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Die metaphysischen Mucken des Klassenkampfs

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Über die stummen Voraussetzungen eines merkwürdigen Retro-Diskurses

Norbert Trenkle

Kehrt der Klassenkampf auf die Bühne der Geschichte zurück? Verfolgt man den Diskurs in der Linken, scheint es darüber keinen Zweifel zu geben. „Totgesagte leben länger“, schreibt etwa die Fantômas-Redaktion im Vorwort zur Ausgabe 4/2003 ihrer Zeitschrift und meint damit das Proletariat und den Klassenkampf. „Sollen die Kräfteverhältnisse von unten angefochten werden, … ist es höchste Zeit, auch von links her endlich wieder Klassenfragen zu stellen“ (S. 3). Ähnliches lässt sich in vielen anderen linken Zeitschriften lesen. Im gleichen Maße wie der Krisenprozess des globalisierten Kapitalismus die sozialen Polarisierungen verschärft und sich ein gewisser Widerstand dagegen regt, kommt offenbar auch das traditionelle marxistische Weltbild wieder zu Ehren.

Sieht man einmal von den marxistischen Dinosauriern ab, die immer noch die schwielige Proletenfaust anbeten, hat sich allerdings gegenüber dem traditionellen Klassenkampfdiskurs eine bemerkenswerte Veränderung ergeben. Es ist schon lange offensichtlich, dass die vormalige Fixierung auf die weiße, männliche und metropolitane Industriearbeiterschaft als dem phantasierten Subjekt der Revolution in jeder Hinsicht hinfällig ist. Dies nicht nur, weil dieses soziale Segment durch die mikroelektronische Produktivkraftrevolution zu einer kleinen Minderheit abgeschmolzen wurde, die gegenüber der großen Masse der prekarisierten Arbeitskraftverkäufer in vieler Hinsicht privilegiert ist und diese Privilegien in Abgrenzung nach unten auf der kapitalistischen Hackordnung durchaus auch aggressiv verteidigt. Vielmehr hat schon der Diskurs der 1980er und 90er Jahre sehr zu Recht die Hierarchisierungen und Ausschlüsse kritisiert, die mit der Fixierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital als kapitalistischen „Hauptwiderspruch“ verbunden waren und demgegenüber die vielfältigen und in sich verschlungenen Formen von Herrschaft in den Blick gerückt. Allerdings kam er dabei zumeist nicht über ein bloß additives Verfahren hinaus: die Kategorie der Klasse wurde erweitert und ausdifferenziert und durch andere Kategorien wie insbesondere Geschlecht und „Rasse“ bzw. Ethnie ergänzt. Darüber ging dann ein kritischer Begriff des kapitalistischen Zusammenhangs insgesamt und die Perspektive seiner Aufhebung verloren.

Der neue Klassenkampfdiskurs erscheint demgegenüber als ein höchst hybrides Produkt. Auf der einen Seite stellt er den Versuch dar, wieder ein zentralisierendes Konzept zu entwickeln, das alle stattfindenden Kämpfe auf einen Nenner bringt. Auf der anderen Seite sollen dabei jedoch die Verengungen und Ausschlüsse des orthodoxen Marxismus nicht reproduziert werden. Das Ergebnis ist ein Klassenkampfbegriff, der völlig diffus bleibt und der zugleich – meist entgegen der eigenen Ansprüche – nicht ohne unthematisierte metaphysische Setzungen auskommt. Insofern stellt der neue Klassenkampfdiskurs keinen Fortschritt gegenüber seinem ehrwürdigen Vorgänger dar, sondern reproduziert ihn letztlich nur in einer Form, die den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen oberflächlich Rechnung trägt und sie zugleich widerspiegelt.

Verborgenes Wesen

Die Mystifizierung des „Klassenstandpunkts“ gehört zu den Grundbeständen des marxistischen Inventars, weshalb ihre beständige Reproduktion kaum noch auffällt. Freilich war es immer schon ein Widerspruch in sich, dass eine bestimmte soziale Kategorie, die der Kapitalismus überhaupt erst hervorbringt, zugleich einen wesenhaften Standpunkt repräsentieren sollte, der über ihn hinausweist. Nicht zufällig hat diese theoretische Aporie von Anbeginn an höchst gewundene Argumentationen hervorgebracht, die in ihrer metaphysischen Aufladung in vieler Hinsicht an verzwickte theologische Diskurse etwa über die Dreifaltigkeit Gottes oder die unbefleckte Empfängnis erinnerten. Die elaborierteste und theoretisch schlüssigste Fassung dieser Klassentheologie hat zweifellos Georg Lukács in seinen unter dem Titel „Geschichte und Klassenbewusstsein“ versammelten Aufsätzen aus den frühen 1920er Jahren vorgelegt. Sie eignen sich deshalb auch am besten dazu, die Grundzüge jener metaphysischen Setzungen und Implikationen nachzuzeichnen, die bis in die heutigen Klassenkampfdiskurse hinein wirken ohne offen gelegt zu werden.

Die theoretische Leistung des jungen Lukács, die ihn aus dem Denken fast des gesamten traditionellen Marxismus heraushebt und bis heute zum Referenzpunkt der reflektierteren Linken macht, ist sein Versuch, den „Klassenstandpunkt“ mit der aus der Warenform resultierenden Verdinglichung zusammen zu denken. Man darf dabei nicht vergessen, dass dieser Versuch bereits schon eine intellektuelle Verarbeitung der Niederlage der westlichen Revolutionen war. Lukács geht im Grunde von der Frage aus, wieso es dem Proletariat trotz seines stetigen zahlenmäßigen Wachstums nicht gelungen ist, den Kapitalismus zu überwinden und weshalb es sogar seinem empirischen Bewusstsein nach in den kapitalistischen Kategorien befangen blieb. Die Antwort ist keine plumpe Manipulations- und Bestechungstheorie wie etwa bei Lenin, der das Ausbleiben der Revolutionen in den kapitalistischen Zentren vor allem mit der Beteiligung des metropolitanen Proletariats (der „Arbeiteraristokratie“) an den Monopolprofiten und der Ausbeutung der Kolonien erklärt. Das Problem besteht laut Lukács vielmehr darin, dass in der warenproduzierenden Gesellschaft die gesellschaftlichen Beziehungen den Charakter der Beziehungen von Sachen annehmen. Die gesellschaftlichen Prozesse verselbstständigen sich auf diese Weise gegenüber den Menschen, gehorchen also keinem bewussten Willen und gewinnen zugleich den Schein von überzeitlichen Naturgesetzlichkeiten, die als nicht aufhebbar gelten.

