wesentliche Änderungen. Weil in vielen Fällen die Produktion zurückgefahren wurde, konnte auch die Arbeitszeit gekürzt werden. Aber auch dort, wo die Arbeitszeit offiziell nicht verringert wurde, läuft alles etwas geruhsamer ab. Außerdem kommen in einer Fabrik, in der alles gemeinsam entschieden wird, neue Aufgaben hinzu.

»Früher haben wir die acht Stunden am Tag wirklich gearbeitet. Wir hatten kaum Zeit, mal durchzuatmen, weil immer jemand da war, um uns zu beaufsichtigen«, berichtet Rosa, die bei Zanon arbeitet. »Heute ist das anders. Normalerweise arbeiten wir eine Zeit lang. Dann machen wir eine kleine Pause, trinken einen Mate und gehen dann zurück zur Arbeit. So läuft das heute. Ich denke, dass wir so vier bis fünf Stunden pro Tag arbeiten. Da hinten, da ist unser Koordinator,« sie zeigt auf einen älteren Herren, der mit einer der Maschinen beschäftigt ist, »und wir sitzen hier, trinken Tee und unterhalten uns. Außerdem haben wir mit den Betriebs- und Abteilungsversammlungen jetzt noch andere Aufgaben, die auch ziemlich viel Zeit kosten. Aber das ist nicht so anstrengend wie die Arbeit am Fließband.«

Abgesehen davon, dass aufgrund all dieser Veränderungen der permanente und Angst einflößende Druck verschwunden ist, den die Vorgesetzten auf die Arbeiter ausübten (was allein schon eine deutliche Erleichterung der harten Wirklichkeit am Fließband bedeutet), hat auch das Fabrikgelände selbst ganz neue Funktionen der Soziabilität für die Beschäftigen erlangt. Sie haben eine völlig veränderte Beziehung zu einem Raum entwickelt, der früher nicht der ihre war. Auf die Frage nach seinen Eindrücken vom ersten Arbeitstag unter den neuen Bedingungen antwortet Angel:

»Ah, das war ganz eigenartig. Erstmal gab es niemanden, der einen kontrollierte. Ab und zu schaute ich von der Arbeit auf, blickte mich um und sah dass die Kollegen teils konzentriert arbeiteten, teils sich unterhielten. Aber es gab niemanden, der sie oder mich zur Rechenschaft gezogen hätte. Gleichzeitig war mir klar, dass es nun schwieriger werden würde. Es reichte nicht mehr aus, jeden Tag seine Arbeit zu machen und am Ende des Monats den Lohn ausgezahlt zu bekommen – obwohl wir den ja auch nicht mehr bekommen haben. Wir sind jetzt für alles verantwortlich, und auf den Versammlungen müssen alle gemeinsam darüber entscheiden, was gemacht werden soll. Und das ist nicht so leicht. Aber du kannst dir sicher vorstellen, dass sich vieles geändert hat. Wir können uns hier jetzt frei bewegen und nicht nur mit dem Kollegen reden, sondern auch lernen, was er eigentlich macht. Jetzt weiß ich, wie alles hier funktioniert, ich kenne den gesamten Produktionsprozess und ich denke, dass wir vielleicht deshalb jetzt mehr Stolz haben. Wir haben das Gefühl, dass es irgendwie unsere Keramikfabrik ist…«

Es sind nicht wenige hier bei Zanon, die in den letzten Monaten gelernt haben, wie die einzelnen Abteilungen der Fabrik funktionieren. Mit der schrittweisen Sozialisierung des Produktionswissens wird es immer schwieriger, es als Herrschaftsinstrument in den Händen einiger ›Eingeweihter‹ zu konzentrieren. Viele der Beschäftigten sind stolz, den zahlreichen Besuchern jeden Schritt im Produktionsprozess erklären zu können, von der Anlieferung des Tons bis zur Verpackung der Kacheln. Sie versichern, dass die Qualität der Produkte sich verbessert hat. Jetzt, wo ihnen der Betrieb gehört, können sich die Beschäftigten auch neue Formen der Nutzung des Raumes vorstellen, die ihre Beziehung zu ihm verändern.

