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Es rettet Euch kein Billiglohn!


Die Illusion vom Elends- und Dienstleistungskapitalismus

Norbert Trenkle

Seit die Krise der Arbeitsgesellschaft allmählich ins öffentliche Bewußtsein getreten ist (ungefähr seit Ende der 70er Jahre), hat der Neoliberalismus hartnäckig den Standpunkt vertreten, eine solche Krise gebe es überhaupt nicht. Vielmehr sei die Arbeitskraft einfach nur »zu teuer«. Wäre sie billiger und würde sie »flexibler« angeboten, so könnten überall auf der Welt und bis in alle Ewigkeit ausreichend »Arbeitsplätze« geschaffen werden. Dieser Standpunkt ist heute weitgehend zum common sense geworden. »In einer arbeitsteiligen Gesellschaft müssen die Menschen ihren Lebensunterhalt auf dem Markt verdienen. Und dort gleicht der Preis Angebot und Nachfrage aus. Bleibt die Ware liegen, stimmt der Preis nicht. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht, daß die Arbeit ausgeht, sondern daß sie zu teuer wird«, schreibt etwa der Wirtschaftsjournalist Nikolaus Piper (Süddeutsche Zeitung, 6.8.1998), der hier nur für viele spricht.

Nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Praxis sehen sich die Arbeits- und Markt-Ideologen in ihrem schlichten Weltbild durchaus bestätigt. Denn dort, wo die »Deregulierung« der Arbeitsmärkte konsequent durchgesetzt wurde, insbesondere in den USA, hat sie angeblich riesige Erfolge erzielt, wie auch Piper vermerkt: »In den Vereinigten Staaten wurden im letzten Vierteljahrhundert nicht nur 45 Millionen neuer Jobs geschaffen, die Arbeitszeit stieg gleichzeitig um durchschnittlich 0,1 Prozent, der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung um 0,5 Prozent und das Pro-Kopf-Einkommen um 1,6 Prozent pro Jahr« (ebd.). Daß dieses glorreiche »Job-Wunder« trotz oft wiederholter Beschönigungen überwiegend schlecht bezahlte und ungesicherte »Flexi«-Jobs hervorgebracht hat, von denen ein Mensch mindestens zwei oder drei ausüben muß, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen, ficht das neoliberale Credo natürlich nicht an. Auch mit der Empirie hat man es dabei nicht so genau genommen, denn die »Beschäftigungserfolge« werden gewohnheitsmäßig statistisch frisiert. Selbst bei großzügiger Interpretation sieht die »Job-Bilanz« keinesfalls so positiv aus, wie behauptet wird.

Ob Billigjobs oder nicht, ob viele oder vielleicht doch nicht ganz so viele – offiziell gilt die These als bestätigt, Arbeitslosigkeit sei nur das Resultat zu hoher Arbeitskosten und unflexibler Arbeitsbedingungen. Die auch statistisch nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern ist laut herrschender ökonomischer Doktrin einfach nur ein Beweis dafür, daß hier eben noch nicht konsequent genug dereguliert worden sei – was die neu gewählten sozialdemokratischen Regierungen zum Anlaß nehmen, das Versäumte schnellstens nachzuholen. Und wenn die Länder des kollabierten Staatskapitalismus nach zehn Jahren westlich-konkurrenzkapitalistischer Beglückung immer tiefer in die sozialökonomische Agonie fallen, dann kann daran natürlich nur die Langsamkeit und Halbherzigkeit der quälenden »marktwirtschaftlichen Reformen« schuld sein, die einfach noch nicht konsequent genug durchgesetzt worden seien. Über die vollkommen zusammengebrochene ukrainische Wirtschaft etwa heißt es in einer seltsamen Mischung aus Treuherzigkeit und Zynismus: »Vor einem möglichen Aufschwung stehen harte Reformen: Weitere, energieintensive Fabriken müssen geschlossen, Strom und Gas für die Bevölkerung teurer werden; die Zahl der Arbeitslosen wird zudem ansteigen, wenn die perspektivreichen Unternehmen – beispielsweise in der Rüstungsindustrie (sic!) – endlich restrukturiert werden; außerdem müssen Bürokraten entlassen werden, damit sich die unternehmerische Initiative entwickeln kann« (Die Zeit v. 23. 4.1998).

