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Krisis 14 — Editorial

Wer sich an Bedeutung und Funktion von Politik kritisch-historisch heranzutasten versucht und in vergangenen Gesellschaften nach strukturell artverwandten Phänomenen fahndet, dem drängt sich der Vergleich mit der Religion auf. Wenn der Staat in der Moderne den Platz einer abstrakten Allgemeinheit einnimmt, also jenseits der Gesellschaft verortet ist, und doch gleichzeitig allgegenwärtig den Rahmen für das Alltagstreiben der Warensubjekte setzt, dann erinnert das fatal an die Stellung Gottes in der von ihm geschaffenen Welt. Sowohl Jahwe als auch der Staat sind transzendente, gesonderte Wesen, die paradoxerweise für das Ganze stehen und es umgreifen.

Es hat Jahrhunderte gedauert, bis die Politik, d.h. die staatsbezogene Aktivität, Gottes Thron für sich erobern konnte und die Religion im Gegenzug ihren Allgemeingültigkeitsanspruch einbüßte, um zur Privatangelegenheit herabzusinken. Die Affinität von Staat und Gott war in diesem Ablösungsprozeß aber von Beginn an spürbar. Schon Thomas Hobbes, einer der Kirchenväter der Staatstheorie, bezeichnete in seinem »Leviathan« den Staat als den »mortal god« und brachte in dieser Formel instinktsicher den Bezug von Religion und moderner Staatlichkeit auf den Punkt.

Die heutigen Apologeten von pluralistischer Demokratie und »offener« politischer Regulationsweise, die sich pragmatisch geben, haben diesen Zusammenhang konsequent verdrängt. Ziehen sie Parallelen zwischen politischem und religiösem Bekenntnis, so denken sie ausschließlich an ein verflossenes »ideologisches Zeitalter«, an die Haltung ihrer dahingeschiedenen Ex-Gegner auf dem Schlachtfeld des Politischen, die von ihnen als Vertreter eines rechten oder linken Totalitarismus gefaßt werden. Ihr eigenes Credo scheint hingegen gerade aufgrund der für ihr Selbstverständnis konstitutiven, naserümpfenden Distanzierung von den als Diesseitsreligionen entlarvten Lehren des Marxismus oder des Nationalsozialismus mit religiösem Bewußtsein nichts mehr gemein zu haben.

Eins übersehen die vermeintlich so aufgeklärten Befürworter der pluralistischen Demokratie dabei allerdings. Religiosität existiert nämlich nicht nur als Chiliasmus. Wenn die beständige politische Mobilisierung der Volksmassen historisch vom »Systemstandpunkt« aus gar nicht mehr nötig ist, und wenn politische Emphase oder Begeisterungsfähigkeit nur mehr in homöopathischer Dosierung gebraucht werden, dann heißt dies noch lange nicht, daß damit auch die religiösen Züge des Politikglaubens verschwunden sind. Diese besondere, moderne Form des Glaubens und der säkularisierten Religion (Staatsreligion im wahrsten Sinne des Wortes) tritt vielmehr lediglich in ihre gewissermaßen amtskirchliche Phase ein.

Vor allem eine Tatsache ist es, die darauf verweist, daß es sich beim politischen Denken auch im Zeitalter der pluralistischen Demokratie um eine Abart von religiösem Bewußtsein handelt. Wie alle Glaubensformen, so setzt auch das moderne Politikverständnis seinen Anbetungsgegenstand ganz selbstverständlich voraus, behandelt ihn als causa prima und kommt gar nicht auf die Idee, die Frage nach seinem Bedingungszusammenhang zu stellen. Genauso wie im Mittelalter den Menschen Gott und sein Wirken in der Welt eine unhintergehbare Gegebenheit war, so erscheint dem Warensubjekt die Politik als eine präexistente, ontologische Größe. Es kann sich schlicht und einfach keine Vergesellschaftung jenseits der Formen abstrakter Allgemeinheit vorstellen, d.h. jenseits von Staatlichkeit und Politik einerseits und Geld andererseits. Politik gibt es, so das Credo, seitdem es überhaupt Gesellschaftlichkeit gibt, und sie wird ebenso wie das Geld bis zum Jüngsten Tag weiterexistieren. Amen!

Spätestens die heutige »Krise der Politik« bringt ans Licht, daß diese Sichtweise nicht nur aus Trägheit und mangelnder Phantasie resultiert, sondern daß ein lupenreines Dogma am Werk ist. Die Krise des Politischen ist nämlich nicht Anlaß zur demokratischen Selbstkritik, sie weckt keine Zweifel am Ewigkeitscharakter des Politischen, sondern sie führt erst einmal zu dessen erbitterter Fortschreibung. Das gilt für den Alltagsverstand ebenso wie für die theoretische sozialwissenschaftliche Reflexion. Was die Massenstimmung und ihren tagespublizistischen Niederschlag angeht, so gehört es zwar mittlerweile zum guten Ton, über »das Versagen der Politik« Klage zu führen; gemeint ist damit aber immer nur das Versagen der jeweils amtierenden politischen Eliten und nicht etwa die Paralyse der politischen Regulationsform selber.

Auch wenn sich sämtliche real existierenden politischen Kräfte täglich neu blamieren, auch wenn sich kaum einer beim Anblick von Figuren wie Berlusconi, Jelzin-Schirinowski oder Kohl-Scharping eines gewissen Brechreizes erwehren kann: all dies tut dem Glauben an das Medium der Politik als solchem keinen Abbruch. All diejenigen, die ihr Interesse am Gesellschaftlich-Allgemeinen nicht ersatzlos fahren lassen, landen unweigerlich der Schwerkraft der Formbeziehung folgend wieder bei der Politik und ihrem Elend und orientieren sich bewußtlos auf das auseinanderbrechende politische Bezugssystem. Noch die obskursten Protestparteien, die in der Krise der Politik wie Pilze aus dem Boden schießen, gerieren sich als ernstzunehmende politische Gegenkräfte und reproduzieren aus Leibeskräften im Protest gegen die offizielle Politik die Politik-Illusion. Ihr Auftreten markiert nicht nur die Zersetzung des Politischen, sondern gleichzeitig auch sein Fortwuchern über die ihm gesetzte historische Grenze hinaus (dasselbe könnte auch von der anderen Seite der abstrakten Allgemeinheit gesagt werden, dem Geld nämlich, das in den Formen des fiktiven Kapitals ein historisches Nach- und Scheinleben führt).

