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Das Drama vom Geld und dem Juden

Zu Shakespeares Kaufmann von Venedig

von Hermann Engster

Aus: Streifzüge 2019-76 | Direktlink [1]

Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
es wandelt auch die redliche Gesinnung um
und lehrt sie hässlichen Geschäften nachzugehn;
es unterweist die Menschen in Verschlagenheit,
und auch Verbrechen nicht zu scheun bei ihrem Tun.
(Sophokles, Antigone, I,2)

Außer dem Hamlet hat kein Stück von Shakespeare so vielfältige und einander widersprechende Interpretationen hervorgerufen wie sein Kaufmann von Venedig, ein Stück, bei dem der Streit der unterschiedlichen Deutungen sich zur Frage zuspitzt, ob das Stück eine Komödie, eine Tragikomödie oder eine Tragödie sei. Und auf die Figur des jüdischen Geldverleihers Shylock bezogen: Ist dieser ein dämonischer Bösewicht, ein komischer betrogener Betrüger oder eine mitleiderregende tragische Figur? Doch ein Wesenszug des Stücks steht fest: Es ist mit seiner Figur des bösartigen, rachsüchtigen, habgierigen Juden Shylock antisemitisch. Aus den Poren des Stücks schwitzt Rassismus: Der Jude als der aus einer anderen „Rasse“ stammende wird als fremd und bedrohlich angesehen, ebenso wie eine weitere „fremde“ Figur in dem Stück, ein Marokkaner, der lächerlich gemacht wird.

Das Stück weist eine komplexe Struktur auf. Drei Geschichten hat Shakespeare (unter Verwendung verschiedener Vorlagen) miteinander verwoben:

+ die Geschichte der Freundschaft zwischen dem melancholischen Kaufmann Antonio und dem jungen lebensfrohen Bassanio: eine gemäß dem Renaissance-Ideal gepflegte platonische Männerfreundschaft, die zuweilen wohl auch homoerotisch eingefärbt sein konnte;

+ die Geschichte vom jüdischen Geldverleiher Shylock, der Antonio einen Schuldschein ausstellt, versehen mit der Klausel, dass Shylock bei Vertragsverletzung berechtigt sei, von Antonio ein glattes Pfund / Von Ihrem eigenen Fleisch, herauszuschneiden / Aus welchem Teil von Ihrem Leib mir passt (I,3,147ff.);

+ die Liebesgeschichte zwischen der reichen Venezianerin Portia und Bassanio mit der Kästchenwahl als Liebesprobe.

In diesem Aufsatz soll es um die Geschichte des Shylock gehen.(Das Stück wird zitiert nach der Arden-Ausgabe und der Übersetzung von Frank Günther, München, 3. Aufl. 2007. – Entscheidende Klarheit über dieses schwierige Stück verdanke ich seinem Essay Aus der Übersetzerwerkstatt im Anhang dort. – Um die Erinnerung an das Stück aufzufrischen, sei die Lektüre der Inhaltsangabe bei Wikipedia empfohlen.)

Das Stück heißt Der Kaufmann von Venedig; seine Hauptfigur ist der Kaufmann Antonio, und Shylock ist eine Nebenfigur, freilich eine gewichtige, die in vier von fünf Akten und damit im größten Teil des Stücks auftritt. Ihre Bedeutung wird im Untertitel der ersten Ausgabe von 1600 folgendermaßen herausgehoben:

Die ganz vorzügliche Geschichte vom Kaufmann von Venedig. Mit der extremen Grausamkeit von Shylock, dem Juden, gegen den genannten Kaufmann, ihm ein genaues Pfund Fleisch herauszuschneiden (with the extreame crueltie of Shylocke the Iewe towards the sayd Merchant, in cutting a iust pound of his flesh …).

Die Feindseligkeit gegenüber den Juden befeuern auch andere Stücke dieser Zeit. Unter diesen ist vor allem Christopher Marlowes um 1590 verfasstes und sehr populäres Stück Der Jude von Malta hervorzuheben; Marlowe stellt hier eine derart blutrünstige, bösartige Judenfigur auf die Bühne, welche Shakespeares Shylock noch weit übertrifft.

Theateraufführungen haben sehr unterschiedliche Akzentuierungen der Shylock-Figur gesetzt: solche, welche die antisemitischen Züge bewusst betonten, bis hin zu solchen, die – erschrocken über das Anwachsen des Antisemitismus im 20. Jahrhundert und, nach 1945, erschüttert durch die Shoah – Shylock als tragisches Opfer des Judenhasses darstellten. Es ist jedoch nicht wegzuinterpretieren: „Die antijüdische Tendenz des Textes (ist) eine gewollte Kernaussage des Stückes.“ (Günther, S. 215) Gleichwohl ist Shakespeares Kaufmann von Venedig kein antisemitisches Pogromstück. Diesen Widerspruch gilt es zu klären.

Seit der Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290 gibt es nur noch wenige hundert Juden in London, teils getarnt als Konvertiten, teils unter dem Schutz des Hofes lebend, darunter Ärzte und wohlhabende Kaufleute. Königin Elisabeth I. hat selbst einen portugiesisch-jüdischen Leibarzt. Shakespeare schreibt sein Stück Ende 1596, im Druck erscheint es zuerst 1600. Drei Jahrhunderte nach der Vertreibung der Juden geschieht dies, und dennoch wird das Stück (wie auch das von Marlowe und anderer Autoren) mit ihren exemplarisch bösartigen Judenkarikaturen rasch ein Publikumserfolg und wird auch am königlichen Hof aufgeführt. Wie ist das zu erklären?