Soweit kann Lukács auf einer grundsätzlichen Ebene zunächst zugestimmt werden. Seine metaphysische Volte besteht nun darin, dass er die Verdinglichung als eine Struktur beschreibt, die ihr „wahres Wesen“ verdeckt. Damit ist nicht einfach nur eine oberflächliche ideologische Verschleierung gemeint, etwa in dem Sinne, dass „hinter den Kulissen“ bloß scheinbaren gesellschaftlichen Selbstlaufs irgendwelche Kapitalfraktionen oder fremde Mächte die Fäden ziehen, so wie es sich die meisten traditionellen Marxisten zurechtlegen, wenn sie über den Begriff der Verdinglichung oder des Warenfetischismus stolpern und ihn sich behelfsmäßig zurechtinterpretieren.1 [3] Lukács sieht durchaus den realen gesellschaftlichen Gehalt der Verdinglichung, die sich in den gesellschaftlichen Strukturen materialisiert hat und die darüber hinaus auch die Formen der Erkenntnis in ganz grundlegender Weise prägt. Doch darunter verberge sich, dass die verdinglichten Beziehungen in Wirklichkeit menschliche Beziehungen seien, die über die Arbeit hergestellt und vermittelt werden. Auf diese Weise kann er, theoretisch konsistent, den Standpunkt der Arbeit zum wahren Standpunkt der gesellschaftlichen Allgemeinheit erklären und das Proletariat als dessen Repräsentant in den Rang des historischen Subjekts erheben, das die Verdinglichung aufsprengen und damit den Kapitalismus aufheben kann.

Nun ist zwar das Proletariat, wie Lukács feststellt, der Verdinglichung in besonderem Maße unterworfen, weil es tagtäglich dazu gezwungen wird, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, sich also selbst zur Ware zu machen und damit zu verobjektivieren. Aber gerade das soll es angeblich in den Stand versetzen, die Warenstruktur zu durchschauen und sein wahres Wesen zu erblicken, das bisher nur „an sich“ existiert. Das ist der erste Schritt des Für-sich-Werdens, der nicht nur die Befreiung des Proletariats, sondern mit ihm zusammen auch der gesamten Menschheit einleiten soll: „Die Erkenntnis also, dass die gesellschaftlichen Gegenstände nicht Dinge, sondern Beziehungen zwischen Menschen sind, steigert sich zu ihrer vollständigen Auflösung in Prozesse. … Erst hier erhebt sich das Bewusstsein des Proletariats zu dem Selbstbewusstsein der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Als Bewusstsein des bloßen Warenverhältnisses kann sich das Proletariat nur als Objekt des ökonomischen Prozesses bewusst werden. Denn die Ware wird produziert, und auch der Arbeiter als Ware, als unmittelbarer Produzent, ist bestenfalls ein mechanisches Triebrad in diesem Mechanismus. Ist aber die Dinghaftigkeit des Kapitals in einem ununterbrochenen Prozess seiner Produktion und Reproduktion aufgelöst, so kann es auf diesem Standpunkt bewusst werden, dass das Proletariat das wahre – wenn auch gefesselte und vorerst unbewusste – Subjekt dieses Prozesses ist“ (Lukács 1923, S. 313 f.).

Diese Verklärung des Proletariats zum „wahren Subjekt“ des Kapitalismus und zum Erlöser der Menschheit, hängt untrennbar mit Lukács’ Verständnis der Arbeit als transhistorischem Konstitutionsprinzip von Gesellschaftlichkeit zusammen. Wie der traditionelle Marxismus überhaupt, geht er von der Vorstellung aus, dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich immer schon über die Arbeit konstituiert. Mithin ist die Arbeit das Prinzip, das die Gesellschaft zur Gesellschaft und den Menschen zum Menschen macht. In der kapitalistischen Gesellschaft jedoch geschehe die Vermittlung über die Arbeit in verdinglichter Form über den Umweg der Warenproduktion (worin zugleich auch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft eingeschlossen ist) und werde auf diese Weise unsichtbar gemacht. Wenn Lukács schreibt, dass die Verdinglichung „in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt“ (Lukács 1968, S. 171), dann meint er damit genau dieses Unsichtbarmachen, diese Verschleierung der vermittelnden Funktion der Arbeit. Erst die Selbstbewusstwerdung des Proletariats schiebt diesen Schleier beiseite und legt endlich den angeblichen Kern gesellschaftlicher Beziehungen offen. Aufhebung der Verdinglichung bedeutet insofern die Befreiung der Arbeit von dem ihr letztlich äußerlichen Zwang der Warenstruktur. Die kommunistische Gesellschaft wäre demnach eine solche, in der die Vermittlung über die Arbeit bewusst geschieht.2 [4]