»Möchtest du etwas sehen, was sich ziemlich verändert hat?«, fragt Sérgio von der Firma Brukman. »Siehst du, wie viele Leute hier noch arbeiten?« Er zeigt in die Fabrik, wo ein Kommen und Gehen herrscht. »Und wie spät ist es?« Ein Blick auf die Uhr. »Es ist fast vier! Um drei ist hier offiziell Feierabend, und noch immer sind hier ein Haufen Leute. Früher war hier um zehn nach drei keine Menschenseele mehr anzutreffen. Außer dem Chef natürlich. Niemand ist auch nur eine Minute länger als nötig geblieben. Heute hat es keiner mehr so eilig. Einige machen noch fertig, womit sie angefangen hatten, andere plaudern, trinken Mate oder warten auf einen Kollegen oder eine Kollegin, um zusammen wegzugehen… Es ist, als ob das hier ein zweites Zuhause wäre. Wir fühlen uns wohl hier. Es gibt sogar Kolleginnen, die ihre Kinder mitbringen, wenn sie niemanden finden, bei dem sie sie lassen können. Das ist kein Problem. Wir wechseln uns ab, und den Kindern gefällt es.«

Nach und nach gewinnt der Raum der Fabrik neue Konturen und hört auf, einem Gefängnis zu gleichen. Die strikte Trennung zwischen der Arbeits- und Privatsphäre beginnt sich aufzulösen, aber nicht in dem Sinne, dass die Arbeitsroutine das Wohnzimmer erobert; vielmehr handelt es sich umgekehrt, wie Sérgio es beschreibt, um die Aneignung eines vormals privaten Raumes, der, indem er einen kollektiven Charakter annimmt, neue Dimensionen im Alltag der Arbeiter und Arbeiterinnen gewinnt. In einigen Fabriken etwa betreiben die Beschäftigten zusammen mit Studenten ›Kulturzentren‹, wo bei freiem Eintritt Filme und Theaterstücke gezeigt und verschiedene Workshops (Theater, Musik, Kunsthandwerk etc.) durchgeführt werden. So entstehen mit der Zeit neue Beziehungen zur Nachbarschaft der Fabrik und zu den Stadtteilversammlungen, was es zugleich auch erleichtert, Unterstützung zu mobilisieren, um der Polizei Widerstand zu leisten oder um die Monate zu überbrücken, in der die Produktion noch stillsteht.

Politisierung und Identität der Unterdrückten

Die Geschichten der Fabrikbesetzungen in Argentinien gleichen einander mehr oder weniger und sie alle haben etwas Heroisches: Monatelang keinen Lohn bekommen und auf die Unterstützung der Familie und der Nachbarn angewiesen sein, rund um die Uhr die Fabrik bewachen, um nicht durch eine Räumungsaktion der Polizei überrascht zu werden, gleichzeitig gegen den Staat und gegen den Chef kämpfen, kollektiv die Wiederaufnahme der Produktion organisieren, um schließlich am eigenen Leib zu erfahren, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn die Beschäftigten die Kontrolle über die Produktionsmittel übernehmen. Sämtliche Aussagen in den Gesprächen zerfallen in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹. Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Stimme ändern sich während der Erzählungen oft, je nachdem über welche Erfahrungen berichtet wird.

Dieselbe Ana Maria, die geschildert hat, wie sie zerschlagen von der Mühsal der Arbeit nach Hause kam und nur noch fähig war, vor der Glotze zu hängen, beschreibt die Änderungen, die sich in ihrem Alltag ergeben haben, mit folgenden Worten:

»Heute ist es anders. Ich komme hier an und arbeite. Wie gesagt: es ist nicht leicht, aber ich bin hier, nehme an den Versammlungen mit den Kollegen teil, gehe zu den Versammlungen bei mir im Viertel, mache bei den Protesten auf der Straße mit. Ich weiß, was im Land vor sich geht. Ich kann mit jedem darüber diskutieren. Ich fühle mich als Teil von etwas Größerem, eines Kollektivs, eines Ganzen.«