Dazu gilt es, zwei Stränge zu verfolgen. Der eine ist die Geschichte des Antisemitismus bis zur Abfassung dieser Stücke; der andere der gesellschaftshistorische Hintergrund der elisabethanischen Zeit: die Epoche des Frühkapitalismus mit ihren Erfordernissen der Kapitalisierung von Unternehmungen und dem damit verbundenen Problem des Kapitalzinses oder – dem damaligen Sprachgebrauch gemäß – des „Wuchers“ (engl. usury).

Vom Heiligen Ungeist

Beginnen wir mit der Geschichte des Antisemitismus. Sie hat schon im frühen Christentum ihren Ursprung. Die römische Besatzungsmacht war in allen Provinzen des Reichs überaus hellhörig in Bezug auf rebellische Umtriebe, vor allem in dem als besonders aufrührerisch geltenden Palästina. Bei der Gerichtsverhandlung gegen Jesus Christus kann jedoch der Gouverneur Pontius Pilatus keine Schuld an dem Beklagten feststellen, ja, er fragt sogar: „Was für ein Verbrechen hat er denn begangen?“ (Matth. 27,23) Die Kleriker verklagen jedoch Jesus wegen Gotteslästerung und fordern seine Kreuzigung als traditionelles Zeichen des Ausschlusses aus Gottes auserwähltem Volk: „Verflucht ist, wer am Holz hängt.“ (Deuteronomium 21,22 f.) Sie setzen Pilatus unter Druck, wollen ihn beim Kaiser in Misskredit bringen und hetzen das Volk auf. Pilatus gibt nach, wäscht sich öffentlich rituell die Hände mit den Worten „Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache.“ Doch der aufgepeitschte Mob schreit: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Matth. 27,24 f.). Dies wurde dann folgerichtig als Selbstverfluchung des jüdischen Volks für den Gottesmord verstanden. Zwar ist in Shakespeares Stück selbst von der Anklage des Gottesmordes nicht die Rede, doch tönt diese gleichsam als Orgelpunkt der fundamentalen Judenfeindschaft unterschwellig mit.

Als Gottesmördern musste den Juden eine spezifische Qualität zugeschrieben werden. Dies tut Johannes, wenn er in seinem Evangelium Jesus (obschon selber Jude) zu den Juden sagen lässt: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt (…) Er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“ (Joh. 8,44)

Die Saat dieser Frohen Botschaft ist bei Luther auf fruchtbaren Boden gefallen: „Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen … Man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, … unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien … ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören.“ (Von den Juden und ihren Lügen, Tomos 8, S. 88 ff.)

So entwickelt sich, zumal in der auf Symbole versessenen Epoche der Renaissance, eine regelrechte Ikonographie des Juden: die Juden als Jesusmörder, kannibalistische Kinderschlächter, Brunnenvergifter, Schurken, Halsabschneider, Wucherer, auf christliche Jungfrauen erpichte geile Böcke. Und dann werden sie die Beute der Dichter.

Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern …“
Nietzsche, Zarathustra

Weit weniger differenziert und bewusst widerspruchsvoll als in seinen anderen Stücken, ja geradezu plakativ steuert Shakespeare im Kaufmann Sympathie und Antipathie und manipuliert so sein Publikum. (Günther, S. 217) Ein Beispiel: Shylocks Tochter Jessica brennt mit ihrem christlichen Liebhaber samt ihres Vaters Geldkassette durch und bezeichnet ihr Vaterhaus als Hölle (II,3,2). Es ging dort, zumal für ein Mädchen im sinnenfroh-liberalen Venedig, sicher streng und muffig zu, aber nicht nur ist ihre Bewertung als übertrieben anzusehen – aufschlussreich ist vielmehr, dass Shakespeare ihr, einer Sympathie-Figur im Stück, den Vergleich mit der Hölle in den Mund legt, damit der Zuschauer mit dem Herrn des Hauses den Teufel assoziiere (so auch in II,2,22 und III,1,19 f.). Folgerichtig wird Jessica am Schluss Christin.

Shakespeare vermeidet immerhin, im Unterschied zu den anderen judenfeindlichen Stücken seiner Zeit, die übelsten Anwürfe – ein Genie wie er hat dies nicht nötig; sein Shylock ist komplexer, vielschichtiger, keineswegs eine „Stürmer“-Karikatur. Shakespeare schreibt kein Stück über Juden, sondern mit einem Juden. (Günther, ebd.) Doch benutzt auch er die anti-jüdischen Stereotypen. Die ersten Worte, die Shylock im Stück spricht, lauten: Three thousand ducats (I,3) – das evoziert sofort das Klischee vom Geldjuden und bedient gezielt die Vorurteile des Publikums.

