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Gefangen in einer heilen Modellwelt

Zur »Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit qua richtiger Wirtschaftspolitik«

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/2008

Peter Samol

Ohne die Debatte um den sog. Heuschreckenkapitalismus neu aufzuwärmen, befasst sich der Autor im Folgenden kritisch mit einer Publikation, die er ebenfalls in der Tradition einer linken Ökonomietheorie verortet, die sich vor allem durch die Reduktion von Krisen auf einzelne Momente kapitalistischer Vergesellschaftung und ihre ansonsten »heilen Modellwelten« auszeichne. Ein Beispiel für solche Reduktionismen und entsprechende Aufforderungen zu einer staatlichen Gegensteuerung ist etwa die Broschüre der ver.di-Wirtschaftsabteilung »Finanzkapitalismus – Geldgier in Reinkultur!«, die kritisch seit einiger Zeit auch auf der ver.di-Homepage diskutiert wird. Dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung etwa periodische Überproduktionskrisen erzeugt, verhehlt jedoch auch das kürzlich erschienene Buch »Das Ende der Massenarbeitslosigkeit« von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker. Ökonomie scheint hier hauptsächlich auf einsamen Inseln stattzufinden und der unmittelbaren Befriedigung konkreter Bedürfnisse zu dienen. Alles ganz einfach? – fragt Peter Samol.

In ihrem Buch »Das Ende der Massenarbeitslosigkeit« gehen die Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker davon aus, dass der Kapitalismus durch die richtigen politischen Eingriffe sowohl unter Kontrolle zu bringen wäre, als auch ewig weiterexistieren könne. Vor allem das Problem der grassierenden Massenarbeitslosigkeit ist nach Meinung der Autoren lediglich einem »Versagen der Wirtschaftspolitik« (S. 8) geschuldet. Der Gedanke, dass es sich bei diesem Phänomen sowie der Prekarisierung immer größerer Bevölkerungsteile um einen grundlegenden Systemfehler handeln könnte, wird ausdrücklich zurückgewiesen. Die Autoren liegen damit voll im Trend einer sich im Kern systemerhaltend gebenden Mainstreamlinken und erfreuen sich innerhalb der Gewerkschaften, bei linken Sozialdemokraten sowie in großen Teilen der Linkspartei großer positiver Resonanz.

Unter anderem diskutieren sie vier so genannte »Jobkiller«: a) die Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft durch Technik, b) angeblich zu hohe Löhne, c) vermeintlich »verkrustete[n] Strukturen«, und nicht zuletzt d) »die Globalisierung«. Sie alle werden als Ursachen für die Arbeitslosigkeit verworfen. Bei den letzten drei Punkten handelt es sich um übliche Verdächtige, die in der öffentlichen Debatte hinreichend bekannt sind und hier nicht weiter behandelt werden sollen. Interessant ist vor allem der erste Punkt. Hier lautet die Kernthese: Durch den zunehmenden Einsatz von Technologie können die Bedürfnisse der Menschen mit einem immer geringeren Einsatz von Arbeitskräften befriedigt werden, Arbeitslosigkeit gilt also als logische Folge des technischen Fortschritts. Auch dieser Ansatz wird von Flassbeck und Spiecker als Erklärung für die empirisch vorfindliche Massenarbeitslosigkeit ausdrücklich zurückgewiesen. Die beiden Autoren sehen in der erhöhten Produktivität kein Problem und wischen den Schluss, wonach immer mehr Menschen zur Erzeugung der benötigten Güter überflüssig werden, mit der theoretischen Überlegung vom Tisch, dass anstelle der alten, befriedigten Bedürfnisse problemlos neue Bedürfnisse treten würden. Um diese zu erfüllen, so behaupten sie weiter, entstünden neue Arbeitsplätze, in denen die zuvor Entlassenen neue Beschäftigung finden werden: »Weniger Beschäftigte gibt es in der Summe aller Effekte nicht« (S. 34). Diese Position untermauern Flassbeck und Spiecker, indem sie auf der Grundlage ökonomischer Rechenmodelle die sich daraus ergebenden Szenarien durchgehen und analysieren. Als Ausgangspunkt wird dabei ein drastischer Anstieg der Produktivität um 100 Prozent angenommen. Auf der Grundlage ihrer Modelle meinen sie nachweisen zu können, dass keiner der möglichen Verläufe zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage führe. In jedem Fall würden, so die Autoren, die durch den Produktivitätsschub freigesetzten Arbeitskräfte im gleichen Maße wieder absorbiert.

