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Krisis 32 – Editorial



Bedürfte es noch weiterer Belege für den grassierenden anti-islamischen Kulturalismus hierzulande, die Auseinandersetzung um den Moscheebau in Köln-Ehrenfeld würde sie liefern. Die „Zeit“ spricht von einem „Kulturkampf“ und warnt vor dem „zweifelhaften Rechtsgehorsam“ der Muslime. Der „Kölner Stadtanzeiger“ befürchtet, dass „der Islam“ nunmehr den gesamten „alten Kontinent“ als „Dar al-islam“, also als „Haus des Islam“ begreife, und sieht die Moschee in Ehrenfeld als Symbol für diesen Anspruch: „Der Islam verlässt die Hinterhöfe und demonstriert Stärke“. Dies sei umso bedrohlicher, als sich, dem Chefredakteur zufolge, die vom „Islam grundierte, weltweite Terrorbewegung“ neben Kommunismus und Nationalsozialismus zur „dritten großen totalitären Bedrohung entwickelt“. Der „Humanistische Pressedienst“ weiß in diesem Zusammenhang, dass der Begriff Moschee auf arabisch „Ort der Niederwerfung“ heißt und die Moschee in ihrer „Deckungsgleichheit mit der Wesensstruktur des Islam Ort politisch-weltanschaulicher Indoktrination“ und „Stätte kriminell-terroristischer Konspiration ist“. Zudem sei, so Necla Kelek, die Moschee „Initiationsort einer muslimischen Parallel- und Gegengesellschaft“. Und für Ralph Giordano schließlich drückt sich in der Errichtung von Moscheen die „schleichende Islamisierung unseres Landes“, also die „Landnahme auf fremdem Territorium“ aus. Moscheen seien „Symbole des Angriffs auf unsere demokratische Lebensform“.

Begreift man das Gefühl des Bedrohtseins und, mit Freud, allgemein den Zustand der Angst als „Produkt der psychischen Hilflosigkeit“ aufgrund einer existenziellen Ohnmacht, so drängt sich die Frage auf, was dieser hysterisch-aufgeregten Panikmache denn eigentlich zugrunde liege. Wieso fühlen sich Menschen, die sich selbst als Vertreter des vernünftigen Denkens schlechthin verstehen, von verhüllt umherlaufenden Frauen, Islamunterricht an Schulen und dem Bau von religiösen Gebäuden bedroht? Selbst wenn man – unzulässigerweise – einen direkten Bogen zu den spektakulären Terroranschlägen von Al Qaida und anderen islamisch-fundamentalistischen Terrorsekten schlägt, springt die Diskrepanz etwa zu der Bedrohung in Zeiten der Blockkonfrontation mit ihren technologisch-hochgerüsteten Militärapparaten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und tausendfachen atomaren Overkill-Kapazitäten deutlich ins Auge. Sicherlich ist der tödliche Aktionismus apokalyptisch motivierter Jihadisten eine reale Bedrohung, doch ganz gewiss stellt er keine Gefahr für die Grundlagen der „westlichen Gesellschaften“ dar – außer in der Hinsicht, dass diese selbst den Terror zum Anlass nehmen, die sicherheits- und disziplinarpolitische Formierung weiter voranzutreiben und selbst noch die beschränkten bürgerlichen Freiheiten Zug um Zug abzuschaffen.