Der Zusammenbruch der politischen Form vollzieht sich nicht nur hinter dem Rücken des gemeinen Alltagsverstands. Auch im laufenden sozialwissenschaftlichen Diskurs weigern sich die Protagonisten konsequent, so etwas wie den Bruch mit der Politik als System ins Auge zu fassen. Insbesondere in der links-liberalen Abteilung des Geistesbetriebs gehört die Apotheose des Politischen zum common sense, ja der emphatische Politikbegriff dient mehr denn je als der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem sich dieses Spektrum noch treffen kann. Nachdem die hereinbrechende Krisenwirklichkeit die abgehalfterten Demokratisierer und ihre Stichwortgeber von jeder ernstzunehmenden programmatisch-inhaltlichen Reformorientierung befreit hat, die sich nicht a priori schon auf die »Gesetze der Marktwirtschaft« verschworen hätte, gewinnen sie mittlerweile ihr Selbstbewußtsein wesentlich daraus, daß sie sich entschieden für die Verteidigung der leeren politischen Form stark machen.

Nicht nur der unsägliche Habermas’sche »Staatsbürgerpatriotismus« gedeiht heute prächtig. Auch Autoren wie Ulrich Beck singen in diesem Chor lautstark mit. Angesichts der Misere, in die seine fröhliche »Risikogesellschaft« und die »reflexive Moderne« insgesamt hineinstolpern, kennt auch er nur ein Remedium: die angebliche (Neu)»erfindung des Politischen«. Die satte Selbstverständlichkeit, mit der die Politik als Regulationssphäre immer vorausgesetzt wurde, kippt in eine Beschwörungsformel um. Die Politik darf einfach nicht sterben! Denn ohne die (neu)erfundene Politik als einzigem denkbaren Hoffnungsträger in einer von vielerlei Katastrophengefahr bedrohten Welt des totalen Marktes bleibt, so Beck, »nur Staub zu fressen und die >bewährten Libretti< des Fatalismus zu intonieren«. Feierlich deklamiert der Risikosoziologe gegen den Popanz kulturpessimistischer Untergangsprophetik: »Handeln ist möglich und chancenreich«, und damit ist die Apotheose des Politischen für ihn auch schon begründet. Diese »Argumentation« ist ebenso simpel wie bezeichnend. Beck nimmt wie alle anderen »Politikretter« Politik ganz selbstverständlich prinzipiell als den einzigen Modus, in dem die Menschen auf die Inhalte und Probleme ihres eigenen gesellschaftlichen Zusammenhangs Einfluß nehmen und ihn gestalten können. Politikmachen und gesellschaftliches Handeln verschmelzen ihm unbesehen zu Synonymen.

Gewiß kann Beck zugestanden werden, daß er in seine »Neuerfindung« des Politischen im Unterschied zum offiziellen politischen System die Basisbewegungen, nicht-politischen Initiativen usw. (bezogen auf die »neuen sozialen Bewegungen« seit Ende der 70er Jahre) mit hineinnehmen möchte. Das scheint auch uns ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Aber damit wird, nimmt man diesen Weg ernst, die Frage nach der Aufhebung der Politik als ausdifferenziertes System aufgeworfen. Und Aufhebung heißt bekanntlich auch, das Moment der Negation und »Beseitigung« wahrzunehmen und diesem Moment nicht auszuweichen. Genau dieses Ausweichen ist aber beim Beckschen »Politikrettungsprojekt« festzustellen. Es fällt ihm natürlich erst recht nicht ein, Geld und Markt oder Staat auch nur ansatzweise in Frage zu stellen, d.h. eben den Funktionszusammenhang, in dem Politik als System immer schon steht. Was ist dann die Rede von der »Entkernung des Politischen« (Beck) noch wert, die der Politik ihren transzendentalen Charakter nehmen soll? Dieser resultiert aber seinerseits aus dem transzendentalen Charakter der Bezugsformen des Abstrakt-Allgemeinen von Geld und Staat, wie Marx gezeigt hat, und er haftet daher der Politik als solcher an. Beck würde wahrscheinlich das Problem der fundamentalen Kritik, das in dieser Frage nach dem transzendentalen Charakter von Geld und Staat aufscheint, als »fruchtlose Utopie« abtun nach dem Muster des scheinpragmatischen Demokratismus. Es handelt sich hier keineswegs um einen »Streit um Worte«, es handelt sich vielmehr darum, wie weit man gehen muß, damit die Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Leben von den fetischistischen Entfremdungsmächten Geld und Staat zurückgewinnen. Gerade die diversen »Neuerfindungen des Politischen« drohen, indem sie die basalen Fetischformen der Moderne blind fortschreiben, selbst ihre guten Intentionen in ein bloß verbales »Umdefinieren« zu verwandeln, und das ist noch viel »fruchtloser« als die utopischste Utopie. Dieses Spiel mit Worten führt praktisch dahin, die autonome Aktivität an den Systemcharakter der Politik auszuliefern, wie die Entwicklung der grünen Partei schon überdeutlich gezeigt hat, die zum politizistischen Totengräber der »neuen sozialen Bewegungen« geworden ist.