Zunächst stellt sich die Frage, ob die implizite Annahme einer Unbegrenztheit menschlicher Bedürfnisse gerechtfertigt ist. Vieles spricht dafür, dass es Grenzen gibt. Das fängt damit an, dass die wichtigsten Güter in den entwickelten Volkswirtschaften schon lange für die breite Masse verfügbar sind. Außerdem besteht ein Tag nur aus 24 Stunden, wodurch die Zeit zum Konsumieren objektiv begrenzt ist. Ferner gibt es weitere Begrenzungen, etwa solche kognitiver Art, die z.B. der Nutzung immer neuer technischer Geräte im Wege stehen. Dies sind nur einige von vielen Argumenten, die gegen die von Flassbeck und Spiecker unterstellte Unbeschränktheit menschlicher Bedürfnisse sprechen. Hinzu kommt, dass die Entwicklungen in der Mikroelektronik eine neue Qualität darstellen. Durch neuere Geräte, die immer mehr Funktionen in sich vereinen, werden Unmengen älterer Geräte entwertet, wodurch ganze Branchen mit ihren Arbeitsplätzen zur Disposition stehen. Weitere Branchen geraten in Gefahr, weil mit neuen Geräten vieles in Eigenarbeit hergestellt werden kann, was zuvor von speziellen Berufsgruppen verrichtet wurde: Scharen von Schreibkräften wurden bereits durch Textverarbeitungsprogramme arbeitslos, Korrekturleser (oft mehr schlecht als recht) durch Rechtschreibprogramme ersetzt, Vervielfältigungen von Texten, Fotos, Film- und Tondokumenten etc. lassen sich schneller und billiger am Heim-PC erstellen als von speziellen Dienstleistern usw. Auf diese Weise stellen die neuen Geräte nicht nur eine Konkurrenz für bereits bestehende Produkte dar, sondern führen auch in ganz anderen Branchen zu Arbeitsplatzverlusten, selbst dann, wenn sie nur für den privaten Konsum verkauft werden.

Die Entwicklung auf den Warenmärkten zeigt ferner, dass es immer schwerer wird, neue Konsumgüter zu ersinnen und am Markt zu platzieren. Die Erfolge sind viel zu spärlich, um damit der Freisetzung von immer mehr Arbeitskräften dauerhaft zu Leibe zu rücken. Flassbeck und Spiecker unterstellen dagegen, dass neue Güter in jedem Fall auch ihre Käufer finden. Dabei spielt die Frage nach der Nützlichkeit neuer Produkte für sie keine Rolle. Mit diesem Verzicht auf jegliche Kritik am Gebrauchswert neuer Erzeugnisse geht eine seltsame Sinnverkehrung einher. Sie besteht darin, dass Dinge nicht mehr produziert werden sollen, um konsumiert zu werden, sondern konsumiert werden sollen, um die Produktion in Gang zu halten. Ein historisch einzigartiges Phänomen, das es bisher nur im entwickelten Kapitalismus gibt. Dessen Konsequenzen sind allgemein bekannt: Auch Nutzloses oder gar Gefährliches (etwa ungesunde Lebensmittel) soll konsumiert werden, nur um Arbeitsplätze zu retten oder zu schaffen.

Flassbeck und Spiecker leben, was ihr theoretisches Bezugssystem betrifft, offenbar in einer modellplatonischen Welt, in der es lediglich um die Befriedigung konkreter Lebensbedürfnisse geht. Das springt besonders ins Auge, wenn sie zur Illustrierung ihrer These Robinson-Szenarien zugrunde legen, die in einer geldlosen Welt spielen – nämlich auf der einsamen Insel. Hier fängt Robinson Crusoe mit der Hand Fische, und die Autoren stellen ganz ernsthaft die Frage, ob Robinson »arbeitslos« würde (teilt man diesen seltsamen Denkansatz, müsste es eigentlich genauer heißen, auf »Kurzarbeit gesetzt wird«), wenn er seine tägliche Fischfang-Zeit durch die Anfertigung einer Angel auf die Hälfte verkürzen würde. Auf den Gedanken, dass »Arbeit« und »Arbeitslosigkeit« an einem Ort ohne Kapital bzw. Geld, ohne Fabriken, ohne Arbeitsamt usw. vollkommen deplazierte Begriffe sind, kommen die Autoren offenbar nicht. Wie etwa könnte man Arbeit und Freizeittätigkeit (genau genommen macht selbst diese Unterscheidung nur im Kapitalismus Sinn) ohne das Vorhandensein von Geld unterscheiden? In kapitalistischen Gesellschaften ist es letztlich einzig und allein die Entlohnung, die Lohnarbeit von anderen Tätigkeiten unterscheidet. Alle anderen Unterscheidungsversuche schlagen bei genauer Betrachtung fehl: Auch Hobbies können Mühsal, auch Lohnarbeit kann Vergnügen bereiten, um nur eines der gängigsten Klischees zu erwähnen.