Nun hat Lukács zwar durchaus Recht, wenn er als das „Grundwesen“ der „Warenstruktur“ die durch Arbeit vermittelte Beziehung zwischen Menschen ausmacht. Nur handelt es sich dabei eben gerade nicht um ein transhistorisches Merkmal von Gesellschaftlichkeit überhaupt, sondern um ein historisch-spezifisches (und im übrigen keinesfalls so verborgenes) Charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaft, das sie von allen anderen bekannten gesellschaftlichen Formen unterscheidet. Denn auch wenn in jeder Gesellschaft selbstverständlich immer in irgendeiner Weise produziert werden muss, ist die kapitalistische Gesellschaft die einzige in der Geschichte, die ihren Zusammenhang über eine einheitliche und vereinheitlichende Tätigkeitsform, die abstrakte Verausgabung von menschlicher Energie, konstituiert und vermittelt. Insofern ist es ein Ding der Unmöglichkeit, die Arbeit von der Verdinglichung befreien zu wollen. Sie ist per se eine verdinglichte Tätigkeitsform und liegt als solche der modernen Warenproduktion zu Grunde. Eine „bewusste Anerkennung“ der Arbeit als gesellschaftlichem Vermittlungsprinzip wäre nichts anderes als der Widerspruch einer „bewussten Anerkennung“ der Warenproduktion und damit der „bewussten“ Auslieferung an deren Zwänge und Gesetzmäßigkeiten. Würden hingegen die Menschen damit beginnen, sich tatsächlich bewusst und direkt, ohne Umweg über Ware und Geld, über die Organisation ihrer gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verständigen, wäre dies gerade nicht die Freisetzung eines bisher hinter der Verdinglichung verborgenen „Wesens“, sondern im Gegenteil die Aufhebung des einheitlichen und repressiven Vergesellschaftungsprinzips Arbeit und die Herstellung einer Pluralität von Formen gesellschaftlicher Vermittlung und Tätigkeit. Ansätze und Potentiale dafür mögen zwar in der warenproduzierenden Gesellschaft enthalten sein oder vielmehr in der stets präsenten Gegenwehr gegen ihren totalisierenden Zugriff immer wieder neu entstehen, doch machen sie gerade nicht ihr „an sich“ aus, das nur noch „für sich“ werden müsste.

Verteidiger von Lukács wenden dagegen manchmal ein, dieser habe durchaus nicht den Standpunkt der Arbeit verherrlicht, sondern im Gegenteil sogar auf der Selbstaufhebung des Proletariats und damit der Arbeit insistiert. Was sie dabei jedoch übersehen, ist, dass diese Selbstaufhebung mit der Selbstaffirmation einhergeht. Sie bedeutet daher im Grunde nichts weiter, als dass das Schicksal des Proletariats zu einem allgemeinen werden soll. Eine solche Gesellschaft ist aber keine andere als die totalisierte warenproduzierende Gesellschaft mitsamt ihrem objektivierten Zwangscharakter. Implizit trägt Lukács dem Rechnung indem er auch in seiner sozialistischen Arbeitsgesellschaft immer noch die „objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ walten sieht: „Sie werden noch lange nach dem Sieg des Proletariats in Geltung bleiben und erst mit der Entstehung der klassenlosen, vollständig unter menschlicher Kontrolle stehenden Gesellschaft – wie der Staat – absterben. Das Neue an der gegenwärtigen Lage bedeutet bloß – bloß! – dass … das Proletariat die Möglichkeit besitzt, die vorhandenen Tendenzen der Entwicklung bewusst ausnützend, der Entwicklung selbst eine andere Richtung zu geben. Diese andere Richtung ist: die bewusste Regelung der Produktionskräfte der Gesellschaft. Und indem dies bewusst gewollt wird, wird das ‚Reich der Freiheit‘ gewollt; ist der erste bewusste Schritt in der Richtung auf seine Verwirklichung getan“ (Lukács 1922, S. 477). Hier liegt das Eingeständnis vor, dass die angebliche Aufhebung der Verdinglichung durch die Herstellung einer „bewusst“ über die Arbeit vermittelten Gesellschaft eine reine Fiktion ist. Lukács ist konsequent genug in seinem Denken, um zusammen mit der Arbeit auch dem fetischistischen Selbstlauf des Kapitalismus einen überhistorischen Charakter zuzuschreiben. Deshalb beschränkt sich die Macht des regierenden Proletariats darauf, die „objektiven Gesetze“ geschickt „auszunützen“, um sie so möglicherweise zu lenken. Nicht mehr und nicht weniger also, als der „Realsozialismus“ und der fordistische Regulationsstaat getan haben.

Zugerechnetes Klassenbewusstsein

Indem Lukács ausgerechnet die bürgerliche Basiskategorie der Arbeit zum Standpunkt der Emanzipation und das Proletariat zum Erlöser der Menschheit verklärt, schlägt sein Versuch, die Verdinglichung zu entmystifizieren ins Gegenteil um. Der realmetaphysische Charakter des warengesellschaftlichen Universums und seiner transzendentalen Formen wird nicht dechiffriert, sondern unbewusst affirmiert und noch zusätzlich quasi-religiös aufgeladen. Statt die Hegelsche Geschichtsmetaphysik zu überwinden, wendet Lukács sie nur „materialistisch“: an die Stelle der Vernunft tritt die Arbeit und an die Stelle des Geistes als Subjekt der Geschichte das Proletariat.3 [5] Nicht zufällig weist dabei dieses Proletariat alle Züge der bürgerlichen Subjektform und ihrer widersprüchlichen Struktur von Allmachtsanspruch und realer Ohnmacht auf (Begrifflich reflektiert Lukács dies übrigens durchaus konsequent, indem er vom Proletariat als dem Subjekt-Objekt der Geschichte spricht). Denn das Proletariat ist Subjekt nicht im Sinne einer freien Verfügung über die gesellschaftlichen Angelegenheiten, sondern unterliegt in seinem Bewusstseinstand und seinen Handlungsmöglichkeiten ganz und gar einer vorausgesetzten überhistorischen Entwicklungslogik, die Lukács mit der „Entwicklung der Produktionskräfte“ identifiziert. Wie gezeigt, sollen diese ehernen Gesetzmäßigkeiten selbst noch nach der Revolution weiterwirken und erst irgendwann in der fernen und unbestimmten Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft einmal ihre Gültigkeit verlieren, wie Lukács ganz im Einklang mit dem traditionellen Marxismus phantasiert. Auf diese Weise wird das Ausgeliefertsein des bürgerlichen Subjekts an den objektivierten Selbstlauf der warenproduzierenden Gesellschaft mit ihrer zwanghaften Expansionsdynamik zu einer Art ontologischem Schicksal erklärt. Seine „Freiheit“ reduziert sich auf die berühmte Einsicht in die Notwendigkeit. Lukács hat durchaus Recht, wenn er das Subjekt in dieser Weise zum Unterworfenen macht, nur beschreibt er damit nichts anderes als das für die Warengesellschaft konstitutive Verhältnis der Menschen zu ihrem Fetischzusammenhang und gerade nicht eine darüber hinausweisende Form des Weltbezugs.4 [6]