Die Gleichsetzung von gesellschaftlichem Handeln und Politik, die in diese nicht bloß begriffliche Misere führt, ist gleich in einem doppelten Sinne falsch. Zum einen handelt es sich bei der Politik um keine überhistorische Erscheinung. Auf die Gesamtgesellschaft bezogenes Handeln nimmt nur in einer besonderen Epoche die Form der Politik an. Vorkapitalistische Gesellschaften haben ihre Synthese nicht über eine ausdifferenzierte politische Sphäre hergestellt, und auch die nachkapitalistische Gesellschaft wird eine postpolitische sein. Das, was wir unter Politik verstehen, ist an die Herrschaft der Warenform gekoppelt und damit historisch eindeutig verortbar. Zum anderen ist die Politik auch innerhalb ihres historisch begrenzten Gültigkeitsbereichs keineswegs mit gesellschaftlichem Handeln schlechthin identisch. Es handelt sich dabei immer um eine spezifische (und das heißt vor allem in ihrer Reichweite beschränkte) Form dieses Handelns. In der gegenüber den Alltagsbeziehungen verselbständigten politischen Sphäre können sich die Menschen keineswegs in einem nach Möglichkeit »herrschaftsfreien Diskurs« darüber verständigen, wie sie ihren gemeinschaftlichen Zusammenhang einzurichten und zu organisieren gedenken. Im politischen Streit lassen sich vielmehr lediglich die allgemeinen Rahmenbedingungen aushandeln, in denen die immer schon als Geldsubjekte gesetzten einzelnen ihren gesellschaftlich-ungesellschaftlichen Verkehr abwickeln. Die Doppelgottheit von kapitalisiertem Geld und Staat läßt nichts anderes »aushandeln« als den Dienst an ihr, nicht aber unmittelbar die Bedürfnisse und die Ressourcen.

Die Liebhaber des Politischen verwischen diesen Unterschied und drücken sich damit um die entscheidende Einsicht. Gerade der gesellschaftliche Basisprozeß, der in alle zentralen sozialen und ökonomischen Entwicklungen eingeht, ist jedem politischen Handeln vorgelagert und damit jedem politischen Regulationspotential entzogen. Weder dem ökologischen Zerstörungswerk, das die tautologische Selbstzweckbewegung abstrakter Arbeit in Gang setzt, noch dem Ausbrennen der arbeitsgesellschaftlichen Grundlage selber haben Politik und Staat als von eben dieser Selbstzweckbewegung abhängige Größen etwas entgegenzusetzen. Politische Eingriffe modifizieren lediglich den Verlauf der Weltmarktkonkurrenz. Alle Staaten sind bemüht, die Stellung ihres Verwertungsstandorts auf Kosten der konkurrierenden Standorte zu verbessern. Das hat aber nichts damit zu tun, daß Politik in der Lage wäre, die von der Verwissenschaftlichung der Produktion ausgelöste Krise der globalen Arbeitsgesellschaft irgendwie zu managen und zu bewältigen.

Die Zähigkeit, mit der sich die Politik-Illusion reproduziert, ist vor allem der Last der Vergangenheit geschuldet. Der Glaube an die Politik lebt vom Blick zurück, er extrapoliert die Konstellation, wie sie die letzten beiden Jahrhunderte geprägt hat, und projiziert ihre Kriterien automatisch in die Zukunft. Die Politik war zwar noch nie tatsächlich ihre eigene Herrin. Solange sie aber noch als ein Moment im Durchsetzungsprozeß der modernen Warengesellschaft funktionierte, lag es durchaus nahe, ihr so etwas wie »Souveränität« zuzuschreiben. In einer Ära, in der im Kampf konkurrierender politischer Kräfte der institutionelle Rahmen der modernen Arbeitsgesellschaft erst entstand und eine politische Sphäre im beständigen Ringen mit prämodernen Verhältnissen und Haltungen sich erst sukzessive etablierte, konnte die neugewonnene abgeleitete Macht des Politischen zunächst als dessen ureigenstes Vermögen erscheinen. Solange der Staat sich und die Gesellschaft gewaltsam der Logik moderner Warenproduktion gemäß umformte, konnte diese Transformation leicht in den Geruch geraten, für den Endsieg des Staates über die Gesellschaft und für den Triumph des »politischen Subjekts« zu stehen.

Dieser »Irrtum« wurde selber geschichtsmächtig, ja konstitutiv für die Durchsetzungsgeschichte des warenproduzierenden Systems bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die politischen Protagonisten von Lenin bis Roosevelt und Hitler konnten ihr Werk nur vollbringen, weil sie von der Allmacht des politischen Willens überzeugt waren. Aber nicht nur die Handelnden saßen dem Quidproquo auf. Eine ganze Generation namhafter Denker erhob diese Illusion, insbesondere unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft, in den Rang eines Theorems. Horkheimer etwa, um nur einen Vertreter des linken Flügels dieser breiten Strömung zu nennen, sah im »autoritären Staat« die vollzogene und nicht mehr hintergehbare Emanzipation der Politik von der Ökonomie.

Mittlerweile hat die empirische Entwicklung diese Sichtweise allerdings gründlich falsifiziert. Die Enkel der Kritischen Theorie müssen schon die eigene Ignoranz zum Argument wenden, um noch treu und brav die Zauberformel von der »Sistierung der Zirkulationssphäre« nachzuplappern und sich so etwas wie die Herrschaft der Politik über die Ökonomie zurechtzuimaginieren. Die schnöde Wirklichkeit bietet eine gänzlich andere Perspektive. Heute erschüttert nicht mehr der Vormarsch der Politik den Erdball, die nun selbstherrlich die Welt nach ihrem Ebenbilde formen würde; wir erleben vielmehr den Kollaps des Politischen, den langsamen und qualvollen Tod des Leviathan, der vom kommenden Tod seines Zwillingsgottes Geld-Kapital kündet. Der »mortal god« stirbt am Ende des 20. Jahrhunderts in der säkularisierten Gestalt seines zweiten Lebens wirklich. Wenn jetzt die menschliche Gesellschaft nicht den politischen Gotteszauber abstreift und ihrer selbst bewußt wird, muß sie aller Wahrscheinlichkeit nach zugrunde gehen.

