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Moishe Postone, 1942 – 2018

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Als wir, ein kleines Häuflein von Autoren, die sich der Erneuerung radikaler Gesellschaftskritik verschrieben hatten, Ende der 1980er-Jahre auf den damals noch kaum bekannten Aufsatz von Moishe Postone über die Logik des Antisemitismus stießen, schlug dieser bei uns ein wie ein Blitz. Die Wertkritik steckte noch in ihren Anfängen und musste sich mühsam gegen die Gralshüter des traditionellen Marxismus behaupten, mit denen wir uns damals polemische Gefechte lieferten; und plötzlich war da jemand, der in ganz  ähnlicher Weise dachte. Eine völlig neue und bahnbrechende Einsicht war für uns natürlich die Analyse des Antisemitismus als einer Form des fetischistischen Antikapitalismus. Aber damit nicht genug. Die dahinter stehende Lesart der Marx‘schen Theorie, die Zentrierung der Kritik auf die Arbeit und den Wert als gesellschaftliches Verhältnis, das traf genau den Kern dessen, was auch wir theoretisch entwickelt hatten, um aus der Sackgasse der gesellschaftskritischen Stagnation herauszukommen. Dieser Moment der freudigen Überraschung darüber, dass da noch jemand einen ganz ähnlichen Weg zur Neuinterpretation der Marx‘schen Theorie eingeschlagen hatte, prägte mein Verhältnis zu Moishe Postone, auch wenn es noch einige Jahre dauern sollte, bis ich ihn auch persönlich kennen und schätzen lernen sollte.

Nicht weniger prägend war die spätere Beteiligung an der Übersetzung seines grundlegenden Buches Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft ins Deutsche, ein Unternehmen, das ohne eine intensive Auseinandersetzung mit den dort entwickelten Begrifflichkeiten und Gedankengängen nicht hätte gelingen können. Von dieser Auseinandersetzung zehre ich bis heute. Sie hat mir, wie nur wenige andere, dabei geholfen, die eigene Begrifflichkeit und das eigene Denken zu schärfen, auch dort, wo ich nicht mit Moishe Postone einer Meinung war. Enttäuschend war für uns freilich, dass die Veröffentlichung von Postones Buch nur wenig dazu beitrug, ein umfassendes und tiefer gehendes Verständnis für seinen theoretischen Ansatz bei der deutschen Linken zu wecken. Rezipiert wurde er hier im Wesentlichen als Urheber einer neuen, fetischismuskritischen Sicht auf den Antisemitismus. Das zwar vollkommen zu Recht, doch blieb diese in der Rezeption fast vollständig abgetrennt von seiner kritischen Theorie des Kapitalismus. Dass diese Form der Vergesellschaftung auf der Vermittlung durch Arbeit beruht und einer zielgerichteten historisch-spezifischen Dynamik unterliegt, deren Fluchtpunkt die Aufhebung eben jener Vermittlungsform ist, diese Einsicht blieb für die deutsche Linke, und zwar insbesondere für ihre akademischen Ableger, ein Buch mit sieben Siegeln. Ablesbar war das an den spärlichen Kritiken an Moishes Postones Buch, die fast durchgängig Unverständnis und Abwehr signalisierten.

In anderen Ländern, wie zum Beispiel Brasilien oder Frankreich, war das anders, vielleicht, weil es dort bereits einen vorgängigen wertkritischen Diskurskontext gab, der durch die Publikation von Krisis-Texten geschaffen worden war. Das öffnete einige Türen. Dennoch bleibt die merkwürdig verkürzte Rezeption im deutschsprachigen Diskurs ein Ärgernis. Sie zu erweitern und Moishes Postones theoretischem Ansatz auch hier die Geltung zu verschaffen, die er verdient, bleibt eine noch zu leistende Aufgabe. Es spielt dabei keine Rolle, dass es zwischen uns in mancher Hinsicht auch theoretische Differenzen gab – vor allem mit unserer krisentheoretischen Interpretation der zielgerichteten Dynamik des Kapitalismus konnte er sich nie anfreunden. Unsere Wege, die von Krisis und von Moishe Postone, waren nie dieselben, aber sie liefen in vieler Hinsicht parallel, und sie haben sich immer wieder gekreuzt. Und dies auch persönlich. Wir haben mit Moishe Postone einen Weggefährten verloren. Sein Tod erfüllt mich und uns mit Trauer.

Norbert Trenkle (Gruppe Krisis)

Nürnberg, den 24. März 2018


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