Die der Subjektform eingeschriebene Unterwerfung unter den vorausgesetzten Fetischzusammenhang kommt aber nicht nur in diesen Vorstellungen einer angeblich post-kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck. Auch als Subjekt der Revolution ist das Proletariat durchaus unselbstständig. Überdeutlich wird dies bei der Bestimmung des „Klassenbewusstseins“. Darunter nämlich ist keinesfalls zu verstehen, was die Angehörigen der Arbeiterklasse tatsächlich denken, sondern das, was sie ihrem angeblichen Wesen nach denken sollten. Lukács schlägt sich mit dem Widerspruch herum, dass das Proletariat, das doch „an sich“ einen antikapitalistischen Standpunkt repräsentieren soll, empirisch in seiner Mehrheit keinesfalls revolutionär gesinnt ist und löst ihn in klassisch metaphysischer Manier. Das Klassenbewusstsein, wie er es versteht, ist nämlich eines, das „einer bestimmten Lage im Produktionsprozess zugerechnet wird“ (Lukács 1923, S. 126) und das sich insofern nur „wissenschaftlich“ bestimmen lässt. Entsprechend treibt der Konjunktiv sein Unwesen: „Indem das Bewusstsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den – diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären“ (ebd., S. 126).

Auf diese Weise wird das famose „Subjekt-Objekt der Geschichte“ gleich a priori entmündigt und unter Kuratel gestellt. Weil es offenbar nicht dazu in der Lage ist, sein „wahres Bewusstsein“ zu erkennen, muss ihm das von befugter Seite beigebracht werden: dem Theoretiker und der Partei. Beide zusammen kennen nämlich die historische Mission der Arbeiterklasse, von der sie selbst nichts weiß und helfen ihr deshalb kräftig nach bei ihrer Entwicklung vom „an sich“ zum „für sich“: „Die organisatorische Selbstständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewusstsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; … damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewusstsein gehoben werde“ (Lukács 1922, S. 495). Die herrschaftlichen Konsequenzen dieses Gedankens sind unübersehbar. Die Partei wird zur Erziehungsinstanz berufen, die eine umso höhere Autorität genießt, weil sie ihren Auftrag ja angeblich im höheren Interesse der Schüler ausübt. Da ist dann nichts in Frage zu stellen. Das Proletariat hat sich dem Repräsentanten des zugerechneten Klassenbewusstsein im eigenen Namen unterzuordnen: „Das bewusste Wollen des Reiches der Freiheit kann also nur das bewusste Tun jener Schritte bedeuten, diesem tatsächlich entgegenführen. … Es bedeutet das bewusste Sich-unterordnen jenem Gesamtwillen, der die wirkliche Freiheit wirklich ins Leben zu rufen bestimmt ist … Dieser bewusste Gesamtwille ist die kommunistische Partei“ (ebd., S. 480).

Lukács erweist sich hier nicht nur als waschechter Leninist, sondern stellt sich bewusst ganz ungebrochen in die Tradition der Aufklärung. Die Anklänge an Rousseaus volonté générale oder Kants Kategorischen Imperativ sind alles andere als zufällig. Wie diese denkt er die gesellschaftliche Allgemeinheit in der Form abstrakter, transzendentaler Prinzipien, die vor und über jeder Empirie existieren und diese zum bloß unzulänglichen Material herabwürdigen. Darin reflektiert sich jedoch nichts anderes als die praktische Unterwerfung der Menschen unter die realmetaphysische Form des Werts und seiner abstrakten Herrschaft, die niemals reibungslos funktioniert, sondern auch stets der Vermittlung bedarf. Die Partei fungiert hier gegenüber den bloß partikularen Interessen der Arbeiterklasse als Repräsentantin des „Allgemeininteresses“, das sich angeblich aus ihrem Klassenstandpunkt ergibt, und spielt damit als Vermittlungsinstanz exakt die gleiche Rolle wie der bürgerliche Staat bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Allgemeinheit der Warenproduktion. Ungewollt legitimiert Lukács so die Rolle der Partei als Disziplinierungsinstanz im Prozess der kapitalistischen Totalisierung.