Die Paralyse der bisherigen Gesellschafts- bzw. Kapitalismuskritik rührt nicht zuletzt daher, daß sie über die Befangenheit im Politikbegriff nicht hinauskommen kann. Es ist so gesehen geradezu schmeichelhaft zu nennen, wenn wir von den Resten der Linken aufgrund unserer Kritik des Politischen des »Ökonomismus« und des »Objektivismus« geziehen werden. Diese ausgeleierten innermarxistischen Kampfbegriffe verweisen heute nur noch auf den mangelhaften Reflexionsstand derer, die sie gewohnheitsmäßig benutzen. Mit diesen vermoderten Kampfbegriffen aus der Durchsetzungsgeschichte des Systems verschanzt sich der linke Politizismus und Subjekt-Fetischismus gegen die veränderten Anforderungen der gesellschaftlichen Krisenrealität. Wie er (zusammen mit den Vorkämpfern der bürgerlichen Politikrettungsprojekte) sich ein gesellschaftliches Handeln nicht anders als in der Politikform vorstellen kann, so hält er es auch in einer anderen als der Subjektform (der allgemeinen Erkenntnis- und Handlungsform der Fetisch-Konstitution) für unmöglich. Und wie Ulrich Beck jenseits der Politik nur noch den Fatalismus zu erkennen vermag, so sieht auch die politizistische Linke in unserer Herangehensweise keine aktive Fundamentalkritik des warenproduzierenden Systems und seiner ausdifferenzierten Sphären, sondern ebenfalls nur »Objektivismus« und »ökonomischen Determinismus«.

Das simple Geheimnis dieser merkwürdigen Fehldeutung, die aus unseren Texten nur gewaltsam herausgelesen werden kann, besteht also in der bürgerlichen Form-Immanenz der vermeintlichen »Ökonomismus«- und »Objektivismus«-Kritiker. Der Befangenheit in der Ware-Geld-Form entspricht die Befangenheit in der Politikform und in der Subjektform. Durch dieses vor die Stirn genagelte Raster hindurch muß jede Kritik der modernen Handlungsform als Verneinung des Handelns überhaupt, als Quietismus oder bloßer Attentismus erscheinen: »auf die Krise warten« (als wäre sie nicht schon da), »sich automatischen Prozessen hingeben« (als täten dies nicht gerade die »Ökonomismus«-Kritiker selber, indem sie sich a priori dem Automatismus der Warenform als solcher beugen). Statt der objektivierten Form ihres eigenen Denkens und Handelns ans Leder zu gehen, wollen sie jede Aktivität überhaupt in diese ansozialisierte und verinnerlichte Form bannen, deren radikale Kritiker sie dann absurderweise des »Objektivismus« bezichtigen. Dabei ist es gleichgültig, ob sich diese falsche (politizistische) Immanenz in kruder oder in elaborierter Fassung äußert, ob sie implizit oder explizit wird. Ebenso gleichgültig ist es, ob sich der Politizismus als »positiver« darstellt und in die sogenannte Realpolitik mündet, oder ob er als negativer die Übermächtigkeit des vermeintlich in sich geschlossenen Systems beschwört. Im ersten Fall wird man/frau uns vorwerfen, daß wir die wunderbaren Möglichkeiten des »politischen Gestaltens« verleugnen oder sogar kaputtmachen wollen; im zweiten Fall heißt es dann, daß wir die ebenso wunderbaren Eingriffs- und Manipulationsmöglichkeiten »der Herrschenden« und ihres Staates sträflich unterschätzen würden. In beiden Fällen aber bleibt das Bezugssystem der abstrakten Allgemeinheit von Staat und Geld systematisch unreflektiert, positiv oder negativ blind vorausgesetzt und begrifflich unaufgelöst. Damit aber zerfällt auch die Einheit und Irreversibilität des Geschichtsprozesses in einen bloßen Dualismus von Geld und Macht, von diktatorischen (bzw. »totalitären«) und demokratischen »Herrschaftsformen«: ewige Wiederkehr statt kapitalistische Binnengeschichte und historische Krisenschranke.

Dieser sozusagen »buddhistische Marxismus« hat inzwischen als eine Art Abfallprodukt auch eine wohl letzte spezielle Verfallsgestalt des alten Linksradikalismus hervorgebracht, die sich zunehmend der in ganz anderem Kontext entstandenen »Political Correctness« (PC) zu bemächtigen sucht; genauer gesagt: der daraus entstandenen »Methode« einer besonderen Art der Denunziation. »Political Correctness« enthält eigentlich ein zutiefst berechtigtes Moment, nämlich Rassismus und Chauvinismus bis in die verborgenen Winkel der scheinbar neutralen Sprache zu benennen, die in Wahrheit geronnene Geschichte der Unterdrückung ist. Aber wie so oft ist hier ein ursprünglich kritischer Ansatz vielfach umgeschlagen in einen »identitären Gegenrassismus« und in ein repressives Instrument der Diskussionsverweigerung, der Trennung und Ghettoisierung. Der aus den USA kommende Impuls von PC, der in seinem ursprünglichen Ansatz durchaus nicht in Bausch und Bogen zu verdammen ist, hat sich mangels inhaltlicher Gesellschaftskritik und aufhebender Bewegung mehr und mehr in eine abstrakt moralistische Landplage verwandelt, die zunehmend willkürliche Definitionen von Rassismus, Faschismus, Chauvinismus usw. produziert. Daß ein Teil des theoretisch verkommenen politizistischen Linksradikalismus, auch wenn er nicht explizit PC vertritt oder sich dazu rechnet, mit dieser von PC übernommenen »Methode«, die bereits den Umschlag ins Gegenteil von Kritik anzeigt, seine Chance wittert, im Kontext der schwach gewordenen gesellschaftskritischen Opposition »Definitionsmacht« zu behaupten, ist eine ebenso bezeichnende wie deprimierende Erscheinung.