So gut wie niemand in den Fabriken hatte vorher mit Politik etwas zu schaffen. Die allgemeine Schwächung der Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten wurde in Argentinien noch durch die buchstäbliche Auslöschung der Linken während der massenmörderischen Militärdiktatur verschärft. 30.000 Menschen sind zwischen 1976 und 1983 ermordet worden. Genau aus diesem Grund bedeutet die mit den aktuellen Erfahrungen einhergehende Politisierung einen radikalen Einschnitt. Dies zeigt sich etwa, wenn Angel darüber spricht, was er früher beim Anblick der Piketeros, der Arbeitslosenbewegung, dachte, die auf der Straße demonstrierten, den Verkehr zum Erliegen brachten und in der Stadt ein ›Chaos‹ anrichteten:

»Das hat mich einfach nur angewidert!« »Aber warum?«, fragte ich vorsichtig. »Weiß nicht. Ich glaube, ich hatte keine Ahnung, was die damit erreichen wollten. Ich dachte: ›Was soll das hier? Warum halten die einen auf, richten ein solches Durcheinander an und stehlen den Leuten ihre Zeit?‹ Ich kannte niemanden, der in der Bewegung aktiv war, und wusste nicht, was da auf dem Spiel stand.« So ernst war Angel während des ganzen Gesprächs nicht gewesen. Er war sich bewusst, dass er einen heiklen Punkt berührte und sich vor einem Fremden eine Blöße geben könnte. Aber er versuchte in keiner Weise, seine Vergangenheit zu kaschieren. »Und wie siehst du das heute?«, fragte ich. »Heute? Heute bin ich es, der piquetes macht und auf der Straße protestiert. Wie gesagt, uns ist klar, dass wir früher oder später einpacken können, wenn wir hier in der Fabrik bleiben. Unser Kampf muss hier in der Fabrik und draußen in der Stadt stattfinden. Und die piquetes gehören zu den besten Formen der Mobilisierung über die wir verfügen.«

Die Erfahrung, die Welt aus der Perspektive eines Arbeitslosen zu erleben, der gezwungen ist, sich zu organisieren und gemeinsam mit anderen für sein Überleben zu kämpfen, hat dazu geführt, dass Angel sich heute mit jenen ›Ruhestörern‹ identifiziert, die er vor ein paar Monaten noch beschimpft hat, und sich damit blind auf den Standpunkt des herrschenden Bewusstseins stellte . Er musste auf die Straße gehen und demonstrieren, die Produktion in der Fabrik neu organisieren, Prügel von der Polizei einstecken und die verächtlichen Blicke der Passanten spüren, die wie er früher von alldem genervt sind, um zu verstehen, ›was auf dem Spiel steht‹. Für Angel ist sein Kampf in der Fabrik antikapitalistisch. Deshalb geht er davon aus, dass die Zukunft nicht einfach sein wird. Auch innerhalb der Betriebe mangelt es in der Regel an Solidarität und Identifikation zwischen den Beschäftigten und den Arbeitslosen. Nicht selten ist das Streben nach sozialem Aufstieg und Distinktion stärker als das Bewusstsein der gleichen sozialen Herkunft und verhindert die Entstehung einer gemeinsamen Identität. Auch das hat sich durch die Erfahrung der Besetzungen geändert, wenigstens im Fall von Gladys, Arbeiterin bei Brukman. Anderthalb Monate vor dem Bankrott war sie entlassen worden, doch nach der Besetzung des Werks durch ihre Kolleginnen und Kollegen holten diese sie zurück. Auch bei ihr verweist das ›Vorher‹ und das ›Nachher‹ auf eine grundlegende Veränderung, die stattgefunden hat:

