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Krisis-Jahrbuch 2016

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Krisis Jahrbuch 2016

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Liebe Leserinnen und Leser, wir freuen uns über das Interesse an den Krisis-Beiträgen. Die Texte werden sorgfältig editiert. Der Aufwand ist nicht unbeträchtlich. Wir sind daher auf Eure Spenden angewiesen, um Krisis-Beiträge auch zukünftig erstellen und anbieten zu können. Hier kannst du uns unterstützen [3].


Editorial

Als wir vor vier Jahren damit begannen, die Krisis als Online-Zeitschrift zu publizieren, geschah dies vor allem auch deshalb, um sie für einen größeren Kreis an Leserinnen und Lesern frei verfügbar zu machen. Diese Idee hat sich bewährt, wie wir an den Zugriffszahlen auf unserer Homepage deutlich ablesen können. Doch der Haken an der Sache war zweifellos, dass nun, wer die Texte in Papierform lesen wollte, kein Buch mehr in der Hand halten konnte, sondern auf den heimischen Drucker angewiesen war. Deshalb sind wir nun dazu übergegangen, die einzelnen Krisis-Ausgaben zusätzlich auch als Book-on-Demand anzubieten, und fassen außerdem hier erstmals die Beiträge des vergangenen Jahres in einem Jahrbuch zusammen, das ebenfalls als BoD verfügbar ist. Auf diese Weise können wir die Vorteile der Online-Publikation nutzen und dennoch in das gute alte Gutenberg-Universum zurückkehren, das wir ohnehin nur sehr ungern verlassen haben.

Die Krisis-Beiträge aus dem Jahr 2016 decken ein breites Spektrum an Themen ab. In Die Arbeit hängt am Tropf des fiktiven Kapitals setzt sich Norbert Trenkle mit einer zweiteiligen Artikelfolge von Christian Siefkes auseinander, in der dieser die zentrale krisentheoretische Aussage der Krisis empirisch zu überprüfen unternimmt, wonach es im Gefolge der Dritten industriellen Revolution zu einer absoluten Verdrängung von Arbeitskraft aus den kapitalproduktiven Sektoren und damit zu einem säkularen Abschmelzen der Wertmasse gekommen sei. Dass Siefkes zu keiner eindeutigen Aussage gelangt, liegt, so die Antwort von Trenkle, daran, dass er einen zentralen Argumentationsstrang der Krisentheorie der Krisis ausblendet. Siefkes abstrahiert nämlich von der massiven Akkumulation des fiktiven Kapitals, welche den fundamentalen Krisenprozess überlagert und im großen Stil Wertproduktion induziert, von der ein erheblicher Teil des globalen Arbeitsvolumens direkt und indirekt abhängt. Berücksichtigt man dies und stellt außerdem in Rechnung, dass ein Großteil der Arbeit weltweit auf sehr niedrigem Produktivitätsniveau verrichtet wird, kann sehr wohl gezeigt werden, dass die wertproduktive Arbeit, also die Basis der Kapitalverwertung, seit den 1980er-Jahren in der Tat dramatisch abgeschmolzen ist.

In seinem Beitrag Der Grabbeltisch der Erkenntnis untersucht Julian Bierwirth die Methode der Zeitschrift Gegenstandpunkt (GSP). Diese genießt den Ruf, besonders radikale Kapitalismuskritik zu betreiben. Sie nimmt für sich in Anspruch, schonungslos über die herrschenden Zustände aufzuklären und theoretisch so konsequent zu sein, dass sie sich allein auf die Kraft „vernünftiger Argumente“ stützen könne. Dieses Beharren auf dem Primat des Wissens geht einher mit einer bestimmten Form der Theorieproduktion und -vermittlung, die in hohem Maße autoritär strukturiert ist und ihre Gegner systematisch diffamiert, statt die kritische Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen. Demgegenüber zeigt Bierwirth, dass der GSP keinesfalls so radikal ist, wie er sich geriert, sondern inhaltlich und methodisch in vieler Hinsicht sogar noch hinter das Reflexionsniveau des „bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs“ zurückfällt, den er doch vermeintlich vernichtend kritisiert. Im Kern reduziert sich die GSP-Position auf die mechanistische Vorstellung, jedes gesellschaftliche Verhältnis, jede soziale Beziehung und jede menschliche Regung gehe in Interessen und Zwecken auf und Kapitalismuskritik bestehe darin nachzuweisen, dass bestimmte Interessen – im Wesentlichen die des „Proletariats“ – systematisch geschädigt würden. Dem entspricht methodisch ein platter Positivismus, der die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen für das Ganze nimmt und daher unterstellt, das wissenschaftliche Denken könne unmittelbaren Zugang zu den Dingen finden, wenn es nur „richtig“ und konsequent die Werkzeuge der Vernunft und der Logik anwende. Es kann daher nicht verwundern, dass der GSP eine Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen als vollkommen überflüssig ablehnt, um sich so gegen Kritik zu immunisieren.