Wenn die lautstarken Wortführer aus diesen Kreisen auch sonst nichts mehr zu sagen haben, so wollen sie doch moralische Definitionsgewalt darüber behaupten, wer Rassist, Antisemit usw. ist. Die Kraftlosigkeit der verfallenden Linken gegenüber der rechten Bandengewalt und ihre theoretische Inkompetenz soll offenbar durch eine »moralistische« Inquisitions-Anmaßung innerhalb der Gesellschaftskritik selbst kompensiert werden. Nicht nach ihren Inhalten wird die theoretische Produktion von diesen selbsternannten politizistischen Moralzensoren beurteilt, sondern ihre polemischen oder ironischen Formulierungen werden fast fieberhaft danach durchsucht, ob sich (und sei es unter noch so großen Verrenkungen und absurden Interpretationen) irgendwelche »Stellen« finden lassen, die gewaltsam als »rassistisch«, »deutschnational« usw. hininterpretiert werden können. Der Narr als Sultan mit der Befugnis zum Köpfenlassen, dahingehend scheinen sich die Gelüste der abgetakelten »Politiker« in ihrem unerklärten Krieg gegen die »Theoretiker« zu entwickeln. Einige Narrenstellen für die linksradikalen Pseudomoralisten werden sich doch hoffentlich noch finden lassen, damit sie ihrem invertierten RassismusAntisemitismus-Nationalismus freien Lauf lassen können und dieser Schwachsinn nicht auch noch einer größeren Auseinandersetzung bedürftig wird.

Daß wir nicht allen Verästelungen, Verlaufs- und Verfallsformen des politischen Bewußtseins nachgehen können, versteht sich von selbst. Aber aller notwendigen Differenzierung der zeitgenössischen politischen und theoretischen Gruppierungen, Autoren, Strömungen usw. (gerade innerhalb der Linken) zum Trotz wird mit der Kritik des Politischen doch immer der Sack getroffen, in dem sie alle stecken. Unsere schon früher angedeutete Kritik des Politizismus und der politischen Regulationssphäre als solcher soll jedenfalls weiter fortgeführt und ausgebaut werden. Dem Problemfeld »Krise der Politik«, dem Schwerpunktthema dieser Krisis-Ausgabe, haben sich die Autoren auf verschiedenen Ebenen anzunähern versucht. Dabei wird begrifflich und exemplarisch zugleich unsere These vom Zerfall des Politischen und das Abhängigkeitsverhältnis der Politik von der totalen Warenform und deren Weltmarktentwicklung aufgezeigt.

Die Krise der Politik im allgemeinen als einer gesellschaftlichen Sondersphäre kann nur als die Krise der politischen Subjekte in Erscheinung treten. Zwei Grundtypen politischer Subjektivität hat die Moderne hervorgebracht, zum einen auf der Ebene der Konkurrenz der Weltmarktstandorte den Nationalstaat, zum anderen im innerstaatlichen Rahmen die Partei. Um beide steht es heute nicht zum besten. Was den Nationalstaat angeht, so ist eins klar: angesichts der Globalisierung nicht mehr nur des Warenverkehrs, sondern auch der Kapitalströme und der Zerlegung von Produktionsprozessen, wird es für die Einzelstaaten, selbst für solche mit großem wirtschaftlichen Gewicht, immer aussichtsloser, sich dem unmittelbaren Zugriff des Weltmarkts zu entziehen. Gegen die Schwerkraft der vaterlandslosen Verwertungsbewegung und gegen die internationalen Geldströme, vor deren Dimensionen die Interventionsmöglichkeit der Zentralbanken geradezu lächerlich wirkt, läßt sich keine Politik mehr machen. Die Entnationalisierung von Produktion und Spekulation schlägt den Metropolenländern ihre geldpolitischen und sonstigen Regulationsmittel aus den Händen, ohne daß jedoch internationale Institutionen die bisherige immer schon beschränkte Eingriffsmöglichkeit der Nationalstaaten übernehmen könnten. Den Ländern der »nachholenden Modernisierung« hat die Gewalt der allgegenwärtigen Weltmarktbeziehung und die in der Krise verschärfte Konkurrenz bereits mehrheitlich jegliche Entwicklungsperspektive innerhalb von Weltmarkt und Warenform geraubt. Nur negativ in die weltumspannende Arbeitsgesellschaft integriert, fallen sie einem beschleunigten Verelendungsprozeß anheim. Dieser von der Weltmarktübermacht induzierte Absturz paralysiert auch die staatlich organisierten Entwicklungsregimes und hinterläßt eine poststaatliche Katastrophenlandschaft.

Unter dem Eindruck dieser Entwicklung haben wir eine Studie über den »Fall Jugoslawien« an den Anfang gestellt, denn dieser Fall ist (neben dem der afrikanischen Katastrophengebiete) das Menetekel des postpolitischen Krisenprozesses. ERNST LOHOFF entwirft die Konturen dieses Prozesses in seinem Beitrag »Vom ideellen Gesamtkapitalisten zum reellen Gesamtkriminellen – der Fall Jugoslawien« an den Stationen der binnenökonomischen und nationalpolitischen »Inwertsetzung« bzw. Weltmarktintegration Jugoslawiens. Im Durchzug durch die jugoslawische Nachkriegsgeschichte macht er an diesem paradigmatischen Fall deutlich, welche Verfallsformen das nationalstaatliche Prinzip im Zusammenbruch nachholender Modernisierung annehmen kann.