»Oh je, Marco, so vieles hat sich geändert… Zuerst war es schwierig, mich hier wieder hineinzufinden, denn schließlich müssen wir uns jetzt selbst organisieren, d.h. wir müssen viel mehr miteinander reden, der Dialog ist sehr wichtig. Es reicht nicht mehr aus, hier anzukommen, die Anweisungen entgegenzunehmen, die Arbeit zu erledigen und wieder nach Hause zu gehen. Erst mal gibt es keine Anweisungen mehr, wir entscheiden alles gemeinsam auf den Versammlungen. Früher hatte ich nicht viel zu tun mit den anderen hier. Weißt du?…« »Hattest du keine Freunde hier in der Fabrik?« Ihre Miene verriet mir, dass ich einen wunden Punkt angesprochen hatte. »Ach, ganz wenige. Es ist so…, dass ich mich nicht allzu sehr mit den anderen hier identifiziert habe… Weißt du, ich komme auch aus einfachen Verhältnissen, aber ich hatte die Möglichkeit zu studieren, Kommunikationswissenschaften an der UBA. Meine Freundschaften hatte ich woanders. Die Leute hier, das war eine andere Schicht, wir sprachen nicht die gleiche Sprache, diese Dinge halt… Wir haben uns nie viel miteinander unterhalten. Außerdem hatte ich ein furchtbar hektisches Leben. Den ganzen Tag habe ich hier gearbeitet, und nach Feierabend bin ich so schnell wie möglich raus, um rechtzeitig zu den Vorlesungen an der Uni zu kommen. Für andere Sachen blieb da keine Zeit.« »Aber jetzt, nach alldem, was passiert ist, haben sich die Dinge geändert?«, hakte ich nach. »Auf jeden Fall. Es hat sich viel geändert. Jetzt kenne ich jeden hier und mit vielen bin ich auch befreundet. Sie haben auch mehr Vertrauen zu mir. Ich glaube, für mich war das die wichtigste Veränderung, dass die Beziehung zu den Leuten hier jetzt eine ganz andere ist. Ich fühle mich den anderen mehr verbunden, identifiziere mich mit ihnen. Ich denke, das ist es.«

Die Erfahrung der Fabrikbesetzung hat offensichtlich Menschen, deren Weltsicht in gewisser Hinsicht ›konservativ‹ war, nachhaltig verändert. Sie sind jetzt in der Lage, bestimmte ideologischen Beschränkungen von einst zu erkennen und zu reflektieren und sich mit den Beherrschten, zu denen ja schließlich auch sie selbst zählen, zu identifizieren. Das verweist auf das Ausmaß der individuellen wie kollektiven Politisierung, die mit dem Prozess der Besetzung einhergeht. Die Art, wie die daran beteiligten Personen die Welt um sich herum wahrnehmen und wie sie ihre objektive Position in den Produktionsbeziehungen und ihren Konflikt mit dem Kapital erleben, hat sich geändert. Wie Célia von Brukman sich ausdrückt: »Bis vor ein paar Monaten war ich eine einfache Hausfrau. Heute möchte ich die Welt verändern. Das heißt, für den Aufbau des Sozialismus kämpfen!«

Zanon und die Demerkantilisierung der Produktion

Politisch gesehen stellt die Keramikfabrik Zanon unter allen besetzten Betrieben vielleicht die fortgeschrittenste Erfahrung dar. In seinen goldenen Zeiten kontrollierte Zanon, einst ein riesiger Betrieb, 20 % des argentinischen Keramikmarktes und exportierte in mehr als 30 Länder. Der Umsatz betrug ungefähr 100 Millionen US-Dollar man konnte sich immer auf das Wohlwollen des Staates verlassen, wenn es darum ging, Kredite oder Zuschüsse zu bewilligen. In letzter Zeit war Luigi Zanon unzufrieden mit den Gewinnen, die seine Firma abwarf und tat, was der Großteil der Unternehmer tut: Er fing an, das Unternehmen auszuschlachten, zahlte keine Löhne und Steuern mehr, und transferierte das Geld des Unternehmens in irgendein Steuerparadies, um im Kasino der Finanzmärkte sein Vermögen zu mehren.