Zygmunt Baumann hat im Hinblick auf die Abschottung der westlichen Zentren gegenüber Migranten darauf hingewiesen, dass diese „ein leichtes Ziel für das Abreagieren von Ängsten bieten, die von der weitverbreiteten Furcht genährt werden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden; in dieser Dynamik müssen sie wider Willen den Regierungen dazu dienen, deren angeschlagene und schwächelnde Autorität zu stärken“. Zweifellos: Die in den kapitalistischen Kernländern grassierende Angst vor dem sozialen Absturz und der Prekarisierung ist ein fruchtbarer Boden, auf dem Rassismus gedeiht. Doch der anti-islamische Kulturalismus zielt auf etwas Größeres. Seine Anrufung der „westlichen Identität“, die als Ganzes bedroht sein soll, verweist darauf, dass es nicht nur um die Angst geht, an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden. Angeschlagen und geschwächt sind nicht nur Staat und Politik, sondern die Grundlagen der modernen Vergesellschaftungsform selbst. Freilich trägt die Schuld daran nicht der islamische Fundamentalismus. Vielmehr ist es der fortschreitende globale Krisenprozess, der die Kohäsionskraft des warenproduzierenden Weltsystems untergräbt und einen gewaltigen Prozess der sozialen Desintegration vorantreibt. Insofern kann tatsächlich von einer existenziellen Bedrohung der „westlichen Gesellschaft“ gesprochen werden, nur dass diese auf klassische Weise verdrängt und projektiv verarbeitet wird. Ihre Ursachenwerden nicht in den inneren Widersprüchen der modernen Vergesellschaftungsform gesucht, die zunehmend ihre eigenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Existenzbedingungen zerstört. Stattdessen erscheint es so, als stehe „der Westen“ einem geschlossenen und in sich homogenen Kulturwesen namens „Islam“ gegenüber, das ihn auflösen und in dessen Sinne umformen will. An das Konstrukt eines übermächtigen Gegners, der mit aller Vehemenz bekämpft werden muss, heftet sich das Gefühl allgemeiner Verunsicherung angesichts einer kaum greifbaren Gefahr, für die niemand persönlich haftbar gemacht werden kann, weil sie von einem verdinglichten Prozess ausgeht, der von keinem übergreifenden Willen gesteuert wird. Vor diesem Hintergrund werden dann die unterschiedlichsten Phänomene irgendwie mit „dem Islam“ in Verbindung gebracht und als Mosaiksteinchen in das kulturalistische Identitätskonstrukt eingefügt: barttragende Muslime, die Entstehung eines Jugenddialekts wie Kanak-Sprak, die Errichtung einer Moschee oder der Überfall auf einen Rentner in der U-Bahn erscheinen allesamt als Belege für die um sich greifende Gefahr der schleichenden Islamisierung und der Zersetzung der „abendländischen Kultur“.

Kaum erstaunlich, dass in dieser aggressiven Identitätspolitik die Anrufung der abstrakten Individualität und deren Verteidigung gegenüber den Gefahren des „Totalitarismus“ eine zentrale Rolle spielen. Das aus Zeiten des Ost-West-Konflikts hinlänglich bekannte Muster der Selbstlegitimation, wie es in der Parole „Freiheit oder Sozialismus“ seinen Niederschlag fand, erlebt in der Abgrenzung gegenüber „dem Islam“ eine Renaissance. Der Westen steht für Freiheit und Selbstbestimmung, die „islamische Welt“ für die Auslöschung des Einzelnen im Zwangskollektiv. Freilich können die westlichen Kulturkämpfer dabei auf den Gemeinschaftswahn des islamischen Fundamentalismus verweisen, der ein Aufgehobensein im Großkollektiv der wahren Gläubigen verheißt. Doch der Kollektivismus ist nicht das ganz Andere der bürgerlichen Subjektivität, sondern grundlegend verknüpft mit der Existenzform des aus allen festen Bezügen herausgelösten vereinzelten Einzelnen, der seit jeher zwischen narzisstischen Allmachtsphantasien und dem Wunsch nach Selbstauflösung im „Ganzen“ hin- und herschwankt. Gerade die in den internationalen Netzwerken des fundamentalistischen Terrors agierenden Jihadisten sind ein gutes Beispiel dafür. Es handelt sich ganz überwiegend um abstrakte Individuen mit durch und durch moderner, männlicher Prägung. Wohlweislich wollen die anti-islamischen Kulturalisten diesen Zusammenhang gar nicht allzu genau beleuchtet wissen. Sie könnten sonst gar auf den Gedanken kommen, dass das Bedürfnis nach Unterwerfung unters Kollektiv kein Zeichen für den vormodernen Charakter oder die totalitäre Prägung der „islamischen Länder“ sei, sondern ein Grundzug jener modernen Subjektivität, die sie so anbeten. So gesehen ist kulturalistische Vorneverteidigung gegenüber dem islamischen Fundamentalismus nicht zuletzt ein Kampf gegen das hässliche Spiegelbild, das dieser „dem Westen“ vorhält.

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„Kreuzzug und Jihad“ ist der Schwerpunkt dieser Ausgabe der krisis, ein Schwerpunkt, der in den letzten beiden Jahren in Diskussionen, Seminaren und Veranstaltungen vorbereitet wurde. Die hier vorliegenden Artikel stellen eine theoretische Zwischenbilanz dar und widmen sich vor allem den grundsätzlichen Aspekten der Thematik.

Zunächst setzt sich Norbert Trenkle in seinem Artikel Kulturkampf der Aufklärung mit dem identitätspolitischen Diskurs der „westlichen Werte“ auseinander. Er zeigt, wie dieser zwar einerseits in der Tradition der Feindbildproduktion aus der Ära des Kalten Krieges steht, andererseits aber die seitdem vollzogenen weltgesellschaftlichen Umbrüche reflektiert. Huntingtons Infragestellung des westlichen Universalismus verweist darauf, dass der globalisierte Krisenkapitalismus nur noch als prekäre Minderheitenveranstaltung möglich ist. Analoges gilt für den liberalen Diskurs. Anders als Huntington legt dieser zwar nicht explizit den universalistischen Anspruch der Aufklärung ad acta, implizit gelangt er jedoch zur gleichen Konsequenz. Der Diskurs der „westlichen Werte“ ist heute Propaganda für ein globales Programm der Unterdrückung und Exklusion der von der kapitalistischen Dynamik in wachsendem Maße hervorgebrachten „Überflüssigen“.