Im folgenden Thesenartikel über »Das Ende der Politik« versucht ROBERT KURZ auf einer abstrakteren Ebene den historischen und logischen Zusammenhang von Markt und Staat, Politik und Ökonomie zu entwickeln. Dabei wird der Begriff des Politischen aus dem strukturellen »Spaltungsirresein« der modernen bürgerlichen Fetisch-Konstitution hergeleitet und die falsche Emphase der Politik bei Rechten wie Linken aus ihrem Status als »Durchsetzungsmodus« des warenproduzierenden Systems bestimmt. In diesem Zusammenhang findet auch eine erste kritische Auseinandersetzung mit dem abgenutzten »Ökonomismus«-Begriff und mit dem »Wirtschaftsliberalismus« statt, wobei die innere Verwandtschaft scheinbar weit auseinanderliegender Positionen erhellt wird. Schließlich werden die objektiven historischen Grenzen von Staatlichkeit und Politik an den vier zentralen Problem- und Voraussetzungsfeldern gezeigt, die vom politischen Löffel nicht mehr zu erreichen sind: nämlich an der Krise der Arbeit, der Ökologie, des Nationalstaates und des Geschlechterverhältnisses.

PETER KLEIN setzt diese Kritik mit seinem Beitrag »Pars pro toto. Warum die Partei nicht mehr recht hat« fort, indem er den Begriff der politischen Partei seziert (dieser Artikel ist Teil einer größeren, noch unveröffentlichten Arbeit zur Staats-, Rechts- und Demokratietheorie). Anhand der Begriffs- und Realgeschichte des Parteiensystems und seiner logischen Grundlage weist er nach, daß der pluralistische Parteibegriff den sogenannten totalitären keineswegs überwindet, sondern die Partei selber und als solche in den dürren Funktionalismus des warenproduzierenden Systems auflöst und damit ganz gegen die Absichten der pluralistischen Demokraten das Ende der politischen Partei heraufbeschwört, deren Totengräber jede weitere reflektierte Gesellschaftskritik zu sein hat. Zusammen mit der politischen Funktionssphäre überhaupt erlischt auch der bereits aufs äußerste reduzierte Mechanismus der Parteipolitik. Das »Ziel«, die totale Warenform und Verrechtlichung, ist negativ-krisenhaft erreicht, und die Parteimenschen laufen ins Leere, weil es in dieser Form und innerhalb ihres Horizonts nichts mehr zu »verwirklichen« gibt.

In seinem zweiten Beitrag »Der Zusammenbruch des Realismus« wendet ROBERT KURZ diese Lehre auf das Spektrum der links-grünen Politikaster an, frei nach dem berühmten Gorbi-Wort: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Im Zusammenhang mit einer strukturellen Analyse des Verhältnisses von Politik und Emanzipationsbewegungen und einer Skizze der Metamorphosen dieses Verhältnisses seit 1968 wird die innere Identität und die komplementäre Beziehung von »Fundis« bzw. Altlinksradikalen und »Realos« herausgearbeitet. Auf den Zusammenbruch des begriffslos gewordenen und in einen »invertierten Nationalismus« abgeglittenen Linksradikalismus, so die Prognose, wird der Zusammenbruch der Realpolitik folgen. Dieser kann sich jedoch nicht mehr bloß in der ideologischen Sphäre vollziehen, sondern die vermeintliche sozial-ökologische Reformpolitik wird sich unter Legitimationsverlust in einen integralen Bestandteil des demokratischen Notstandsterrors gegen Mensch und Natur verwandeln.

Der Essay von CHRISTIAN NEUGEBAUER (Wen) schließlich, »Wider die Kultur und die Aliens der Modernisierung: Afrika«, befindet sich zwar durchaus im thematischen Zusammenhang dieses Heftes; er fällt aber (wie der Leser sicher unschwer feststellen kann) aus der Terminologie und Diktion der Krisis-Gruppe heraus. Unter der Bezeichnung »hygienisches Denken« und anhand eines Artikels [1] von Peter Klein aus Krisis Nr. 11 kritisiert Neugebauer explizit einen bestimmten theoretischen Zungenschlag und eine quasi hegelianische »Haltung« zur weltgesellschaftlichen Wirklichkeit, wie er sie in bestimmten Krisis-Texten angelegt sieht. Wir haben diesen Beitrag aus zwei Gründen aufgenommen. Zum einen, weil wir eine »Öffnung« inhaltlicher Art anstreben, d.h. den Blick über den begrenzten Horizont unserer eigenen Erlebensweise von Weltmarkt, negativer Vergesellschaftung und abstrakter Individualität hinaus richten wollen. Die abstrakte Gültigkeit der theoretischen Begriffe einer flächendeckend gewordenen planetarischen Form ändert nichts daran, daß diese Gültigkeit weiterhin unter völlig verschiedenen Bedingungen stattfindet; beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden, und es kann keine privilegierte (westeuropäische) Ausgangsbasis für die Reflexion und Kritik des Ganzen geben. Insofern teilen wir weitgehend Neugebauers Forderung, »der Welt zuzuhören«, wenn dies nicht auf einen begriffslosen Eklektizismus von Meinungen und Bewegungen hinausläuft. Und die kritische Darstellung des Verhältnisses von Universalismus, Partikularismus und implizitem Rassismus am Beispiel Afrikas halten wir für interessant genug, um sie unseren Leserinnen und Lesern mitzuteilen.

Zum andern aber streben wir auch eine diskursive »Öffnung« an, ohne freilich unseren »undemokratischen« Anspruch auf unbeirrte Fortsetzung des eigenen Weges aufzugeben. So uninteressant ein Diskurs mit den aussterbenden marxistischen Dinosauriern des »Arbeits«- und »Klassenkampf«-Fetischismus wäre, die von neueren Theoriebildungen grundsätzlich ebenso unbeleckt sind wie von der empirischen gesellschaftlichen Entwicklung, so wichtig erscheint uns dieser Diskurs mit einer Gesellschaftskritik, die sich der postmodernen vermeintlichen Auflösung der »Großtheorien« und des Imperialismus der abstrakten Theorie überhaupt stellt, dabei aber gleichzeitig die den gesellschaftlichen Modus verändernde Praxis einklagt (im Unterschied zur affirmativen Realpolitik).