Narzisstische Allmachtsphantasien

Es mag vielleicht so scheinen, als sei die Kritik am metaphysischen Charakter von Lukács’ Klassentheorie und an seinen herrschaftlichen Implikationen bloß Schnee von gestern. Hat nicht die Postmoderne längst schon die Metaphysik zertrümmert? Und gehört nicht nach der Postmoderne die Kritik der Metaphysik auch zum Standardrepertoire des reflektierten Marxismus? Dem eigenen Selbstverständnis nach jedenfalls ist der neuere Klassenkampfdiskurs weit über die Geschichtsphilosophie eines Lukács hinaus. So schreibt etwa die Redaktion der Zeitschrift Fantômas im Editorial ihrer bereits zitierten Ausgabe: „Der Rückzug, gar die Flucht vieler Linker vom angestammten Kampfplatz sozialistischer, sozialrevolutionärer oder kommunistischer Politik ist zu weiten Teilen die Folge des Scheiterns ihrer Klassenkampfkonzepte an der Klassenrealität. Dieses Scheitern hängt in seinem Kern an einem doppelten Fehlgriff in der Bestimmung der Subjektivität sozialer Kämpfe. Zum einen wurde ‚das Proletariat‘ soziolog(ist)isch auf die abhängig Beschäftigten der fordistischen Fabrik, den weißen männlichen Facharbeiter verengt … Der dergestalt zurechtgestutzte Proletarier wurde dann – teils infolge der soziologischen Verkürzung, teils gegen sie – geschichtsphilosophisch überhöht und zum ‚auf die Füße gestellten Weltgeist‘ verklärt“ (Fantômas 4/2003, S. 4). Was dieser Kritik jedoch entgeht, ist, dass die metaphysische Aufladung des Klassenbegriffs untrennbar mit der Verklärung einer immanenten sozialen Kategorie des Kapitalismus zum revolutionären Subjekt verbunden ist und dass sie sich deshalb auch nicht überwinden lässt, indem nun flugs der größte Teil der Menschheit zum „Proletariat“ oder zur „WeltarbeiterInnenklasse“5 [7] erklärt wird. Denn dadurch wird zwar die zu Recht kritisierte soziologische Verengung aufgebrochen, doch nur um die Vorstellung eines antikapitalistischen Kollektivsubjekts, das sich seiner selbst nur noch nicht bewusst ist, in grotesker Weise zu überdehnen. Implizit wird damit zwar der Klassenbegriff ad absurdum geführt. Doch statt die Konsequenz daraus zu ziehen und ihn zu entsorgen, wird er nur mit neuen quasi-religiösen Weihen versehen.

Eine herausragende Rolle spielen dabei subjektivistische Klassentheorien, wie sie an prominenter Stelle Autoren wie Hardt/Negri und John Holloway vertreten. Beide grenzen sich zwar vom orthodoxen Marxismus ab, doch das gilt im Grunde nur für dessen positivierende Analyse der „objektiven Entwicklungstendenzen“. Hingegen erfährt der marxistische Topos, die Arbeiterklasse sei das eigentliche Subjekt des Kapitalismus und der Klassenkampf sei sein Motor, eine geradezu grandiose Aufwertung.6 [8] Bei Lukács ist dieses Subjekt, wie gezeigt, keinesfalls autonom, sondern sein Handlungsspielraum wird von den „objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ und ihrer historischen Entwicklung (also der Entwicklung der Produktivkräfte oder, wie Lukács sagt, „Produktionskräfte“) bestimmt, denen Lukács überzeitliche Gültigkeit zuschreibt. Die historische Überlegenheit des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie besteht darin, dass es diese Gesetzmäßigkeiten erkennen und „bewusst“ anwenden kann, weil sein Klassenstandpunkt ein potentiell gesellschaftlich-allgemeiner ist, im Gegensatz zum partikular-beschränkten Klassenstandpunkt der Bourgeoisie. Thematisiert Lukács damit immerhin die Bedingtheit des Subjekts durch seinen objektivierten Gesellschaftszusammenhang im Kapitalismus, auch wenn er sie zu einem überhistorischen Merkmal mystifiziert, so wird diese bei Hardt/Negri ganz durchgestrichen. Was übrig bleibt, ist ein Subjekt, das rein in sich selbst begründet sein soll und dem deshalb eine umso phantastischere Macht angedichtet wird. Alles, wirklich alles soll sein Produkt sein, sogar die Bedingungen seiner eigenen Unterwerfung unter das Kapital. Das Wesen dieser zur „Multitude“ mutierten Arbeiterklasse ist ihre „Autonomie“ und eine ungeheure, überschäumende Kreativität, die ganz aus ihr selbst entspringt. Dementsprechend operieren Hardt/Negri mit einem ungeheuer emphatischen Begriff der Arbeit, der die Züge eines göttlich-künstlerischen Schöpfungsakts trägt (die mythische Anrufungsinstanz ist dabei Dionysos) und zugleich so universell gefasst ist, dass er es erlaubt, die ganze Menschheit in ihren Klassenbegriff einzugemeinden. Die solcherart verklärten und ontologisierten Produktivkräfte werden ganz dem Kollektivsubjekt „Multitude“ zugeschlagen, während das Kapital bzw. das Empire als eine rein äußerliche Macht erscheint, die von der Ausbeutung dieser „lebendigen Kraft“ lebt: „Die Menge ist die wahre Produktivkraft der sozialen Welt, während das Empire ein Beuteapparat ist, der von der Lebenskraft der Menge lebt – oder … vampirmäßig das Blut der Lebenden saugt“ (Hardt/Negri 2002, S. 75).

Holloway beschreibt zwar im Gegensatz zu Hardt/Negri das Kapital als die objektivierte Seite des Warenfetischs und problematisiert vor allem auch die Kategorie der Arbeit als verdinglichte Tätigkeitsform. Doch als ihre eigentliche Substanz, als ihr Wesen, identifiziert er die lebendige Aktivität des „Tuns“, die alle Züge jener dionysischen Schöpfungskraft aufweist. Sie wird als der lebendige Fluss menschlicher Kreativität beschrieben, den das Kapital unterbricht und verobjektiviert; dementsprechend soll der emanzipative Kampf darauf zielen, „die bewusste und ihrer Selbst gewisse Gesellschaftlichkeit des Flusses des Tuns wiederzugewinnen oder zu schaffen“ (Holloway 2002, S. 242). Ganz analog zu Lukács geht es Holloway also um die Selbstbewusstwerdung eines vorausgesetzten Wesens, nur dass er (genau wie Hardt/Negri) die „kreative Kraft“ als ontologische Eigenschaft des Subjekts beschreibt, die vom Kapital nur äußerlich überformt und ausgebeutet wird: „In diesem Sinne kommt es ständig zu einem Aufeinanderprallen der Produktionskräfte (unsere kreative Macht) und ihrer kapitalistischen Hülle“ (Holloway 2002, S. 221; Hervorheb. N. T.). 7 [9]

Dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis sei, das sich durch „uns alle“ hindurchzieht, wie Holloway immer wieder betont, wird durch diese Wesensmetaphysik dementiert. Deshalb liegt es durchaus in der Falllinie seiner Argumentation, wenn er schließlich von einem „antagonistischen Verhältnis … zwischen der Menschheit und dem Kapital“ spricht (Holloway 2002, S. 218). Statt also das widersprüchliche Verhältnis von Subjektivität und Objektivität als konstitutives Merkmal einer historisch ganz spezifischen gesellschaftlichen Struktur zu entziffern, wie es von einer an Marx angelehnten Gesellschaftskritik zu erwarten wäre, löst er es einseitig zur Seite des Subjekts hin auf und versieht es damit zugleich mit den Weihen transzendentaler Dignität. Diese metaphysische Aufladung drückt sich unübersehbar in einer vor religiösen Metaphern nur so überschäumenden Sprache aus (nicht anders übrigens als bei Hardt/Negri, die sich zum Schluss ihres Buches sogar auf den Heiligen Franziskus berufen): „Es gibt keine ‚objektiven Widersprüche‘: wir und nur wir alleine sind der Widerspruch des Kapitalismus. … Es gibt keinerlei Götter, weder Geld noch Kapital noch Produktionskräfte noch Geschichte: Wir sind die einzigen Schöpfer, wir sind die einzig möglichen Erlöser, wir sind die einzig Schuldigen“ (Holloway 2002, S. 204).

Metaphysischer Polwechsel

Historisch lässt sich diese Akzentverschiebung im metaphysischen Begründungszusammenhang durchaus plausibel erklären. Lukács ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Situation konfrontiert, in der die Arbeiterklasse tatsächlich noch um ihre Anerkennung als gesellschaftliches Subjekt kämpfen musste. Dementsprechend kann er diesen Status nicht einfach voraussetzen, sondern thematisiert ihn als bevorstehende Entwicklung, die mit der objektivierten Seite des gesellschaftlichen Prozesses verquickt ist – wobei er der Täuschung unterliegt, dieses Zu-sich-Kommen der Arbeit bedeute eine Überwindung des Kapitalismus und nicht etwa seine Totalisierung. Die neueren Vertreter des Klassenstandpunkts finden hingegen eine Situation vor, in der nicht nur die Existenzweise als Arbeitskraftverkäufer allgemein geworden ist, sondern mit ihr auch das moderne Subjekt mit seiner Illusion einer völligen Unabhängigkeit von jeglicher gesellschaftlichen Bedingtheit. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich vor allem das Buch von Hardt/Negri über weite Strecken geradezu als Subtext narzisstischer Befindlichkeit lesen lässt. Allmachtsphantasien wechseln sich mit jähen Ohnmachtsanfällen ab, Größenwahn schlägt unvermittelt in Depression um. Auf der einen Seite feiern sie das Subjekt „Multitude“ als Schöpfer aller Dinge, auf der anderen wird es immer wieder niedergerungen von einer unfassbaren Macht des Kapitals oder des „Empire“, die alle seine Angriffe in Niederlagen verwandelt.8 [10]

Weshalb es diesem vollkommen in sich selbst begründeten autonomen Subjekt nicht gelingt, sich von jener vollkommen von ihm abhängigen Macht zu befreien, kann theorieimmanent nicht schlüssig begründet, sondern nur ideologiekritisch entschlüsselt werden. Es ist Ausdruck dafür, dass die Autoren die widersprüchliche Einheit von bürgerlichem Subjektwahn und warenförmiger Objektivierung nicht auflösen können und deshalb zwischen den beiden Polen subjektiver Verfasstheit, in denen sich dieser Widerspruch spiegelt, unaufhörlich hin- und herschwanken.9 Die Verwandtschaft zu Nietzsches Wahnvorstellung eines ewigen Kampfes zwischen den „aktiven“ und den „reaktiven Kräften“, die sich leicht als mystifizierte Überhöhung der kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse dechiffrieren lässt, ist unübersehbar. Insofern haben Hardt/Negri und Holloway, wie die Postmoderne insgesamt, die Metaphysik keinesfalls überwunden, sondern nur einen Polwechsel innerhalb des metaphysischen Feldes bürgerlichen Denkens vollzogen. An die Stelle der an Hegel angelehnten Geschichtsphilosophie mit ihrer Affirmation der „objektiven Gesetze“ ist die diffuse und nicht weniger affirmative Metaphysik des „Willens“ und des „Lebens“ getreten.

Wo Lukács ein objektiv definierbares, überempirisches „Klassenbewusstsein“ auszumachen meint, welches sich darin begründe, dass der Standpunkt der Arbeit und des Proletariats (potentiell) die gesamte Gesellschaft repräsentiere, sehen Hardt/Negri und Holloway eine existentielle, ontologische Kraft wirken, die sie als Wesen des Klassenkampfes identifizieren: der lebendige Fluss der Kreativität und der aus ihr entspringende Drang nach Befreiung und zur umfassenden Aneignung der Welt. Dies soll die universelle Triebkraft sein, die eine unbewusste Verbindung zwischen allen noch so disparaten Kämpfen stiftet, noch vor jeder Reflexion und vor jedem organisatorischen Zusammenschluss. Auf diese Weise kann jede soziale Auseinandersetzung a priori als Klassenkampf definiert werden. Es gilt die tautologische Gleichung: Jeder soziale Kampf ist Klassenkampf, also ist der Klassenkampf universell. Die Frage, mit der Lukács sich herumschlug, wie sich die empirische Befangenheit im partikularen Interessenkampf aufheben lässt, wird auf diese Weise einfach durchgestrichen. Sie gilt im Grunde als gelöst. Die gemeinsame antikapitalistische Wesenheit der Kämpfe äußert sich ganz unmittelbar in ihrer Spontaneität, sie ist dort immer schon unbewusst-bewusst präsent.