Solche Stereotypen gibt es im Kaufmann von Venedig zuhauf. Hier vorerst nur ein szenisch besonders eindrückliches Beispiel: Antonio soll seinem jungen Freund Bassanio mit einer Summe von 3000 Dukaten aushelfen; Bassanio, sympathisch, aber verarmt, braucht das Geld, um bei seiner Brautwerbung um die reiche Portia bella figura zu machen: mit Kleidung, Bediensteten, Musikern und prächtigem Schiff samt Besatzung (die Begehrte wohnt auf einer Insel nahe Venedig). Es ist eine erhebliche Summe, und da Antonio sein ganzes Geld in die Übersee-Unternehmung gesteckt hat – Thou know’st that all my fortunes are at sea, sagt er zu Bassanio (I,1,176) – und deshalb im Moment nicht liquide ist, sieht er sich gezwungen, sich an Shylock zu wenden, um ihn um Kredit anzugehen. Shylock erinnert Antonio an die Beleidigungen, die dieser ihm unzählige Male angetan hat (I,3,103 ff.):

SHYLOCK
Signor Antonio, wieviel mal, wie oft
Auf dem Rialto schimpften Sie mich
Von wegen meines Gelds und meiner Zinsen:
Stets trug ich’s achselzuckend mit Geduld …
Sie nennen mich ungläubig, Halsabschneider-Hund,
Und spucken auf mein jüdisches Gewand. (i.e. den Kaftan)
Und alles das nur, weil ich nutze, was doch mein ist.
Nun gut (…) ihr kommt zu mir und ihr sagt,
Shylock, wir brauchen Gelder“, so sagt ihr:
Sie, der Sie Ihren Rotz mir auf den Bart spien,
Und nach mir traten, wie Sie fremde Köter
Von Ihrer Schwelle jagen. (…)

Trotz seiner Zwangslage drückt Antonio unverhohlen seine Verachtung gegenüber dem Juden aus:

ANTONIO
Ich nenn dich jederzeit gern wieder so,
Bespuck dich wieder und ich tret dich auch. (…)

So weit der edle Antonio …
Aufschlussreich ist die Sprechhaltung, die in Günthers Übersetzung genau wiedergegeben ist: Shylock siezt Antonio, Antonio hingegen duzt Shylock. (Im Original gebraucht Shylock das damals formelle you/your, Antonio das informelle und hier herablassende thou/thee.) Weitere Beispiele werden folgen, wenn es um die im Stück diskutierte Problematik des Zinsnehmens geht.

Wir – werden’s nicht vergessen.“ Mephisto zu Fausts Wetteinsatz

Es verschlägt nichts, dass im Stück Shylock dem Kaufmann Antonio das Geld nicht für eine Unternehmung leiht, sondern für dessen in Geldverlegenheit befindlichen Freund; Antonio haftet mit seinem in das Überseegeschäft gesteckten Vermögen, sodass Shylock bis zur Begleichung der Geldschuld dessen Miteigentümer wird. Und selbstredend geht Antonio davon aus, dass die Haftung mit einem Pfund eigenen Fleisches nicht realistisch ist, zumal Shylock selbst versichert, dies sei nur so zum Spaß (in a merry sport) gemeint. (I,3,144) Antonio nimmt die Sache also nicht ernst, auf Bassanios Misstrauen entgegnet er optimistisch:

Ach, keine Angst, Mann, ich werd nicht falliern, –
Innert zwei Monaten, ein Monat eher
Als dieser Schuldschein anfällt steht mir zehnmal (sic!)
Der Wert von diesem Schuldschein doch ins Haus.“ (I,3,154 ff.)

Shylock spielt die Sache auch herunter, indem er sie ins Lächerliche zieht:

Wenn er am Stichtag säumig ist, was hätt
Ich wohl davon,wenn ich die Buße eintreib?
Ein Pfund von Menschenfleisch von einem Menschen
Gehaun ist nicht so wertvoll noch so nützlich
Wie Fleisch von Ochsen oder Ziegen … (I,3,161 ff.)

Und er trägt Antonio auf, dem Notar zu versichern, es handle sich dabei nur um einen Witz von Schuldschein (this merry bond). (I,3,170)

Neue Bühne, neue Rollen: W,G,G‘

Nun zum zweiten Strang der Analyse! Dieser durchzieht den gesellschaftshistorischen Hintergrund. Das Stück spielt im Venedig des 16. Jahrhunderts. Die durch Handel und Raub reiche und mächtige Seerepublik beherrscht das östliche Mittelmeer, rivalisiert mit dem Stadtstaat Genua im Westen. Es ist die Epoche des sich herausbildenden Kapitalismus, der hier natürlich noch nicht als entwickelter Industriekapitalismus, sondern als Handelskapitalismus auftritt, als solcher jedoch mit einer schon differenzierten Geldwirtschaft als machtvoller ökonomischer Kraft.

Was für Venedig gilt, gilt analog für London. In den Jahrzehnten der elisabethanischen Epoche findet ein fundamentaler ökonomischer Wechsel statt: ein Wechsel im Handel, also im Warenverkehr, im Kauf und Verkauf. In der traditionellen Wirtschaft funktioniert der geldvermittelte Warentausch so: Man bringt Waren auf den Markt, tauscht dafür Geld ein, von dem man dann den eigenen Lebens- und Betriebsbedarf bestreitet und neue Waren produziert. Marx hat das in die allseits bekannte Formel W–G–W gebracht. (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 162 ff.)