Was wir aber leider nicht teilen können, ist Neugebauers Vertrauen auf die »Dekonstruktion« (wobei freilich erst zu klären wäre, was darunter genau zu verstehen ist und wie dieser Begriff auch affirmativ gewendet werden kann); ebensowenig das Vertrauen in die Begriffe von Menschenrecht und Demokratie, die es nur zu »interpretieren« gelte. Wir glauben nicht, daß wir schon deswegen arrogant sind, weil wir an der theoretischen Kritik von Kategorien festhalten (die nie bloße Begriffe, sondern immer auch Realkategorien des warenproduzierenden Systems darstellen), auch wenn diese Kategorien zu scheinbaren Selbstverständlichkeiten geronnen sind. Und wir werden es uns nicht ausreden lassen, daß im Begriff der Demokratie unentrinnbar derjenige der Herrschaft steckt, auch und gerade wenn diese Herrschaft einen subjektlosen Systemcharakter angenommen hat. Sowenig sich eine Maschinenpistole in eine Kaffeetasse »umdefinieren« läßt, ebensowenig lassen sich die Kategorien der warenförmigen Vergesellschaftung emanzipatorisch »umdefinieren«: weder der »Wert«, noch die Politik, noch die Demokratie. Hier sind wir wieder bei demselben Problem wie bei der Beckschen »Neuerfindung des Politischen«.

Deswegen verachten wir natürlich nicht diejenigen Menschen, die aus der falschen Unmittelbarkeit heraus ihren Ansatz praktischer Kritikbewegung mit diesen tradierten Kategorien zu legitimieren versuchen. Es ist auch nicht zu verkennen, daß es mittlerweile so etwas wie eine affirmative oder sogar mit der »Rechtstendenz« kompatible Abwendung von der Menschenrechtsdiskussion gibt, sei es im Sinne »ökonomischer Interessen«, sei es im Sinne eines schlichten Verschontbleibenwollens von dem Leid und von der Grausamkeit globalen »Marktwirtschaftens«. Und es gibt auch eine Tendenz zur »Dekonstruktion« von Begriffen, die sich in scholastischen oder bloß artistischen Übungen verliert und die nichts anderes als eine elaborierte Flucht vor der Krisenwirklichkeit ist. Aber der berechtigte Verweis auf solche Erscheinungen scheint uns kein Argument dagegen zu sein, die emanzipatorische Kritik der Demokratie auf eine andere Weise zu leisten, deren Inhalt den Unterschied zu affirmativen Formen der Demokratie- und Menschenrechtskritik unmittelbar einsichtig macht.

Wenn die kritische Theorie überhaupt noch einen Beruf hat, dann würde sie diesen verfehlen und sozusagen ihre Pflicht mißachten, wenn sie sich nicht an der Kritik der falschen (bzw. historisch falsch gewordenen) Legitimationsbegriffe abarbeiten würde, die stets die destruktive und krisenhafte Realität der Warengesellschaft mit der Anrufung ihres ideologischen Idealzustands bekämpfen. Gerade diese Konstellation macht den affirmativen Bogen zurück in den bürgerlichen Heimathafen, unter Preisgabe der Emanzipation, legitimatorisch möglich. In den aufklärerischen Kategorien von Vernunft, Demokratie und Rechtsform wird ein Durchbrechen der warenförmigen, zum Systemterror sich wandelnden Vergesellschaftung nicht möglich sein, denn diese Kategorien sind nicht bloß zufällig historisch zusammen mit der Totalisierung der Warenform entstanden, sondern sie gehören ihr auch wesenhaft an. Wenn aus dieser Erkenntnis, die für uns bereits unhintergehbar ist, eine Spannung zwischen Theoriebildung und Basisbewegungen resultiert, dann muß diese unserer Meinung nach produktiv aufgelöst und ausgetragen, nicht aber zugedeckt und ignoriert werden. Sofern es sich gerade nicht um eine selbstgenügsame akademische Karrieretheorie handelt, kann der Widerspruch auch nicht einfach als ein äußerer Widerspruch von »Theorie« und »Praxis« gefaßt werden, sondern vielmehr als ein Widerspruch innerhalb der umfassenden historischen Praxis selbst, deren Teil die »theoretische Praxis« (Althusser) ist.

Dennoch verweist Neugebauers Kritik auf ein tiefes Problem. Denn die radikale Kritik als theoretische (deren Anteil an der Praxis kein unittelbarer sein kann) steht ja tatsächlich in der Gefahr, auch auf ihrem eigenen Terrain die abstrakte Warenförmigkeit zu reproduzieren. Und das heißt auch: die Getrenntheit, die als schmerzhafte Erfahrung Neugebauers Essay durchzieht. Paradoxerweise kann ja auch die Vernunftkritik noch in der Form abstrakter Vernünftigkeit formuliert werden, »von außen«, von einem unausgewiesenen Standpunkt aus. Ein Hirn aber, das in einer Nährflüssigkeit auf dem Mars schwimmt und dabei irdische Begriffe kritisch entfaltet, wird die irdische Praxis niemals erreichen können. Die Paradoxie des warenförmigen Ursprungs der gesellschaftstheoretischen Abstraktionen selber steht hier zur Debatte (Adornos »Negative Dialektik«« ist voll von diesem Problem). Die Theorie muß also selber aufgehoben werden. Aber wie? Sie muß praktisch werden, aber ohne sich bloß an die Unmittelbarkeit der Praxis zu verlieren. »Hygienisches Denken« ist eine gute Metapher für die eine große Gefahr, die der kritischen Theorie droht. Aber Neugebauer scheint uns möglicherweise der anderen großen Gefahr zu erliegen, die darin besteht, die kritische Reflexion an den zentralen Legitimationsbegriffen der Basisbewegungen (Demokratie, Menschenrechte) haltmachen zu lassen; gerade dadurch aber wird vielleicht ihre Selbstaufhebung am sichersten verhindert.