Fast ein Jahr dauerte der Kampf der Keramikarbeiter bereits an, als ich die Fabrik zu Beginn des Jahres 2003 besuchte. Es begann mit Forderungen nach mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, nachdem ein junger Arbeiter tödlich verunglückt war. Danach kämpfte man für die Zahlung der noch ausstehenden Löhne und Gehälter und eroberte die Führung der Gewerkschaft, die vorher den Chefs hörig gewesen war. Schließlich kam es zur Fabrikbesetzung. Die neuen Forderungen, die jetzt erhoben werden, zeugen von dem beeindruckenden Niveau der Organisation und des politischen Bewusstseins, das sich im Lauf der Auseinandersetzungen entwickelt hat. Manotas, der von der Betriebsversammlung gewählte Generalkoordinator der Fabrik, erläutert:

»Wir wollen kein kapitalistisches Unternehmen sein wie all die anderen. Wir wollen nicht einfach Keramikprodukte herstellen, diese dann auf dem Markt an zahlungsfähige Kunden verkaufen und die Gewinne daraus einstreichen. Wenn es so wäre, könnten wir hier schon mehr als 800 Pesos verdienen. Aber das ist nicht unser Ziel. Denn uns ist klar, dass wir alleine keine Chance haben. Deshalb fordern wir die Verstaatlichung. Zunächst, weil wir verlangen, dass der Staat die notwendigen Investitionen tätigt, um die Produktion auszubauen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Hauptsächlich aber, weil wir produzieren wollen, um die konkreten Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. D.h. wir möchten unsere Keramikprodukte für öffentliche Schulen und Krankenhäuser, für Sozialwohnungen und Ähnliches herstellen. Wir sehen das im Zusammenhang mit einem Plan für öffentliche Bauvorhaben, der viele Menschen beschäftigen und die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen könnte. Auf diese Weise würden die Gewinne der Fabrik dem gesamten Land zugute kommen.«

Die Keramikarbeiter kämpfen für eine ›Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle‹. Sie machen sich keine Illusionen über eine mögliche Lösung der kapitalistischen Krise durch staatlichen Eingriff; schon deshalb nicht, weil sie im Staat eine Bande von Dieben und Mördern sehen. Neben den noch frischen Erinnerungen an die Militärdiktatur wurde den Arbeiterinnen und Arbeitern im Laufe der Fabrikbesetzung schnell klar, in wessen Interesse der Staat handelt. Die Forderung ist strategisch gemeint. Einerseits soll der Staat für Investitionen sorgen, um die Produktion und die Zahl der Arbeitsplätze zu erhöhen, andererseits, und noch wichtiger, wird es als Schritt in Richtung einer Demerkantilisierung der Produktion verstanden. Anstatt einfach nur Keramikprodukte herzustellen und in der Warenwelt gegen Geld zu tauschen, kämpfen die Arbeiter von Zanon dafür, dass ihre Fabrik den Charakter einer öffentlichen Einrichtung erhält und für öffentliche Gebäude und bedürftige Familien produziert.