In der sich entwickelnden neuen Ökonomie wird eine neue Mechanik installiert: „Um die Schranken der begrenzten Individualkapitale zu durchbrechen, kommt es zur Gründung von Kreditwesen und Aktiengesellschaften.“ (Marx, Das Kapital II, MEW 24, 357) Um ausreichend Kapital investieren zu können und das Risiko zu mindern, schließen sich Kaufleute zu Handelsgesellschaften zusammen, so 1555 zur Muscovy Company für den Handel mit Russland, 1592 zur Levant Company für den Handel im östlichen Mittelmeerraum und schließlich 1606 zur East India Company. Das Risiko, alles zu verlieren, ist hoch, aber wenn alles gutgeht, sind die Gewinne immens: Erträge von 300 bis 400 Prozent sind die Regel, 100 Prozent gelten als Misserfolg; die Expedition von Francis Drake, der im Auftrag der Krone Piraterie betreibt, erbringt einen Rekordgewinn von 4.700 Prozent. (Quelle: Wikipedia). Diese Aktiengesellschaften eröffnen der britischen Krone nicht nur neue Märkte und bewirken im Verein mit den Gesellschaften anderer Länder, wie besonders der Niederlande, „die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts“ (Marx, Das Kapital I, MEW, 23, 790); sie fungieren auch als Wegbereiter für die Unterwerfung und Ausbeutung der Völker; besonders lukrativ ist dabei der Sklavenhandel, den Shylock bei der Gerichtsverhandlung dem Dogen als einem Christen und Sklavenhalter im IV. Akt auch mokant vorhält.

Nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles.“ Faust I (entmythisiert)

An solchen so riskanten wie hochprofitablen Geschäften ist auch Antonio beteiligt. In Erwartung hoher Gewinne hat er sein gesamtes Geldvermögen eingesetzt, es zwar vorsichtigerweise nicht nur auf eines, sondern auf drei Schiffe verteilt, doch bald gelten alle drei Schiffe als verschollen, laufen aber zum glücklichen Ende reich beladen in den Hafen ein. In keinem andern Stück von Shakespeare sind Liebe und Ökonomie so eng verschwistert wie in diesem: Das Glück der Liebespaare und der wirtschaftliche Erfolg des wagemutigen Unternehmers vereinigen sich zum allgemeinen Happy End.

Was hier zur Zeit Shakespeares geschieht, stellt einen fundamentalen Wandel in der Ökonomie dar: Es wird Geld investiert, um Waren zu erwerben, und diese werden wieder zu Geld gemacht, das erneut investiert wird, um neues Kapital für neue Unternehmungen zu akkumulieren. Marxens Formel dafür: G–W–G‘. Er bezeichnet dieses „Kapital in Geldform oder das Geldkapital als primus motor (i.e. erste Triebkraft) für jedes neu beginnende Geschäft und als kontinuierlichen Motor“ für weitere Geschäfte (Das Kapital II, MEW 24, 357). Für den „Warenhändler ist es selbstredend, daß sein Kapital ursprünglich in der Form des Geldkapitals auf dem Markt erscheinen muß, denn er produziert keine Waren, sondern handelt nur mit ihnen, vermittelt ihre Bewegung, und um mit ihnen zu handeln, muß er sie zuerst kaufen, also Besitzer von Geldkapital sein“. (Marx, Das Kapital III, MEW 25, 280)

Doch fehlt es in dieser Phase der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ (Marx) an eben diesem. Der Unternehmer muss Geld herbeischaffen, Kredit aufnehmen – und da kommt „der Jude“ ins Spiel. Weil den Juden sowohl der Erwerb von Grund und Boden als auch der Zugang zu den Zünften verwehrt ist, müssen sie sich nach anderen Erwerbsmöglichkeiten umsehen. Die weniger Klugen und Gewandten sind auf zunftfreie und daher wenig angesehene Tätigkeiten verwiesen, sind Kesselflicker, Scherenschleifer, fahrende Händler; die Begabteren spezialisieren sich: auf Rechtswesen, Medizin und – Geldgeschäfte.

Geldgeschäfte sind besonders aussichtsreich, weil es den Christen verboten ist, Geld gegen Zins zu verleihen. Allerdings nicht allen Christen. Einer anfangs noch kleinen, aber zunehmend einflussreichen Sekte ist dies gestattet: den Puritanern. Sie sind eine radikale Gemeinschaft, sind verbohrt in Sinnenfeindlichkeit und Askese und gefallen sich in stolzer Freudlosigkeit; Marx verspottet sie als „die nüchternen Virtuosen des Protestantismus“ (MEW 23, 781). Und sie sind sparsam: die idealen Wegbereiter der Kapitalakkumulation, zumal aufgrund ihrer calvinistischen Orientierung der wirtschaftliche Erfolg ihnen als Ausweis ihrer Gottgefälligkeit und Auserwähltheit für das himmlische Paradies dient. Weshalb nun, mag mancher sich fragen, platziert Shakespeare seinen Kaufmann in Venedig statt in London? Nun, weil es in Venedig eben keine Puritaner gibt und der klamme Antonio gezwungen ist, sich an einen Juden zu wenden, was eben der dramatischen Zuspitzung dient.

Shakespeare – der Konservative, die bestehende Herrschaft Affirmierende – inszeniert sein Drama als religiösen Konflikt, als einen Konflikt zwischen jüdischer und christlicher Religion, und in diesem Rahmen wird das Problem des Zinses – „Wucher“ (engl. usury) genannt – auch damals diskutiert. So auch bei Shakespeare: Im Zentrum seines Kaufmanns von Venedig steht das Problem: Ist Zinsnehmen statthaft oder nicht? Das ist nicht nur ein religiös – ethischer Konflikt, in ihm steckt auch ein drängendes finanztechnisches Problem der elisabethanischen Zeit.