Uns scheint es eher so, daß der Demokratiebegriff selber eine historisch gewordene »Wirklichkeitsmetaphysik« anzeigt, eine falsche Essenz, die sich als Herrschaft entpuppt. Diesen und überhaupt die aufklärerischen Begriffe der bürgerlichen Moderne zu »dekonstruieren« (nicht im Sinne eines bloß spielerischen Verkleidens und ewigen Umdefinierens, sondern als Zurückführen auf ihren historischen, nicht-essentiellen Charakter), hätte etwas Befreiendes an sich und würde eine Scheidung möglich machen, die keine »hygienische« ist, nämlich die Scheidung von jener permanenten Grausamkeit und Unterdrückung, die sich Demokratie nicht bloß nennt, sondern dies auch ist, und deren sämtliche Repräsentanten noch in ihren übelsten Gestalten sich eben keineswegs bloß aus Gründen der arglistigen Täuschung die »Gemeinschaft der Demokraten« schimpfen können. Die Begriffe sind nie bloß willkürliche und so oder so »umdefinierbare« oder instrumentalisierbare, sondern sie gehören einer negativen historischen Wirklichkeit an, die selber keineswegs durch begriffliches »Definieren« entstanden ist.

Auch im Begriff der »Gleichheit« z.B. liegt der Herrschaftscharakter; es ist als Abstraktion (und Realabstraktion) ein an sich formaler Begriff, der auf die abstrakte Allgemeinheit der Warenform verweist. Was sollte denn eine »konkrete Gleichheit« sein? Blaue Unterhosen für alle? Die eigentlich gemeinte Intention, jenseits aller Formabstraktion die anderen Menschen und ihr Lebenwollen ernst zu nehmen, wäre vielleicht in Neugebauers Begriff der Anerkennung besser aufgehoben, wäre diese gegenseitige Anerkennung in der Form der »Gleichheit« und des »Rechts« nicht immer schon die gegenseitige Anerkennung als Geldsubjekte, als zahlungs- und nur dadurch rechtsfähige Subjekte. Diese Art der Anerkennung schließt den Begriff des Nicht-Menschen, weil nicht zahlungs- und damit nicht rechtsfähigen Ausgegrenzten nicht aus, sondern vielmehr ein. Eine gegenseitige sinnlich-menschliche Anerkennung ohne jeden Vorbehalt, und diese ist ja gemeint, wäre also nur jenseits der Warenform, damit aber auch jenseits der Rechtsform und der »Gleichheit« möglich. In dieser aber kann sich die Falle von Universalismus und Partikularismus immer nur wiederholen. Die vor 200 Jahren erhobene Freiheitsfahne ist längst zum Zeichen der Unterdrückung durch die totale Form geworden und die darauf gestickten Begriffe zum ideellen Gefängnis emanzipatorischen Denkens und Handelns.

Einverstanden, wir müssen uns trauen, wieder große Geschichten zu erzählen, und das Durchhalten der Kritik an der warenförmigen Zivilisation der Moderne ist eine große Geschichte. Einverstanden, es gibt keine »Wahrheit als Essenz«, die nur entdeckt zu werden bräuchte – aber es gibt die negative Wahrheit des fetischistischen Formterrors, zu dem auch Rechtsform, Politikform und Demokratie gehören. Es geht um die Befreiung von dieser negativen, heute sich selbst zerstörenden Wahrheit, deren »Essenz« die abstrakte Arbeit als Selbstzweck-System ist. Die »erkenntnistheoretische Allmachtsphantasie« lauert in den Formen selbst, die bisher für die Ideale der Emanzipation galten. Das Terrain, das wir durch die Kritik der warenförmigen, aufklärerischen Emanzipationsvorstellung hindurch betreten, ist tatsächlich ein unbekanntes. Und dieses Betreten kann eben nicht bloß in der Theorie stattfinden. Die Aufhebung des reinen Begriffs unter Erhaltung seiner kritischen Funktion ist kein bloß vernünftiges Projekt mehr. Aber auch darin ist Neugebauer recht zu geben, daß dieses Problem in der eigenen Lebenspraxis und in der Entfaltung praktischer Kritik erscheinen muß, wenn die Theorie nicht zum »hygienischen Denken« werden soll.

Diese Überlegungen führen zur Frage nach der Zukunft der Krisis. Wir wollen keine »Öffnung« nach dem Muster der eklektischen »Buchbindersynthese«, denn zusammenhangloser Pluralismus führt ebensowenig weiter wie endlose Dinosaurier-Debatten um den sterbenden Marxismus. »Öffnung« im oben angedeuteten Sinne aber hieße, den Versuch weitergehender Vermittlungen als bisher zu wagen, nicht nur hinsichtlich produktiver Diskurse, sondern auch als Auseinandersetzung um eine neue Praxislegitimation. Natürlich ist keine neue Praxis aus der Theorie »abzuleiten«. Aber unsere weitere Theoriebildung wird sich, ohne inhaltlich und begrifflich nachzugeben, der Frage ihrer praktischen Vermittlung ebenso stellen müssen, wie sie sich darum bemühen muß, »der Welt zuzuhören«, d.h. danach Ausschau zu halten, wo und wie die Praxis von Basisbewegungen und Initiativen auch ihrerseits der theoretischen Kritik entgegenkommt. Das Ergebnis sollte nicht passive Hinnahme und Hingabe, sondern kritische Auseinandersetzung sein. Gegenwärtig bemühen wir uns um ein neues Konzept der Krisis, das nach Möglichkeit auch häufigeres Erscheinen einschließen soll. Wir würden uns über kritische Stellungnahmen oder Vorschläge unserer Leserinnen und Leser freuen.

Ernst Lohoff und Robert Kurz für die Redaktion


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