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Welteroberung durch den Kreißsaal (Thilo Sarrazins “Feindliche Übernahme”)

Thilo Sarrazin begibt sich erneut in die biologistische Kampfzone. In der Bedienung kollektividentitärer Bedürfnisse ist er den Islamisten ähnlicher, als er denkt.

von Peter Samol

Thilo Sarrazin weiß den Bedarf an der Bestärkung antimuslimischer Ressentiments zu bedienen, um damit Bestseller zu erzeugen. Auch weiß er, dass eine Erhöhung der Dosis die Verkaufszahlen steigert. Das wurde seinem bisherigen Verlag DVA allerdings zu viel, der sein neues Manuskript nicht drucken wollte. Beim Münchner Finanzbuchverlag hat Sarrazin schnell eine neue Heimat gefunden. In seinem kürzlich erschienenen neuen Buch »Feindliche Übernahme« knüpft er direkt an seinen Bestseller »Deutschland schafft sich ab« an. Dieses Mal beschränkt er sich nicht auf Deutschland, sondern entwirft das Schreckensszenario eines genetischen Weltbürgerkriegs.

Er beginnt mit einer hochselektiven Koranlektüre. Dabei verhält er sich wie ein Unteroffizier der Bundeswehr auf Stubeninspektion: Ihn interessieren nur die dreckigsten Ecken, die er eifrig notiert. Wenn er mit seiner Zitatensammlung anschließend einen Islamexperten aufgesucht hätte, um sie sich gründlich erklären zu lassen, wäre das vermutlich in Ordnung gegangen. Aber das hätte womöglich den schlechten Eindruck gestört, den Sarrazin lieber »unverfälscht« an seine Leser weitergibt. Dass er sich damit kaum von den Lektüregewohnheiten der Salafisten unterscheidet – von der negativen Grundhaltung einmal abgesehen –, nimmt er offenbar gern in Kauf. So ist es jedenfalls keine große Kunst, den Koran als »aggressiv, emotional, ungeordnet und wenig abstrakt« zu »entlarven«.

Als Nächstes folgen unschöne Berichte aus Ländern, in denen Muslime die Mehrheit stellen. Sarrazin konstatiert verheerende Defizite in der wirtschaftlichen Entwicklung, der Bildung und der Menschenrechtslage. Das Meiste davon ist richtig, aber Sarrazin führt die Defizite allein auf die »islamische Prägung« dieser Länder zurück. Kolonialismus, unvorteilhafte Handelsabkommen, militärische Interventionen, grassierende Armut – all das spielt in Sarrazins Weltbild nicht die geringste Rolle. Vor allem aber entfaltet er hier seinen Grundgedanken, der den Rest des Buchs wie ein roter Faden durchzieht. Demnach können Muslime gar nicht anders, als ihren rückständigen Glaubensvorstellungen anzuhängen, Bildung und Kultur weit von sich zu weisen und vor allem Scharen von Kindern in die Welt zu setzen. Aufgrund ihrer hohen Geburtenrate drängten die Muslime andere Menschen »demographisch in die Defensive«. Auf diese Weise, so Sarrazin, würden sie ein Land nach dem anderen übernehmen, am Ende überall auf der Welt die Mehrheit stellen und anschließend die zur Minderheit gewordene Restbevölkerung gnadenlos unter ihren Glauben zwingen. Diese fixe Idee kehrt in zahllosen Varianten immer wieder.

Die Vorgehensweise ist einfach. Sarrazin reißt alle Hinweise, die das eigene Weltbild bestätigen, aus ihrem jeweiligen Kontext und ersetzt diesen durch ein selbstgestricktes, grob vereinfachendes Erklärungsmuster, in dem allein die Religion eine tragende Rolle spielt. Innerhalb dieses Fokus diskriminiert er. So behauptet er, dass allein der Islam ein Problem mit dem Frieden hätte: »Christentum, Judentum, Hinduismus oder gar der Buddhismus sind aufgrund ihrer Lehrinhalte für Radikalisierung und Terror weit weniger geeignet.« Die brutale Vertreibung der Rohingya aus Myanmar unter tätiger Mithilfe buddhistischer Mönche, gewalttätige Angriffe von Hindunationalisten auf Muslime, die katholische IRA und ihr protestantischer Gegenpart – all das wird einfach ausgeblendet. So konstruiert Sarrazin sich durch konsequente Ignoranz genau die »objektive Wahrheit«, die er gern haben möchte.

Das alles garniert er mit Unmengen unschöner Zahlen, die er aus verschiedenen Statistiken zusammengetragen hat. Auch hier ist ihm nicht zu trauen. Schon 2010 wies die Politologin Naika Foroutan in einer 70seitigen Studie nach, dass Sarrazins Zahlenmaterial aus »Deutschland schafft sich ab« einer genauen Überprüfung nicht standhält. In seinem neuen Buch verhält es sich nicht anders. Bereits ein Blick in aktuelle Statistiken zeigt, dass die Geburtenraten in »islamisch geprägten Ländern« stetig sinken. In der Türkei liegt die Rate derzeit bei 2,05 Geburten pro Frau, was gerade noch zur Reproduktion der Bevölkerung ausreicht; der Iran liegt mit einer Geburtenrate von 1,66 bereits auf dem Niveau eines typischen Industrielands.