„… die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei … im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“ Marx/Engels, Kommunistisches Manifest

Blicken wir zunächst auf den christlichen Standpunkt! Dieser spricht sich eindeutig gegen das Zinsnehmen aus, weil es widernatürlich sei und gegen die christliche Nächstenliebe verstoße. Die Auffassung von der Widernatürlichkeit geht, wie so vieles in der katholischen Kirche, auf die Autorität des Aristoteles zurück. Dieser setzt die Ökonomik als die natürliche Erwerbskunst, die der grundlegenden Bedürfnisbefriedigung dient, der Chrematistik als der widernatürlichen Erwerbskunst entgegen, da sie nur darin bestehe, Geld zu akkumulieren: „So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. (…) Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“ (Politik, 1. Buch, Kap. 3) Denn lebendige Wesen vermehrten sich auf natürliche Weise; widernatürlich sei jedoch, dass lebloses Metall auf abstrakte Weise sich vermehre.

Die christliche Lehre betrachtet das Zinsnehmen als Sünde gegen das Gebot der Nächstenliebe und Brüderlichkeit. Shakespeares Sprachrohr im Stück ist der Kaufmann Antonio, der den christlichen Standpunkt vertritt.

Antonio zu Shylock (I,3):
Shylock, obwohl ich weder leih noch borge
Und Wucherzinsen weder nehm noch gebe (…)
denn wann je nahm Freundschaft
Vom Freund die Frucht von unfruchtbarm Metall?

Shylock als glaubensfester Jude beruft sich auf Gottes Gebot, wonach man zwar von seinen Glaubensgenossen keinen Zins nehmen darf, wohl aber von Nichtjuden: „Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen, weder Zinsen für Geld noch für Getreide noch Zinsen für sonst etwas … Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, von deinem Bruder darfst du keine Zinsen nehmen, damit der Herr, dein Gott, dich segne in allem.“ (Deuteronomium 23,20 f.) So borgt Shylock, um Antonio die hohe Geldsumme zu verschaffen, von seinem reichen Glaubensgenossen Tubal Geld, ohne dass dieser Zinsen verlangt.

Die junge kapitalistische Ökonomie giert nach Kapital, um wachsen zu können. Zwar wird in zwei Publikationen noch gegen das Zinsnehmen polemisch zu Felde gezogen, so 1572 von Thomas Wilson mit seiner Schrift Discourse Upon Usury, und noch 1594 in einem von einem unbekannten Verfasser stammenden Pamphlet The Death of Usury, or, The Disgrace of Usurers, in dem die Geldverleiher als Wölfe und Teufel geschmäht werden; jedoch wird unter dem „stumme(n) Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx, MEW 23, 76) das Zinsverbot zunehmend umgegangen, und 1571 gestattet Königin Elisabeth I. Kreditgeschäfte und begrenzt den Zinssatz auf 10 Prozent. Francis Bacon, einer der bedeutendsten Wegbereiter des Rationalismus, bestätigt in seinem Essay Of Usury (3. Aufl. 1625) aufgrund der wirtschaftlichen Erfordernisse nüchtern-zweckrational die Notwendigkeit des Zinsnehmens; denn „it is certain that the greatest part of trade is driven by young merchants, upon borrowing at interest“ und „that it is a vanity to conceive, that there would be ordinary borrowing without profit”. (http://www.authorama.com/essays-of-francis-bacon-42.htm [2])

Kleiner theologischer Exkurs:

Als im Hochmittelalter infolge des sich ausweitenden Handelsverkehrs auch das Zinsnehmen häufige Praxis wird, entwickeln Theologen wie z.B. Anselm von Canterbury und Petrus Lombardus ein weiteres, eben spezifisch theologisches Argument gegen das Zinsnehmen: Wucherer seien Diebe, denn sie handeln mit der Zeit; Wucher sei Diebstahl von Zeit, die Zeit sei jedoch Eigentum Gottes und daher dem Menschen unverfügbar; bemächtige sich der Mensch der Zeit, begehe er eine schwere Sünde. Dazu Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 2008 (1988), S. 43 ff. Für den Hinweis danke ich Frank Engster. – Das Argument der „gestohlenen Zeit“ spielt in der elisabethanischen Epoche keine Rolle. Der Aspekt der Zeit verdiente es jedoch, mit den Kategorien der Marx’schen Theorie philosophisch-ökonomisch eingehend untersucht zu werden.

Gleichwohl haftet dem Zinsnehmen noch lange der Ruch des Unmoralischen an, und man projiziert dies, zur eigenen Entlastung, auf einen Sündenbock, als welcher traditionell „der Jude“ parat steht. Das mündet im 20. Jahrhundert in die polemische Entgegensetzung des „schaffenden Kapitals“ des ehrbaren Arbeiters und des im Dienst seiner Nation tätigen Unternehmers auf der einen Seite und zum „raffenden Kapital“ des plutokratischen, vaterlandslosen Juden auf der andern. Ausgeblendet wird dabei, dass beides zwangsläufig zum Prozess des Kapitalismus gehört: das Kapital als „anonymes automatisches Subjekt“ (Marx, MEW 23, 169), als der rastlos „sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld“. (Marx, Das Kapital III, MEW 25, 405) Moishe Postone hat dies in seinem Essay Nationalsozialismus und Antisemitismus zu der ebenso kühnen wie denk-würdigen These zugespitzt, dass mit der Vernichtung der Juden in der Shoah die Vernichtung dieser abstrakten Dimension der Selbstverwertung des Werts in verborgener Weise intendiert war: „Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.“
(https://www.streifzuege.org/1978/nationalsozialismus-und-antisemitismus/ [3])

Applaus für G‘!