Im gegenwärtigen Argentinien ist es schwer vorstellbar, dass der Staat einem solchen Projekt zustimmt. In der Zwischenzeit aber tun die Keramikarbeiterinnen und -arbeiter alles, was in ihrer Kraft steht, um ihrem Ziel näher zu kommen, und reinvestieren ihre Gewinne und die offenen Staatsschulden zugunsten der Allgemeinheit. Vor ein paar Monaten etwa setzte die Provinzregierung von Neuquen den Betrieb unter Druck, die Schulden des ehemaligen Besitzers zu begleichen. Die Besetzer akzeptierten die Forderung, allerdings unter einer Bedingung: die Tilgung müsse in Keramikprodukten und nicht in Geld erfolgen, und sie selbst würden bestimmen, an wen die Produkte gehen. Auf diese Weise konnten einige Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen von der Zahlung profitieren. Andernfalls wäre sie sicherlich in dem Fass ohne Boden der öffentlichen Haushalte verschwunden. Ein weiteres Projekt wird gemeinsam mit dem MTD (Bewegung der arbeitslosen Arbeiter) von Neuquen in Angriff genommen. Die Keramikarbeiter sammeln Geld, um die Errichtung einer Fabrik für Verpackungsmaterial für ihre Produkte zu finanzieren. Es versteht sich, dass die Fabrik von den Arbeitslosen aus der Bewegung selbst geführt werden soll. Auch wenn Zanon die Belegschaft ausbaut, werden bevorzugt die organisierten Arbeitslosen berücksichtigt. Seit Beginn des Jahres 2003 sind 30 Arbeiter neu eingestellt worden. Auf die Hälfte der Stellen haben Mitglieder des MTD Anspruch, die andere Hälfte wird von anderen Organisationen besetzt. Außerdem fließt ein Teil des Gewinns in einen nationalen Streikfonds, damit andere Fabriken die Zeit von der Besetzung bis zur Aufnahme der Produktion überbrücken können. Ein wichtiger Aspekt der Kämpfe ist schließlich, dass die im Betrieb vollzogenen Veränderungen auch eine Außenwirkung entfalten. Die Beschäftigten von Zanon haben Kontakte zu anderen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien der Linken aufgenommen. Sie waren an der Gründung der »Coordinadora del Alto Valle«, einer Art unabhängigen Koordinationsstelle für die politischen Kämpfe in der Region, beteiligt und werden nach und nach zu einem Referenzpunkt in den sozialen Bewegungen.

Laboratorium für den Sozialismus?

Es wäre gewagt, ein allzu weitreichendes Urteil über die Bedeutung der Veränderungen, die sich im Alltag und in der Subjektivität der Besetzerinnen und Besetzer ergeben haben, zu treffen. Die Gespräche, die ich im Januar und Februar 2003 führen konnte, beschränken sich auf die Beschäftigten von drei Fabriken (Zanon, Brukman und Grissinopolis) sowie die Mitarbeiter der Clínica Junin. Es ist jedoch bezeichnend, dass sie alle die stattgefundenen Veränderungen auf sehr ähnliche Weise beschrieben und erlebt haben. (Aus Platzmangel habe ich mich auf Aussagen beschränkt, in denen zentrale Fragen auf den Punkt gebracht werden. Ich konnte aber mit mehr Personen sprechen, als hier zitiert wurden.) Zweifelsohne muss noch mehr empirisches Material gesammelt werden, jedoch überrascht es nicht, dass die Erfahrung der Selbstverwaltung starke subjektive Veränderungen in all jenen bewirkt, die tagtäglich unter der Arbeit (oder deren Fehlen) zu leiden haben.

Richten wir unseren Blick abschließend auf einen Grundpfeiler des Historischen Materialismus: die Theorie der Entfremdung oder der Verdinglichung – ein zentrales Thema bei Lukács, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Debord und anderen Autoren -, welche die perversen Konsequenzen der täglichen Arbeit im Kapitalismus für die Subjektivität der Arbeitenden aufzeigt. Was aber geschieht mit diesen Individuen, wenn die empirischen Bedingungen der Produktion sich verändern, obwohl die Gesellschaft kapitalistisch bleibt? Legt man die zitierten Aussagen zugrunde, könnte man meinen, dass die Theorie der Entfremdung hier eine negative empirische Bestätigung erfährt. Anders ausgedrückt: Einigen grundlegenden Veränderungen im Funktionieren einer Produktionseinheit entsprechen die ›Spuren eines nicht-entfremdeten Bewusstseins‹ der Subjekte. Offenbar kann eine schwerwiegende Krise in der Reproduktion des Kapitals – abgesehen davon, dass sie Elend und Ausgrenzung hervorbringt – bestimmte Elemente des gesellschaftlichen Fetischismus erkennbar machen, die sonst durch die Gravitationsgesetze des Marktes oder durch die schlichte gesellschaftliche Macht des Privateigentums an Produktionsmitteln verdeckt sind.