Selbstverständlich gibt es an Zwangsehen und Kinderheirat, an sogenannten Ehrenmorden, an Frauenunterdrückung und der Kultivierung des Antisemitismus überhaupt nichts zu beschönigen. Aber deren Ursachen allein bei einer alten Schrift und deren Anhängern zu verorten, ist schlicht unredlich. Schon der Verweis auf den »traditionellen Islam« ist fragwürdig, denn was heute negativ in Erscheinung tritt, ist der Islamismus. Der ist aber ein modernes Phänomen, das sich – genauso wie die antimodernistischen Strömungen im Westen – bloß in traditionelle Gewänder kleidet und damit ein kollektividentitäres Bedürfnis bedient. Daraus erklärt sich übrigens auch die frappante Ähnlichkeit zwischen der Neuen Rechten und dem Islamismus.

Hinzu kommt die Perspektivlosigkeit in vielen »islamisch geprägten« Ländern durch das Scheitern der nachholenden Modernisierung, die den Boden für reaktionäre Haltungen bereitet hat. Dass der Westen hier nicht ganz unschuldig ist, versteht sich eigentlich von selbst. Nicht zuletzt ist auch der grassierende Antisemitismus nicht auf »den Islam« zurückführen, sondern ein Westimport. Es liegt in der Rigidität seines paranoid-kulturalistischen Weltbilds, dass Sarrazin solche Gedanken nicht einmal in Erwägung zieht. Auch erklärt er Ansätze eines reformierten Islam, wie sie etwa von den Theologen Mouhanad Khorchide oder Abdel-Hakim Ourghi vertreten werden, kurzerhand zum Minderheitenvotum ohne jede Bedeutung. Ähnlich verfährt er angesichts einer erheblichen Zahl von Muslimen, für die der Glaube praktisch keine Rolle spielt und die sich einem Einwanderungsland zugehörig fühlen. Solche Phänomene kontert er forsch mit der Vermutung, »dass sie wohl auch in der Heimat eher glaubensfern waren«. Außerdem nütze das gar nichts, wenn die restlichen, im Glauben verharrenden Muslime munter mit ihrer hohen Geburtenrate weitermachten.

Geradezu verliebt ist Sarrazin in das Bild des Parasiten, der sich auf Kosten der Leistungsträger ausbreite. Seine Mär vom demographischen Eroberungsfeldzug trifft den Nerv einer sich bedroht fühlenden Mittelschicht, die sich als Gemeinschaft der Leistungswilligen versteht. Sie folgt selbst einem bestimmten Glauben, nämlich einem stumpfen Arbeits- und Leistungsethos, dem aber aufgrund einer ökonomischen Dauerkrise das Glücksversprechen abhanden gekommen ist.

Hinter der Fassade der angeblich selbstbewussten »Leistungsträger« lauert schon lange die nackte Angst vor Arbeitslosigkeit und Prekarität. Das damit einhergehende Bedrohungsgefühl bricht sich zunehmend durch irrationale Haltungen Bahn.

In dieser emotional instabilen Lage unterbreitet Sarrazin das Angebot, die Existenzangst in Richtung einer angeblichen muslimischen Gefahr zu kanalisieren. Schuld an den Problemen ist demnach angeblich eine große Zahl von Türken und Arabern, die auf »unseren« Wohlstand zugreifen, ohne zu ihm beizutragen. Meist versteckt sich Sarrazin dabei hinter moderaten Tönen; das gelingt ihm jedoch nicht durchgehend.

Immer wieder bricht das nackte Ressentiment hinter der abgetönten Fassade hervor und es wird deutlich, welche tief verwurzelte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ihn antreibt. Dann belässt er es auch nicht bei einer rein kulturalistischen Herangehensweise, sondern verfällt in offenen Biologismus. Demnach ist es nicht nur eine angeblich minderwertige »Kultur, die zu unterdurchschnittlichen Bildungsleistungen führt«, sondern es gehe auch um »genetische Defekte«.

Damit aber erscheint das »erkannte« Problem praktisch unlösbar – es sei denn, die Muslime verschwänden von der Welt. Sarrazin ist zu klug, um es offen zu fordern, aber zwischen den Zeilen schimmert der Gedanke durch, dass man eigentlich eine Vernichtungsmaschinerie anwerfen müsste. Das offen auszusprechen, überlässt Sarrazin lieber anderen, aber er hat offenbar kein Problem damit, solche Stimmen ideologisch zu munitionieren.

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme.
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. Finanzbuchverlag, München 2018, 496 Seiten, 24,99 €

Dieser Artikel wurde in leicht geänderter Fassung in der jungle world vom 18.10.2018 veröffentlicht.


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