Ferner läuft es selbst in der keynesianischen Theorietradition, der sich Flassbeck und Spiecker zugehörig fühlen, nicht so glatt, wie die Autoren weismachen wollen. Die oben erwähnten Absatzprobleme entsprechen dem vom John Maynard Keynes selbst formulierten »Stagnationstheorem«, wonach früher oder später eine Sättigung der Konsumgüternachfrage einsetzen wird, die letztlich in eine Absatzkrise führt. Das Stagnationstheorem wird jedoch von Flassbeck und Spiecker mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen ersetzen sie es stillschweigend durch eine eigentümliche Deutung des »Sayschen Theorems«, die genau das Gegenteil von Keynes’ Stagnationstheorem besagt. Die Grundaussage des Sayschen Theorems lautet: »Geplantes Angebot und geplante Nachfrage müssen in einer geschlossenen Volkswirtschaft übereinstimmen. Wer am Markt ein Gut (etwa auch die eigene Arbeitskraft) anbietet, tut dies, um Einkommen zu erzielen, damit er selbst Güter kaufen kann. Er schafft durch sein Angebot von Gütern eine Nachfrage nach Gütern.« In der Regel wird das Saysche Theorem vereinfacht folgendermaßen formuliert: »Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst.« Ein erhöhtes Güterangebot würde demnach automatisch eine entsprechend höhere Nachfrage generieren. Es kann daher – von kurzfristigen Schwankungen abgesehen – ein unzureichendes Nachfrageniveau sowie Absatzprobleme per Definition gar nicht geben. So weit die neoklassische (bzw. neoliberale) Deutung. Flassbeck und Spiecker argumentieren zwar ein wenig subtiler, kommen aber zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Im Sinne der ungekürzten Fassung interpretieren sie das Saysche Theorem so, dass es richtiger heißen müsste: »Jedes Angebot will sich seine Nachfrage schaffen«. Soll wohl heißen: Wenn jeder lediglich etwas anbietet, weil er ein seinem Angebot äquivalentes Bedürfnis (also potenzielle Nachfrage) hat, dann decken sich in der Bilanz alle Angebote und alle Nachfragen. Ein Einwand gegen dieses merkwürdige Konstrukt springt sofort ins Auge. Es ist nämlich keineswegs gewährleistet, dass jeder letztlich auch die Gebrauchswerte vorfindet, die er eigentlich begehrt. Flassbeck und Spiecker gehen auf diesen naheliegenden Einwand mit keinem Wort ein, sondern schwadronieren weiter: »Wir sind durch die Marktwirtschaft nicht zu Produktivitätssteigerungen verdammt, die wir selbst nicht wollen und die uns deshalb unausweichlich in die Arbeitslosigkeit führen. Produktiver wird nur derjenige, der dafür auch etwas anderes (…) haben will« (S. 40). Das ist nun wirklich ein kapitaler Fehlschluss und geht an der bitteren kapitalistischen Realität meilenweit vorbei. Produktiver wird man nämlich im Kapitalismus schon allein deshalb, um Konkurrenten zuvor zu kommen. Anbieter, die im Kapitalismus bestehen wollen, sind gezwungen, laufend ihre Angebote zu verbessern sowie neue zu unterbreiten und sich um »Innovationen« zu bemühen, um nicht von der Konkurrenz überflügelt zu werden. Alle Unternehmer tun es – oder sie sind bald keine mehr. Gerade auf diese Weise entstehen immer wieder Überkapazitäten. Und auch die Anbieter von Arbeitskraft werden ständig zur Optimierung und Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit angehalten.