Der Text Rekonstruktion oder Dekonstruktion? von Karl-Heinz Lewed setzt sich mit der Rekonstruktion des Wertbegriffs durch Hans Georg Backhaus und der „Monetären Werttheorie“ auseinander. Lewed argumentiert, dass Backhaus bei seinen wiederholten Versuchen, das sogenannte Geldrätsel zu entschlüsseln, letztlich auf die Ebene des Austauschverhältnisses fixiert bleibt und deshalb nicht nur zu keiner plausiblen Lösung kommt, sondern zugleich auch die Weichen stellt für eine Weiterentwicklung der „Neuen Marxlektüre“ in eine zirkulationstheoretische Richtung, wie sie insbesondere Michael Heinrich weitergeführt hat. Dagegen argumetiert Lewed, dass der Schlüssel zum Verständnis kapitalistischer Herrschaft in der historisch-spezifischen Funktion der Arbeit besteht, welche den Gesellschaftszusammenhang vermittelt und als solche die Substanz des Werts bildet. Vorausgesetzt ist dabei die widersprüchliche Konstellation einer Gesellschaft getrennter Privatproduzenten, die sich über die Produktion von Waren in Beziehung setzen. Im Wert der Waren stellt sich die gesellschaftliche Vermittlung durch Arbeit dar, die das Wesen jenes „gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen“ ist, von dem Marx in seiner Fetischkritik spricht. In der kritischen Analyse der Gesamtbeziehung und ihrer einzelnen Momente muss somit, so Lewed, die Arbeit den Ausgangspunkt bilden.

In seinem Aufsatz All the Lonely People vertritt Peter Samol die These, dass der von Freud geprägte Begriff des Narzissmus sich in besonderer Weise dazu eigne, die bürgerliche Subjektform zu charakterisieren. Allerdings habe Freud seine Herangehensweise selbst als eine naturwissenschaftliche verstanden, wodurch die Psychoanalyse zur Anthropologie verkümmerte. Der Autor verfolgt daher die Absicht, die Psychoanalyse im Hinblick auf den Begriff des Narzissmus zu rekonstruieren, um dessen gesellschaftskritisches Potential freizulegen. Narzissmus ist das Resultat der Konfrontation des Individuums mit den Versagungen durch die gesellschaftliche Realität. Der Begriff bezeichnet die Abwendung von dieser Realität und die Hinwendung in eine innere Welt, in der das Individuum absolute, wenn auch nur imaginierte, Macht besitzt. In der Folge kennt die bürgerliche Subjektivität im Grunde nur zwei Zustände: einerseits das absolute Ohnmachtsgefühl angesichts der Fremdbestimmtheit der eigenen Existenz, andererseits die Allmachtsphantasien samt der Illusion der absoluten individuellen Freiheit, Unabhängigkeit und Unbedingtheit. Letztere fordert allerdings einen hohen Preis, denn sie führt dazu, dass unmittelbare menschliche Beziehungen zurückgedrängt und immer mehr durch versachlichte, geldvermittelte Beziehungen ersetzt werden. Von der eigenen Großartigkeit überzeugt, verdrängt der Narzisst, dass er auf die reale Welt nur wenig Einfluss hat, und macht sich selbst vor, alles sein zu können, während in ihm in Wirklichkeit nur ein großes Nichts steckt. Gerade dadurch stellt der Narzisst die „kongeniale“ Subjektform für das Kapital dar, das in seiner end- und ziellosen Verwertungsbewegung ebenfalls nur eine völlige Leere zum Inhalt hat.

Schließlich setzt sich Ernst Lohoff In seinem Beitrag Die letzten Tage des Weltkapitals mit der Frage auseinander, wie sich das Verhältnis von Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals gegenüber dem „klassischen Kapitalismus“ verändert hat und welche Bedeutung dies für den Krisenprozess hat. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Akkumulation von fiktivem Kapital, die seit mehr als drei Jahrzehnten die lahmende Mehrwertakkumulation als Motor der Weltwirtschaft ersetzt, in starkem Maße von wirtschaftspolitischen Weichenstellungen und geldpolitischen Entscheidungen beeinflusst wird. Denn es hängt wesentlich von den Regierungen und Zentralbanken ab, in welchem Umfang es gelingt, über die Vermehrung von Schuldpapieren, Aktien und Finanztiteln auf künftige Wertproduktion vorzugreifen. Gerade der große Krisenschub von 2008 hat gezeigt, wie weit die Macht der Politik auf diesem Terrain gehen kann. Angesichts des drohenden Systemkollapses schufen die Zentralbanken und Regierungen der kapitalistischen Kernstaaten in einer konzertierten Aktion ein weltumspannendes System des Public-Private-Partnership, der Erzeugung fiktiven Kapitals. Während die öffentliche Hand und die Zentralbanken die Verwaltung der verbrannten kapitalistischen Zukunft übernehmen, sorgt die Privatwirtschaft für die neuen spekulativen Blasen, die für den Fortgang des globalen Akkumulationsprozesses unerlässlich sind. Mit dieser Installation einer weltumspannenden finanzmarkt-sozialistischen Ordnung – ironisches Ergebnis der neoliberalen Revolution – hat die Politik dem maroden kapitalistischen Weltsystem noch einmal eine Gnadenfrist erkauft. Diese in erster Linie durch die Negativzinspolitik der Zentralbanken ermöglichte Ausweitung des Vorgriffs auf zukünftigen Wert ist aber nicht nur deshalb prekär, weil sie längerfristig die Grundlagen des Geldsystems unterminiert – die größte historische Leistung der Politik in Sachen Krisenverschiebung markiert gleichzeitig den Umschlagspunkt, an dem die Politik selber zu einer eigenen Krisenquelle wird.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Die Krisis-Redaktion

März 2017


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