Dieser metaphysische Polwechsel ermöglicht zwar den Abschied vom herrschaftlichen Konstrukt der allwissenden Partei, die das „objektive Bewusstsein“ repräsentiert und deshalb das Proletariat auf die richtige Linie trimmen darf. Doch an seine Stelle tritt ein phantasmatisches Wunschdenken, das den Blick für die gesellschaftliche Wirklichkeit mindestens genauso verstellt wie die alte Glorifizierung des Subjekt-Objekts der Geschichte. Nicht nur verklärt es jede noch so kleine Regung von Widerstand oder Protest zum Teil eines globalen antikapitalistischen Aufbegehrens ohne konkret angeben zu können, worin der Zusammenhang eigentlich besteht. Die völlig leere Abstraktheit der Willensmetaphysik erlaubt es sogar, nach Belieben jegliches gesellschaftliches Phänomen als Beleg für die Allgegenwart des Klassenkampfs zu deuten. So ist für Hardt/Negri beispielsweise die Migration eine „machtvolle Form des Klassenkampfes in der imperialen Postmoderne“ (Hardt/Negri 2002, S. 225) – ein ideologisches Konstrukt, das als „Autonomie der Migration“ inzwischen zu einem Leitmotiv in der post-operaistischen Szene geworden ist. So werden all die Millionen von Menschen, die gezwungenermaßen vor den Verheerungen und Verwüstungen des Krisenkapitalismus flüchten müssen, zu allem Überfluss auch noch für die phantasmatischen Projektionen metropolitaner Intellektueller und Bewegungsaktivisten instrumentalisiert und diskursiv ausgebeutet.10 [11]

Schließlich werden auf diese Weise aber auch die destruktiven Entpuppungen und Verfallsformen der bürgerlichen Subjektform im Kontext des kapitalistischen Krisenprozesses auf äußerst leichtfertige Art und Weise relativiert und beschönigt. Wenn das Kämpfen als solches zum Ausdruck des Drangs nach Befreiung erhoben wird, dann gilt das im Prinzip auch für sozialdarwinistische Konkurrenzkämpfe, für regressive und fundamentalistische Bewegungen oder für Ausbrüche blanker, selbstzweckhafter Gewalt. Auch wenn Hardt/Negri und Holloway diese Ausdrucksformen des „Kampfes“ natürlich nicht als emanzipatorisch bezeichnen, erscheinen sie im Licht ihrer Theorien doch als gewissermaßen barbarisch verbogener Ausdruck jener angeblichen antikapitalistischen Wesenhaftigkeit: „Häufig ist es ein barbarisches oder gewalttätiges Nein (Vandalismus, Hooliganismus, Terrorismus): die Entbehrungen des Kapitalismus sind so intensiv, dass sie einen Schrei-gegen hervorrufen, ein Nein, dem es fast vollständig an emanzipatorischem Potenzial mangelt, ein derart sprödes Nein, das nur das reproduziert, gegen das es anschreit. … Und dennoch bildet diese Antwort den Ausgangspunkt … Der Ausgangspunkt ist der Schrei, das gefährliche, häufig barbarische Nein“ (Holloway 2002, S. 236 f.). Man spürt an dieser Stelle des Textes, wie Holloway selbst unwohl ist bei dieser Konsequenz, dennoch ist sie in der Logik seiner Argumentation ebenso angelegt wie in der von Hardt/Negri. Denn die bloß abstrakte Negation des Konstrukts von „objektivem Klassenbewusstsein“ und positiver Allgemeinheit ohne den Bezugsrahmen metaphysischen Denkens aufzusprengen, kippt zwangsläufig in die Mystifizierung der kapitalistischen Unmittelbarkeit um, und trägt so, wenn auch ungewollt, zu ihrer Legitimierung bei.

Wenn das (an sich völlig richtige) Beharren auf dem pluralen und heterogenen Charakter einer möglichen globalen Emanzipationsbewegung nicht in die Relativierung und Beschönigung der atomisierten Selbstbehauptungskonkurrenz münden soll, bedarf es eines Standpunkts bestimmter Negation, der seine Allgemeinheit nicht in positiven Prinzipien oder einem vorausgesetzten „Wesen“, sondern in der Kritik der kapitalistischen Totalität findet. Dazu gehört zentral auch die Kritik der modernen Subjektform. Die um sich greifende Irrationalität und Destruktivität ist keinesfalls der irregeleitete oder gar nur in verkehrter Gestalt sich ausdrückende Wille zur Befreiung. Ganz im Gegenteil: in ihr kommt das Wesen der bürgerlichen Subjektform zum Ausdruck, das aufzuheben und nicht zu verwirklichen ist. Es ist fatal, vor diesen Tendenzen die Augen zu verschließen; vielmehr müssen sie als bestimmte Verlaufsform der Krise des warenförmigen Fetischsystems dechiffriert werden. Der konsequente Abschied von der Subjektmetaphysik ist hierfür die entscheidende Bedingung.

Abschied von der Wesensmetaphysik

Dass in dieser Zeitschrift der Klassenkampf grundsätzlich als rein immanenter Interessenkampf und als Modernisierungsbewegung im Prozess der Durchsetzung und Verallgemeinerung der Warengesellschaft dargestellt wurde, ist immer wieder als objektivistisch kritisiert worden. Daran ist zumindest soviel richtig, dass die Kämpfe der Arbeiterbewegung nie ganz in dieser objektiven Funktion innerhalb der spezifisch-historischen Entwicklungslogik des Kapitalismus aufgingen. Die revolutionären Vorstellungen, die sich an diese Kämpfe knüpften, können nicht einfach nur als belanglose Illusionen und bloße Verblendung abgetan werden. Dass viele Akteure ihre eigenen Vorstellungen durchaus ernst nahmen, dass sie die Totengräber des Kapitalismus und nicht bloß seine Geburtshelfer sein wollten, dieser Impuls sollte nicht nur als funktionale Täuschung, als eine Art „Hinterlist der Geschichte“ abgetan werden. Sicherlich fällt es nicht schwer nachzuweisen, dass auch dieses Wollen, sobald es sich inhaltlich konkretisierte, selber weitgehend in den Kategorien des warenproduzierenden Systems befangen blieb. Besonders deutlich wird dies im positiven Bezug auf den Staat als vermeintlich außerökonomischer Instanz der Bewusstheit („Primat der Politik“) oder in der durchgängigen Affirmation der Arbeit als der zentralen gesellschaftlichen Kategorie. Schaut man genauer hin, entpuppen sich fast durchgängig alle „sozialistischen Perspektiven“ als kryptisch-idealisierte Formen der bürgerlichen Wirklichkeit. Dennoch bleibt fast immer ein Rest übrig, der nicht in dieser Immanenz aufgeht. Darauf verweisen nicht zuletzt auch jene (meist kurzen und vorübergehenden) Phasen in sozialen Bewegungen und revolutionären Prozessen, wo Formen der sozialen Kooperation und Organisation entwickelt wurden (beispielsweise in der Rätebewegung oder in den Kibbuzim), die bis heute Referenzpunkte emanzipatorischer Bestrebungen darstellen.