Mit der ökonomischen Umwälzung im 16. Jahrhundert ändert sich auch die Funktion des Geldverleihens: Aus dem traditionellen Geldverleiher Shylock wird ein prämoderner Finanzmakler. Er investiert Geld, um mehr Geld zu erzeugen. Er tut das, was Marx im Kapital so formuliert:

„Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G–G‘, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozess, der die beiden Extreme vermittelt. Im Kaufmannskapital G–W–G‘ ist wenigstens die allgemeine Form der kapitalistischen Bewegung vorhanden, obgleich sie sich nur in der Zirkulationssphäre hält … Die Form des Kaufmannskapitals stellt immer noch einen Prozess dar, die Einheit entgegengesetzter Phasen, eine Bewegung, die in zwei entgegengesetzte Vorgänge zerfällt, in Kauf und Verkauf von Waren. Dies ist ausgelöscht in G–G‘, der Form des zinstragenden Kapitals.“ (Das Kapital III, MEW 25, 404)

Shylock hat diese Selbstverwertung prinzipiell begriffen, formuliert den abstrakten Vorgang aber noch in naturhaften Kategorien. Er beruft sich, stolz auf seine Ahnenschaft, auf das Zeugnis der Bibel (Genesis 29): Jakob freit um Labans Tochter Rahel, wird von Laban hinters Licht geführt, hütet vierzehn Jahre lang dessen Schafe und erreicht durch einen Trick, dass er am Ende mehr Schafe besitzt als Laban selbst. Shylocks Schlussfolgerung daraus: Das war Gewinn tun, und er war gesegnet: / Ja, und Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt. (I,3,86f.) Antonio tut das ab: Dies sei vom Himmel gelenkt worden und sei daher keine Rechtfertigung fürs Zinsnehmen. Aufschlussreich ist seine eigene Deutung: Jakob habe Geschäftsglück (venture) (I,3,88) gehabt – und zieht so eine Linie zu seinen eigenen riskanten geschäftlichen Unternehmungen. Schaf und Widder, so Antonio weiter, vermehren sich, aber Gold und Silber doch nicht! (I,3,92) Shylock darauf: Ich weiß nicht, ich lass es halt ebenso rasch sich fortpflanzen (I cannot tell, I make it breed as fast). (I,3,94) Bezeichnend ist, dass Shylock für den Vorgang der abstrakten Geldvermehrung den Ausdruck breed benutzt, der züchten, brüten, fortpflanzen bedeutet. Was hier als neuartiges Phänomen sich verbirgt, aber von den Zeitgenossen analytisch noch nicht begriffen wird, ist die notwendige Scheidung der kapitalistischen Produktivfunktion im Fall von Kreditgeschäften: die Scheidung des Eigentums vom Besitz des Geldes. Diese Scheidung ist sozial bereits personifiziert und wird vom Eigentümer (samt seinen Parteigängern) gegen den Geldverleiher antisemitisch aufgeladen.

Überall geht ein früheres Ahnen dem späteren Wissen voraus.“ Alexander von Humboldt

Von diesem Prozess und dessen ideologischer Verhüllung weiß Shakespeare nichts, aber seine poetische Intuition reicht so weit, dass er in seinen Figuren des Kaufmanns und des Juden ein tertium comparationis erkennt: das Geld. Dieses gemeinsame Dritte hebt in einem entscheidenden Punkt die Verschiedenheit der beiden Figuren auf. Bezeichnend dafür ist, dass Portia, verkleidet als junger Jurist, beim Eintritt in den Gerichtssaal die Frage stellt: Wer ist der Kaufmann hier? und wer der Jude? (IV,1,172) – eine überflüssige Frage, ist doch der Jude einwandfei zu erkennen an seinem Kaftan, dem Spitzhut und den gelben Binden an den Ärmeln, da derart auffällig sich zu kleiden die Juden in Europa seit 1215 gezwungen sind. Dies ist ein vortreffliches Beispiel dafür, wie die poetische Intuition des Autors ihn eine Erkenntnis formulieren lässt, die ihm rational nicht zugänglich ist. Derlei findet sich häufig bei Shakespeare und zeugt für sein Genie.

Die berühmte Gerichtsszene im IV. Akt ist mit ihren überraschenden Wendungen raffiniert und spannend konstruiert wie Billy Wilders Gerichtsfilm Zeugin der Anklage. (By the way: Lebte Shakespeare heute, würde er Filme drehen – Hitchcock ein legitimer Nachfolger Shakespeares?) In dieser Szene funktioniert die bereits eingespielte Sympathie- und Antipathie-Steuerung aufs Allerbeste: hier der märtyrergleich geduldig in sein Schicksal sich fügende Antonio, dort der unbarmherzige, rachsüchtige Shylock. Es geht diesem nur um Rache an Antonio; dessen Fleisch, höhnt er, sei ihm zwar zu nichts nutze, allenfalls

zum Fische ködern – wenn es sonst nichts nährt, so nährt’s doch meine Rache an ihm, denn der hat mich entehrt, mir ‘ne halbe Million verhindert, meine Verluste verlacht, meine Gewinne verhöhnt, mein Volk mir geschmäht … (III,1,47 ff.)