Diese ›Bewusstseinsspuren‹ scheinen politische Konsequenzen zu zeitigen, die man nicht gering schätzen sollte, wenn man die Überwindung des ›warenproduzierenden Systems‹ anstrebt. Emanzipatorische Bewegungen bedürfen ›antikapitalistischer Subjektivitäten‹, die sie organisieren. Genau diese scheinen in Erfahrungen wie den Okupas zu entstehen. In der Regel fragte ich die Arbeiterinnen und Arbeiter am Ende unserer Unterhaltung, ob es ihnen früher je in den Sinn gekommen wäre, dass man die Produktion in der Fabrik auch ohne Hierarchien und ohne Chefs am Laufen halten könne. Wie zu erwarten, sahen die meisten Antworten wie die von Angel aus:

»Niemals! Nie habe ich gedacht, dass so etwas möglich sein könnte. Ich glaube, niemand hat das für möglich gehalten. Wir haben bei der Planung in unserer Abteilung mitgeholfen und das war’s dann. Sie haben uns eingeredet, dass wir nicht dazu in der Lage wären. Aber hier beweisen wir jeden Tag, dass wir die Produktion kontrollieren können, dass alle Arbeiter dazu in der Lage sind.«

Neben den objektiven Herrschaftsmechanismen wie dem ökonomischen Zwang oder den Waffen der Polizei verfügt der Kapitalismus auch über subjektive Mechanismen, um die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes und die hierarchische Ordnung der täglichen Arbeit, gestützt durch die Zwänge der kapitalistischen Produktion, tragen dazu bei, dass die Subjekte sich für unfähig und ohnmächtig halten, und berauben sie der Fähigkeit, im Namen von Interessen zu sprechen und zu handeln, die denen des Waren produzierenden Systems entgegengesetzt sind. In diesem Sinne kann die Kontrolle über die Mittel der eigenen Subsistenz (auch wenn die Gesetze der Warenproduktion nicht außer Kraft gesetzt sind) eine Art ›Stärkung des Selbstbewusstseins‹ bedeuten, was unabdingbar für die Entstehung von gegengesellschaftlichen ›Keimformen‹ ist, die über die Welt von Ware und Kapital hinausweisen.

Stößt das Kapital an die Grenzen seiner Reproduktion und demonstriert tagtäglich seine Unfähigkeit, die materiellen (und geistigen) Probleme eines immer größeren Teils der Bevölkerung zu lösen, so liefern einige Erfahrungen in den argentinischen Betrieben den praktischen Beweis dafür, dass Fragen wie die nach dem ›Was‹, ›Wie‹ und ›Für wen‹ der Produktion von frei organisierten Individuen beantwortet werden müssen und nicht von den blinden und unkontrollierbaren Gesetzen der Verwertung des Werts. In einem Land, in dem einer Studie der WHO zufolge heute Nahrung für 300 Millionen Menschen produziert wird, ist es ein Verbrechen, dass für über 20 % der Bevölkerung (sieben Millionen) nicht einmal der Zugang zu einer ausreichenden Grundversorgung mit Lebensmitteln garantiert ist. Aber ist der Kapitalismus nicht eine einzige Anhäufung von Verbrechen?

Als zentrale Erkenntnis bleibt schließlich: Die kollektive Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, im Bruch mit den Formen der Ware, des Staats und des Privateigentums, sowie die Revolutionierung der Art und Weise, wie die Gesellschaft ihre materielle Produktion organisiert, ist unsere einzige Chance, der zerstörerischen Barbarei zu entkommen, die der Kapitalismus Tag für Tag hervorbringt.

Nichts anderes hat Manotas im Sinne, wenn er aus seiner reichen Erfahrung heraus sagt: »Guck dir die Größe dieser Fabrik an. Sie ist riesig, automatisiert, mit Computern und allem. Wir zeigen hier, dass die Arbeiter die Produktion organisieren und kontrollieren können. Ich frage dich: Wenn wir das hier schaffen, warum können wir das nicht im ganzen Land, auf dem ganzen Kontinent machen?«

Warum eigentlich nicht?

São Paulo, im Oktober 2003

Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Sigurd Jennerjahn und Norbert Trenkle


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