Es ist sehr verwirrend, dass Flassbeck und Spiecker sich selbst als Keynesianer bezeichnen, obwohl ihr Bezugssystem eher ein neoklassisches ist. Mit Say, der den Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert nie verstanden hat, gehen sie von einfachen Produzenten im Sinne von Robinson und Co. aus, die untereinander Gebrauchswerte tauschen. In der Tat haben Produkte als Gebrauchswerte im oben genannten Sinne eine Schranke. Aber im Kapitalismus stellen Produkte immer auch Waren dar, die Tauschwert transportieren. Und diese Art von Wert strebt nichts anderes als seine grenzenlose Selbstvermehrung an. Tauschwert drückt sich lediglich in Quantitäten – sprich Geldbeträgen – aus. Beim Tauschwert und seiner Vermehrung gibt es keine Schranke, und insofern ist man unter kapitalistischen Bedingungen sehr wohl zur Produktivitätssteigerung verdammt.

So einfach, wie es Flassbeck und Spiecker versuchen, lassen sich Überproduktionskrisen nicht wegräsonieren. Generell entgeht ihnen durch die Verwechslung von direktem Naturalientausch mit geldvermitteltem Tausch eine entscheidende Pointe: Durch die Einführung von Geld zerfällt nämlich der unmittelbare Gütertausch in zwei voneinander unabhängige Akte. Im ersten Akt wird Ware (auch z.B. Arbeitskraft) gegen Geld eingetauscht, im zweiten Akt wird das erworbene Geld wieder gegen die eigentlich begehrte Ware ausgetauscht. Aufgrund dieses Auseinanderfallens kommt es früher oder später zu einer Verkehrung: Während das Geld ursprünglich als Vermittler zur Erlangung von Waren diente, dienen Waren immer mehr zur Erlangung von Geld, und ihr eigentlicher Gebrauchszweck tritt zurück. Denn während Geld gegen jede beliebige Ware eingetauscht werden kann, bleibt es für jede Ware zufällig, ob sie gegen Geld getauscht (sprich verkauft) wird oder nicht. Wenn ihr Verkauf nicht gelingt, dann ist die Ware ein wertloses Produkt geworden und das hineingesteckte Geld verloren. Waren sind an diesem Punkt der Entwicklung nur noch Zwischenstadium zur Vermehrung von Geld. Damit ist Geld zugleich zu Kapital und die Gesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaft geworden. Die Anhäufung von Geld und immer mehr Geld, bzw. von Wert und immer Wert ist zur allgemeinen gesellschaftlichen Form geworden, die das ganze Produktionssystem beherrscht. Das führt automatisch zur stetigen Erweiterung der Produktion, einschließlich der Steigerung der Produktivität. Anders als Flassbeck und Spiecker meinen, ist Produktion über den Bedarf im Kapitalismus der Regelfall und ihre Auffassung: »Wir sind durch die Marktwirtschaft nicht zu Produktivitätssteigerungen verdammt, die wir selbst nicht wollen und die uns deshalb unausweichlich in die Arbeitslosigkeit führen« (S. 40), völlig falsch. Nicht zuletzt, weil es unter kapitalistischen Bedingungen nicht ausreicht, kostendeckende Erlöse zu erzielen, sondern zusätzlich ein Gewinn entstehen muss – denn andernfalls wird unternehmerisches Handeln im Kapitalismus schlicht unterlassen.

Eine Wirtschaftspolitik, wie sie Flassbeck und Spiecker vorschwebt, wäre nur dann möglich, wenn es den Menschen wirklich nur um konkrete Bedürfnisse ginge. Aber Geld ist im Kapitalismus nicht Mittel, sondern Zweck. Es ist zum Fetisch geworden und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem Fetischverhältnis, das im Kern darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen – und nicht darum, nützliche Dinge herzustellen. Für diesen Zweck aber werden immer weniger Menschen benötigt. Hier liegt der eigentliche Grund für die Massenarbeitslosigkeit und ein stetig anwachsendes Prekariat. In diesem Zusammenhang ist es mehr als naiv zu glauben, man könne den Kapitalismus und seine wesentlichen Mechanismen mit der richtigen Politik dazu bringen oder gar dazu benutzen, nützliche Dinge und Wohlstand für alle Beteiligten zu schaffen.