Sein darauf folgender großer Monolog wird oft als humanistische Beschwörung der Gleichheit aller Menschen im Sinne von Lessings Nathan verstanden und wird von gutgesinnten Regisseuren und Schauspielern entsprechend in Szene gesetzt, am bewegendsten wohl in Ernst Lubitschs Filmkomödie Sein oder Nichtsein von 1942, der Zeit der schrecklichsten Judenverfolgung. Shylocks Rede lautet so:

Und was ist sein (scil. Antonios) Grund? Ich bin ein Jud. Hat nicht ein Jud auch Augen? hat nicht ein Jud auch Hände, Glieder, Körper, Sinne, Sehnsucht, Leidenschaft? genährt von gleicher Nahrung, verletzt von gleichen Waffen, anfällig gleichen Leiden, geheilt durch gleiche Mittel, fühlt er nicht warm und fühlt er nicht kalt vom gleichen Winter wie vom gleichen Sommer ganz wie ein Christ? – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? und wenn ihr uns Unrecht tut, solln wir uns dann nicht rächen? wenn wir sind, wie ihr in allem andern seid, dann wolln wir uns auch darin ähneln. Wenn ein Jud einem Christen Unrecht tut, was wird aus dessen Demut? Rache! Wenn ein Christ einem Jud Unrecht tut, was sollt dessen Duldung sein nach christlichem Vorbild? – Rache, ja was sonst! Die Schuftigkeit, die ihr mich lehrt, die will ich ausführn, und’s wird hart angehn, aber ich Lehrling will euch Meister übertreffen. (III,1,51 ff.)

Das ist kein Appell an Humanität, sondern eine Begründung der Rache. Nichts anderes.

Göttin Justitia: blind, aber schlitzohrig

Unerbittlich erweist sich Shylock bei der Gerichtsverhandlung. In ihr prallen fundamental gegensätzliche Themen aufeinander: „Gnade und Recht; Vergeltung und Vergebung; Rache und Erbarmen; Altes Testament gegen Neues Testament.“ (Günther, S. 250)

Alle Einigungsbemühungen, auch die doppelte Summe, die Bassanio von seiner Braut Portia erhält, lehnt er ab. Selbst der Doge, die höchste Autorität Venedigs, appelliert an Shylock, Gnade walten zu lassen: Wie hoffst du nur auf Gnade und übst keine? (IV,1,88) Er spielt damit auf das Jüngste Gericht an und zielt auf die göttliche Gnade, auf die letztlich jeder angewiesen ist und die auszuschlagen wohl die schwerste aller Sünden ist. Vergebens. Shylock setzt noch eins drauf. Er kompromittiert die Christen, indem er ihnen ihre eigene Doppelmoral vor Augen hält (und Shakespeare wäre nicht das einzigartige Genie, wenn er nicht auch dies dem Bösewicht zugutehielte). Und Shylock spricht den Dogen mit You/Yours/Sie/Euer direkt herausfordernd an:

SHYLOCK
Tu ich kein Unrecht – was fürcht ich das Gericht?
Sie haben viel gekaufte Sklaven um sich,
Die Sie wie Ihre Esel, Hunde, Mulis
Für knechtische und niedre Dienste nutzen,
Weil Sie sie kauften. Soll ich Ihnen sagen,
Gebt sie doch frei, vermählt sie Euren Erben?
Was schwitzen sie vor Müh? gebt ihnen Kissen
Daunweich wie Ihres, kitzelt ihren Gaumen
Mit Speisen wie Ihren eignen? Da sagen Sie:
Die Sklaven sind mein eigen“, – drum sag ich:
Das Pfund an Fleisch, das ich von ihm verlang,
Ist hoch bezahlt, s’ist meins, und ich will’s haben:
Wenn Sie’s mir weigern – gespien auf Ihr Gesetz!
s liegt keine Macht mehr in Venedigs Recht!
Ich wart aufs Urteil: – Antwortet! soll ich’s haben?
(IV,1,89 ff.)