In Die Exhumierung Gottes untersucht Ernst Lohoff die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen des islamischen Fundamentalismus, den er – ebenso wie andere religiös geprägte Fundamentalismen – als ein durch und durch modernes, warengesellschaftliches Phänomen begreift. Der Autor führt dafür den Begriff des „Religionismus“ ein. Auf Motive, die aus der islamischen Tradition stammen, greift der islamische Religionismus nur zurück, um diese von Grund auf umzugestalten und in einen völlig neuen Bezugsrahmen einzubauen, in eine den Bedingungen des Globalisierungszeitalters angepasste Form von Identitätsproduktion. Er entpuppt sich dabei selbst als Agent des Modernisierungsprozesses, allerdings eines Modernisierungsprozesses, der über das Zwischenziel nationalstaatlicher und arbeitsgesellschaftlicher Formierung bereits hinausgetrieben und von Entgesellschaftung und sozialer Selbstzerstörung ununterscheidbar geworden ist.

Claudia Globisch wirft anschließend die Frage auf: Was ist neu am „neuen Antisemitismus“? Ausgangspunkt ist die vor allem seit den Attentaten vom 11. September 2001 geführte Kontroverse, ob es tatsächlich einen „neuen Antisemitismus“ gibt, der sich in seinen Begründungsstrukturen vom „alten“ modernen Antisemitismus unterscheidet, oder ob lediglich neue Trägergruppen hinzugekommen sind. Die Autorin stellt zunächst die wichtigsten Muster antisemitischer Semantiken und ihre Veränderungen nach 1945 vor, um dann auf dieser Grundlage zwei Texte aus den Spektren des antizionistischen und des islamisch-fundamentalistischen Antisemitismus detailliert zu analysieren. Dabei weist sie zwar semantische Verschiebungen und Anpassungen an den je unterschiedlichen Kontext nach, kommt aber dennoch zu dem Schluss, dass sich die wesentlichen Begründungsmuster des modernen Antisemitismus nicht verändert haben.

In Finale des Universalismus analysiert Karl-Heinz Lewed den modernen islamischen Fundamentalismus als Erben des „Volkswillens“ nach dem Scheitern der nachholenden Nationalstaatsbildung in den islamisch geprägten Ländern. Der Standpunkt, den der islamische Fundamentalismus gegenüber den partikularen Interessen reklamiert, ist das Allgemeininteresse in Form der Gesetzlichkeit und des Rechts, allerdings nicht mehr bezogen auf den säkularen Zusammenhang einer Nation, sondern auf eine metaphysische Instanz göttlicher Souveränität. Dieser Bezug reflektiert die grundlegende Erosion der Nationalstaaten, die nicht mehr in der Lage sind, den Zusammenhang der privaten Interessen zu vermitteln und für die Funktionstüchtigkeit des allgemeinen Rahmens zu sorgen. Die Flucht in die jenseitige Sphäre verweist dabei nicht nur auf den metaphysischen Charakter der Rechtsform, sondern auch auf die fundamentale Krise dieser Form.

Mit Die Anatomie der Charaktermaske greift Ernst Lohoff noch einmal die subjekttheoretische Diskussion der letzten krisis-Nummern auf. Er setzt sich mit dem Begriff der Charaktermaske auseinander, wie ihn Franz Schandl in seinem Text „Maske und Charakter“ in krisis 31 entwickelt hat und kritisiert, dass dieser den bei Marx bestimmten Strukturzwang, der zur Entstehung von Charaktermasken führt, umstandslos mit einem unscharfen Rollenbegriff in eins setze. Die Charaktermaske sei bei Schandl nicht das Ergebnis der Personifikation von Waren, sondern der Rollenidentifikation von Menschen. Damit verschwimme diese Kategorie ins Ungefähre und verliere ihre subjektkritische Schärfe.

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Die Auseinandersetzung mit dem Schwerpunkt „Kreuzzug und Jihad“ werden wir selbstverständlich auch über diese krisis-Ausgabe hinaus fortsetzen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang noch einmal auf unsere Homepage www.krisis.org, auf der sich weitere Texte zum Thema finden. Die nächste Ausgabe der krisis erscheint 2009 und wird den Schwerpunkt auf die Analyse des globalen Krisenprozesses setzen.

Karl-Heinz Lewed und Norbert Trenkle für die Redaktion

September 2008


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