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So viel noch nie

Neues System gesucht: Über die merkwürdige Ruhe im Land und eine Zukunft im Zeichen des Mangels

Julian Bierwirth

Die mediale Berichterstattung über die Krise ist voller “Noch-nie”s. Dieser Kriseneinbruch toppe alles, was seit 1929 passiert sei. Noch nie seien seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland die Exporte derart eingebrochen. Noch nie seit Bestehen des Ifo-Index sei dieser derart eingebrochen. Die linke Debatte nimmt das alles zwar zur Kenntnis, behilft sich aber mit traditionellen Lösungsmechanismen. Die Jungle World etwa findet es lustig und macht sich Gedanken über den „Geschäftsklimaindex unter Heroindealern“ und die „die politische Ökonomie Entenhausens“. Die Linkspartei diskutiert darüber, wie sich im Konjunkturpaket soziale Gerechtigkeit implementieren ließe und die Junge Welt fragt entlarvend, ob wohl „Nachfrage- oder Profitsteigerung“ der richtige Weg sei das System zu retten. Ganz so, als seien das nicht zwei Seiten einer Medaille.

Die FAZ vom 7.2.2009 ist da schon einen Schritt weiter:

„Unsere Milliarden, die diversen Pakete, Schirme und Spritzen hätten die Krise längst beeindrucken müssen. Aber Pustekuchen. ,Fast täglich’, schreibt Nobelpreisträger Paul Krugman über die dilettierenden Politiker, ,kramen sie eine neue Fahne hervor, die sie den Mast emporziehen, um zu testen, ob jemand salutiert.’ Nichts passiert. Politiker haben diese Krise nicht angezettelt und keinen Plan, sie zu stoppen. Alle anderen schauen zu, geduldig und nett, wie wir postmodernen Menschen heute sind. Es ist viel zu ruhig.“

Dabei wird sich, auch das hat FAZ-Autor Nils Minkmar erkannt, die Krise nicht nur in einem engen ökonomischen Sinn auf das Leben der Menschen auswirken:

„Abgesehen von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung erwarten.“

Trotz dieser Szenarien ist es in der deutschen Bevölkerung erstaunlich ruhig. Da die Krise noch kaum durch zunehmende Arbeitslosigkeit auch im eigenen Bekanntenkreis für die Einzelnen spürbar ist, haben alle noch die Hoffnung es würde sich für sie nicht viel ändern. Die Politik macht derweil gutmütig weiter wie ehedem:

„Die deutsche Gesellschaft hat auf die Krise erst mal recht liebevoll reagiert: Jemand ist süchtig geworden, hat alles Geld verbraucht und verlangt nun nach mehr. Also räumt man die Schränke aus, um ihm über die nächsten Tage zu helfen. So haben wir, obwohl der Haushalt fast ausgeglichen war, Schulden gemacht und Bürgschaften abgegeben, wie in den ,Kindern vom Bahnhof Zoo’ die Freunde den Junkies Rotwein und Hustensaft gemixt haben – um die Schmerzen zu lindern.“

Das ist tatsächlich nicht ganz von der Hand zu weisen: als den Junkies das Geld ausging, haben die Zentralbanken weltweit als erstes die Zinsen gesenkt. Als das suchtgleiche Bestreben, aus einem Euro zwei zu machen, nicht mehr so recht funktionieren wollte und die Euros sich gar vollständig in Luft aufzulösen drohten, haben die Regierungen weltweit Rotwein und Hustensaft gereicht: faule Kredite wurden aufgekauft, Bürgschaften gegeben und Unternehmen staatlicherseits übernommen.

Machen wir uns nichts vor: die Milliarden, mit denen die Staaten da gerade um sich schmeißen, werden die Staatshaushalte dauerhaft und extrem belasten. Sie werden die Handlungsspielräume in den nächsten Jahren noch mehr einschränken, als sie das ohnehin schon sind. Und sie werden nicht viel an der aussichtslosen Situation ändern. Die Wirtschaft wurde, seit der Staat angefangen hat, sich aus der keynesianischen Befeuerung des Wachstums Stück für Stück zurückzuziehen, lediglich durch eine Art Finanzmarkt-Keynesianismus am Leben erhalten. So wie der Keynesianismus die Ressourcen der Zukunft anzapfte, indem er die Staaten verschuldete und auf zukünftig zu erzielende Steuereinnahmen setzte, hat der Wett- und Spekulationsboom an den Finanzmärkten auf zukünftig zu erwirtschaftende Gewinne von Unternehmen gesetzt, die doch nur durch diese spekulative Gewinnerwartung noch eine einigermaßen glückliche Miene machen konnten. Jetzt umzuschalten und das Original, nämlich den guten alten Keynes, wieder auszugraben, verschiebt das Problem nur auf eine neue Ebene.

Das Spiel ist nun aus, die Party zu Ende. Wirtschaftliche Prosperität lässt sich eben nicht dauerhaft simulieren. Wie wollen wir langfristig damit umgehen, dass ein gesellschaftliches System, das auf der Vermehrung von Kapital beruht, dazu nicht mehr in der Lage sein wird. Darüber sollten wir uns lieber Gedanken machen statt auf altbackene Konzepte zu setzen.

Dieser Artikel ist zunächst in der Online-Ausgabe des Freitag [1]erschienen.


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