Solche emanzipatorischen Überschüsse finden sich jedoch prinzipiell in jedem solidarischen Widerstand gegen Herrschaft und Unterdrückung, so etwa auch in vielen aktuellen sozialen Bewegungen gegen die immer unerträglicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen im globalisierten Krisenkapitalismus. Sie stellen freilich nicht ihr präexistentes „Wesen“ dar, das auf seine Befreiung drängt, sondern sind nicht mehr und nicht weniger als der Ausgangspunkt für eine mögliche gegengesellschaftliche Organisierung, die sich nicht mehr in die kapitalistischen Formen einbinden lässt. Es kann kein festes Kriterium und keinen privilegierten sozialen Ort dafür geben, wo und wie sich solche Ansätze herausbilden und entwickeln. Soziale Bewegungen entstehen nicht aus der abstrakten Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung, sondern entzünden sich immer an konkreten Ereignissen und in bestimmten Situationen kollektiver Betroffenheit. Dazu gehört natürlich auch die zunehmende soziale Polarisierung und Ausgrenzung. Eine genaue Analyse dieser und anderer Konfliktlinien ist zweifellos wichtig für die Konkretisierung und Vermittlung von radikaler Gesellschaftskritik. Ihre Aufgabe ist es, die warengesellschaftlichen Fetischformen in den objektivierten Prozessen ebenso wie auf der Subjektseite zu entmystifizieren, um so eine Perspektive ihrer Aufhebung zu eröffnen.

Fußnoten:

1 [12] Als ein Beispiel unter vielen sei folgende Aussage des PROKLA-Redakteurs Thomas Sablowski zitiert: „Doch die Marxsche Analyse des Fetischismus kann auch so verstanden werden, dass die Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise zwar als ‚Sachzwänge‘ erscheinen, dass sie aber als Herrschaft einer Klasse zu dechiffrieren sind“ (Sablowski 2004, S. 18).
2 [13] Vgl. dazu ausführlich Postone 2003, dort vor allem S. 122ff.
3 [14] Zur Kritik des „dialektischen Materialismus“ vgl. auch den Artikel von Christian Höner in krisis 28.
4 [15] Vgl. dazu den Artikel von Ernst Lohoff in dieser Nummer der krisis.
5 [16] Diesen Begriff verwendet Marcel van der Linden. In Anlehnung an Gerald Cohen bietet er dafür folgende Definition: Danach „gehört jedeR TrägerIn von Arbeitskraft zur Klasse der subalternen ArbeiterInnen, dessen oder deren Arbeitskraft unter ökonomischen oder nicht-ökonomischem Zwang einer anderen Person verkauft oder vermietet wird. Gleichgültig ist dabei, ob sie von dem oder der TrägerIn selbst angeboten wird und ob er oder sie eigene Produktionsmittel besitzt“ (van der Linden 2003, S. 34).
6 [17] Auf die unterschiedlichen Akzentuierungen und Begründungszusammenhänge dieses Gedankens bei Hardt/Negri und Holloway kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Zur Kritik an Hardt/Negri verweise ich auf den Artikel von Anselm Jappe in krisis 24.
7 [18] An anderer Stelle verwendet auch Holloway das Bild des blutsaugenden Vampirs: „Das in der Form der Negation Existierende ist nicht bloß ein Projekt: es existiert. Es existiert als Kreativität, von der das Kapital abhängig ist. Es existiert als lebendiges Blut, welches die einzige Nahrung für den kapitalistischen Vampir darstellt“ (Holloway 2002, S. 244).
8 [19] Darin liegt sicher ein Grund, weshalb diese theoretische Konstruktion soviel Anklang bei metropolitanen Bewegungsaktivisten findet. Ihr narzisstischer Subtext spricht auf einer untergründigen Ebene die postmodernen Individuen in ihrer subjektiven Verfasstheit an.
9 [20] Vgl. dazu den Artikel von Karl-Heinz Lewed in dieser Ausgabe der krisis.
10 [21] Flüchtlingsorganisationen wie die „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“ haben dies vollkommen zu Recht scharf kritisiert (vgl. etwa iz3w 284, S. 18-20 sowie www.thecaravan.org/node/view/31).


Literatur:

Michael Hardt/Antonio Negri (2002): Empire, Frankfurt am Main 2002.
John Holloway (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002.
Christian Höner (2004): Zur Kritik von Dialektik, Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube, in: krisis 28, Münster 2004.
Marcel van der Linden (2003): Das vielköpfige Ungeheuer. Zum Begriff einer WeltarbeiterInnenklasse, in: Fantômas, Nr. 4/2003.
Georg Lukács (1922): Methodisches zur Organisationsfrage, in: ders.: Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt 1988.
Georg Lukács (1923): Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletarias, in: ders.: Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt 1988.
Moishe Postone (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg/Brsg. 2003 (amerikanische Erstausgabe 1993).
Thomas Sablowski (2004): Fallstricke der Globalisierungskritik, in: Wissenschaftlicher Beirat von Attac (Hg.): Globalisierungskritik und Antisemitismus, Frankfurt am Main 2004.


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