Neben der eigentümlichen Verwendung des Sayschen Theorems haben Flassbeck und Spiecker noch einen zweiten Kunstgriff auf Lager, um die Arbeitslosigkeit kleinzureden. Sollten wider ihrer Erwartung einmal keine neuen Arbeitsplätze entstehen, dann verbuchen sie diesen Umstand einfach als ökonomischen (!) Gewinn, denn ökonomischer Wohlstand besteht ihrer Ansicht nach aus den beiden Komponenten »Güter« und »Freizeit«; die gewonnene »Freizeit« ist demnach eine andere Form ökonomischen Gewinns, und von Arbeitslosigkeit kann man in diesem Zusammenhang nur sprechen, wenn unfreiwillige Einkommenseinbußen vorliegen (siehe S. 30 u. S. 154). Wer keine weiteren Bedürfnisse hat, der sucht demnach keine weitere Arbeit, um selbige zu befriedigen. Das bezeichnen sie als »freiwilliges Nichtarbeiten«, das erst gar nicht am Arbeitsmarkt erscheint und folgerichtig nicht als Arbeitslosigkeit bezeichnet werden kann. »Nichtarbeiten« erfolgt jedoch nicht in jedem Fall freiwillig. Anbieter von Arbeitskraft können durchaus Bedürfnisse haben, die sich jedoch nicht erfüllen lassen, da ihre Arbeit schlichtweg nicht nachgefragt wird. Selbst im Falle einer wirklich »freiwilligen Arbeitslosigkeit« würde eine allgemein nachlassende Kombination von Arbeits- und Konsumbereitschaft aus der Sicht der Kapitalverwertung katastrophale Folgen haben. Wenn sich nämlich immer mehr Menschen die Formel »Lieber weniger arbeiten, als mehr zu konsumieren« zur Maxime machen würden, stünden die marktaffirmativen Ökonomen vor einem ernsthaften Problem. Solch ein freiwilliger Verzicht auf die Teilnahme am Wirtschaftsleben wird von interessierter Seite als »Konsumstreik« bezeichnet und gilt als ökonomische Todsünde. An anderer Stelle gestehen Flassbeck und Spiecker selber ein, dass sie solcher Verzicht ins Schleudern bringen würde: »Wer seine Arbeitszeit freiwillig verkürzen will, weil er Produktivitätssteigerungen lieber in Form von Freizeit als in Form von Einkommen konsumieren möchte, der kann das selbstverständlich tun, es muss dann nur (nur? PS) ein Mechanismus gefunden werden, der verhindert, dass der Verzicht der Arbeitenden zu einem Nachfrageausfall führt und damit zu einer Gefährdung der bestehenden Arbeitsplätze. Dieser Mechanismus, muss man allerdings heute feststellen, ist bei Arbeitsverzicht ebenso wenig gefunden worden wie bei Lohnverzicht.« (S. 38f.) Die Autoren geben also selber zu, dass Arbeits- und entsprechender Konsumverzicht hochproblematisch sind. Freizeit ist insofern eben doch kein ökonomischer Gewinn, und Nichtarbeit (ob freiwillig oder unfreiwillig) mit entsprechend ausbleibendem Konsum ist für den Kapitalismus ein gravierendes Problem, das sich nicht durch einen derart plumpen Buchungstrick wegdefinieren lässt.

Bleibt festzuhalten, dass Flassbecks und Spieckers Behauptung, wonach Arbeitsersparnis automatisch zu neuer Nachfrage bzw. neuen Investitionen und damit zu neuen Arbeitsplätzen führt, letztlich nichts anderes ist als ein ungeprüftes Dogma. Was ihr theoretisches Bezugssystem betrifft, leben die Autoren offenbar gar nicht im ausgereiften Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, sondern in der heilen Welt eines vor über 175 Jahren verstorbenen Ökonomen namens Jean Baptiste Say. In ihr ist die Welt per Definition immer im Gleichgewicht. Die wichtigen und grundlegenden gegenwärtigen Fragen sind auf einer solchen theoretischen Grundlage gar nicht formulierbar – ganz abgesehen davon, dass dessen Thesen schon zu seiner Zeit höchst fragwürdig waren. Damit machen sie sich blind für die Wahrnehmung der realen ökonomischen Entwicklung. In ihr wächst die arbeitsvernichtende Produktivität schon seit Jahrzehnten bedeutend schneller als die arbeitsschaffende Produktionserweiterung. Der Kapitalismus stößt seine eigene Arbeitssubstanz ab, und immer mehr Menschen werden über das Zwischenstadium der Arbeitslosigkeit ins Prekariat abgeschoben.

Flassbeck, Heiner; Friederike Spiecker: »Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen.« Westend Verlag, Frankfurt/Main 2007. ISBN 978-3-938060-20-9, 304 S., 24,90 Euro


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