Mittels eines sophistischen, aber juristisch einwandfreien Tricks wird Antonio gerettet: Bassanios Braut Portia, verkleidet als junger Rechtsgelehrter im Auftrag eines hochangesehenen Juraprofessors, erklärt Shylocks Vertrag für einwandfrei und gibt ihm zunächst recht. Die Szene ist von ungeheurer Dramatik, von Hitchcock-gleichem Suspense: Antonio wird am Stuhl festgebunden, seine Brust entblößt, ein Beißholz ihm zwischen die Zähne gesteckt, Shylock nähert sich ihm mit blankem Messer und setzt es an Antonios Brust an. In diesem Augenblick greift der junge Jurist ein: Portia lässt eine Waage herbeiholen, auf der – so erklärt sie streng – exakt ein Pfund von Antonios Fleisch abzuwiegen sei – nicht ein Gramm zu viel oder zu wenig sei ihm gestattet. Überdies, so erklärt sie, sei es Shylock bei Todesstrafe verboten, auch nur einen einzigen Tropfen Christenblut – one drop of Christian blood (IV,1,308) – zu vergießen. Dieser Coup hat seine höhere Weihe: Da nach der Theologie des Paulus alle Christen durch Taufe und Christi Erlösungswerk „ein Leib in Christus“ sind (Röm.12,5 und 1 Kor 12,27), würde der Jude, der eines Christen Blut vergösse, abermals Christus morden. Paulus spricht vom Leib in einem geistlichen Sinn, doch wer schert sich um solche Feinheiten, wenn es gilt, dem Juden eine Falle zu stellen? Zwar ist von der Anklage des Gottesmordes im Stück nicht die Rede, doch tönt diese gleichsam als Generalbass der Judenfeindschaft unaufhörlich mit. Da kapituliert Shylock und verzichtet auf die vertraglich festgelegte Buße.

Der Gerichtsprozess hat seine eigene untergründige Symbolik. Der Jude will aus des Christen Leib Fleisch herausschneiden um kalten Metalls willen: lebendiges Fleisch gegen abstrakt gewonnenes, totes Geld; „gutes“, in kühnen Unternehmungen eingesetztes Kapital gegen spekulativ erworbenes „schlechtes“ Kapital; schaffendes Kapital gegen raffendes Kapital.

Gnade erniedrigt wie Schande.“ Laotse

Shylock steht aufs äußerste kompromittiert da. Doch ist der Prozess noch nicht beendet. Der Zivilprozess wandelt sich in einen Strafprozess um; juristisch zwar unzulässig, doch Dichter nehmen sich die Freiheit. Mit den Worten Damit du siehst, wie andern Geists wir sind (IV,1,366) schenkt der Doge ihm das Leben – sein Leben hat Shylock wegen seines Mordversuchs an Antonio anscheinend verwirkt. Allerdings, verfügt der Doge weiter, solle Shylocks Besitz zur einen Hälfte Antonio zufallen, zur andern dem Staatsschatz. Shylock stürzt in Verzweiflung: Eher solle man ihn töten, als ihn in den materiellen Ruin treiben: Ihr nehmt mein Leben, wenn Ihr die Mittel nehmt, wovon ich lebe. (IV,1,375) Ohne Geld ist der Geldjude ein Nichts.

Doch damit nicht genug. Der Gerichtsprozess erhöht sich zum Schauprozess. Die Gnade des Dogen wird überreicht: Der Jude solle sich zum Dank für die ihm erwiesene Gnade unverzüglich taufen lassen – for this favour he presently become a Christian. (IV,1,384f.) Tief resigniert willigt Shylock ein. Die Taufe bedeutet für ihn als tiefgläubigen Juden die Auslöschung seiner geistigen und religiösen Identität. Über den im Innersten vernichteten Juden ergießen sich nun Hohn und Spott (und das Publikum hat seinen Spaß). Für uns Heutige stellt diese Demütigung eine grausamere Strafe dar, als selbst die Hinrichtung es wäre. Doch ist es, in christlicher Sicht betrachtet, tatsächlich eine Gnade, die Shylock zuteil wird: Denn durch die Taufe bekommt er die Chance, in den Stand der Gnade zu kommen und vor der ewigen Verdammnis bewahrt zu werden. Theologie hat ihre eigene Logik: Though this be madness yet there is method in it. (Hamlet, II,2)

Was tun?“ W. I. Uljanow

Wie soll man dieses Stück heute spielen?
Ein literarischer Text, von seinem Autor in die Welt entlassen, gewinnt im Lauf der Geschichte ein Eigenleben, das unabhängig von seinem Autor sich entfaltet. Der Leser stellt an den Text neue Fragen, konfrontiert ihn mit Problemen, die sich aus den Erfahrungen der Geschichte ergeben haben, und so können im Text verborgene Sinnschichten sich eröffnen, solche, die der Autor nicht bewusst, sondern intuitiv gestaltet hat, ja, sogar auch solche, die im Widerspruch zu seiner Auffassung stehen. So lange dies geschieht, bleibt Dichtung lebendig.

Dies aber ist das Problem beim Aufführen des Kaufmanns von Venedig. Shakespeare hat – ich wiederhole Günthers Auffassung – nicht ein Stück über einen Juden, sondern mit einem Juden geschrieben. Zweifellos ist „die antijüdische Tendenz des Textes eine gewollte Kernaussage des Stückes“; gleichwohl ist Shakespeares Kaufmann von Venedig „kein antisemitisches Pogromstück“. (Günther, S. 215)

Doch müssen alle gutgemeinten Versuche einer „Rettung“ des Stücks durch eine bemüht positive Zeichnung des Juden Shylock an der offenkundigen anti-jüdischen Tendenz des Stücks scheitern. Denn die Erfahrungen der Shoah sind allzu erschütternd und überwältigend, als dass es möglich wäre, dieses harte Bild eines bösartigen Juden weich zu zeichnen.

Wie soll man nun mit diesem Stück verfahren? Meine Meinung ist: Theatermacher sollten es für hundert Jahre aus dem Spielplan streichen und danach sehen, ob inzwischen eine Zeit eingetreten sei, in der Juden sich nicht mehr fürchten müssen. Da mag man es dann aufführen.


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