Trotz derart dreister Argumentationen ist es aber nur allzu offensichtlich, daß sich der angebliche wirtschaftliche Aufschwung in den Zusammenbruchsregionen des Südens und Ostens nie wieder einstellen wird und die Vertröstungen auf eine goldene Zukunft, wenn nur in der Gegenwart der berüchtigte Gürtel immer enger geschnallt werde, auf Dauer nicht besonders glaubhaft sind. Deshalb setzte sich seit Ende der 80er Jahre ein neues ideologisches Paradigma im neoliberalen Rechtfertigungsdiskurs durch: Der »informelle Sektor« wurde entdeckt und zum Reservoir eines neuen dynamischen und besonders freien Unternehmertums verklärt, das aufgrund der »Überregulierung« im formellen Sektor keine Entfaltungsmöglichkeiten finde und deshalb notgedrungen in die »Informalität« ausweichen müsse. Es komme deshalb darauf an, diese »Marktwirtschaft von unten« (so der deutsche Titel eines vieldiskutierten Buchs des Peruaners Hernan de Soto) zu fördern, denn sie sei der Ausgangspunkt und die Grundlage einer erfolgreichen ökonomischen Entwicklung in der Zukunft (vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Komlosy u.a. 1997, S. 16ff.). Auf diese Weise werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erstens ist nämlich so die Beseitigung der letzten Schutz- und Regulationsmechanismen jederzeit zu legitimieren, und zweitens kann sogar noch die fortschreitende Massenverelendung zum Beweis für die Überlegenheit der Marktwirtschaft umgelogen werden.

Daß eine derart plumpe Argumentation in der offiziellen ökonomischen Debatte eine bedeutende Rolle spielen kann, läßt sich natürlich nur mit brutaler Interessiertheit erklären. Denn in theoretischer Hinsicht ist die Behauptung, das arbeitsgesellschaftlich-kapitalistische System lasse sich auf der Basis von Schuheputzen, Kaugummiverkaufen und Müllhaldenproduktion erfolgreich weiterbetreiben, schlicht indiskutabel. Um so peinlicher, daß sich diese brachiale neoliberale Hau-Ruck-Theorie auch in großen Teilen des linken Spektrums durchgesetzt hat – allerdings negativ gewendet und mit dem Gestus einer besonders standhaften Kapitalismuskritik. Die Krise der Arbeitsgesellschaft, so heißt es zunehmend auch in linksradikalen Kreisen, habe in Wirklichkeit keinen fundamentalen Charakter gehabt und das warenproduzierende System gar nicht nachhaltig untergraben können; vielmehr sei eben nur eine ganz bestimmte kapitalistische Epoche der Nachkriegsprosperität zu Ende gegangen. Seither kehre der Kapitalismus ganz einfach zu seiner »Normalität« zurück, und dazu gehöre nun einmal, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung sich zu miserablen Konditionen verkaufen muß und unter elenden Bedingungen bestenfalls überleben kann – wenn man sie nicht gar verhungern läßt. Das Kapital könne dabei akkumulieren wie nie.

Der linke Regulationstheoretiker Joachim Hirsch formuliert diese zum Neoliberalismus spiegelbildliche Position in aller wünschenswerten Deutlichkeit: »Zum Kapitalismus gehört … auch die permanente Umwälzung der Produktions- und Arbeitsbedingungen und die (zyklische) Produktion einer industriellen Reservearmee. Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit sind grundlegende Strukturmerkmale dieses Wirtschaftssystems. Daß dies oft vergessen wird, hängt damit zusammen, daß im fordistischen Nachkriegskapitalismus diese Widersprüche eine Zeitlang überwunden zu sein schienen. Die … >Krise der Arbeitsgesellschaft< ist ein Teil der Krise dieser Formation. Was also tatsächlich zu Ende gegangen ist, ist eine spezifische historische Gestalt des Kapitalismus: der Fordismus, der sich nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre unter den besonderen Bedingungen des Ost-West-Konflikts und des Kalten Kriegs herausgebildet hatte« (Hirsch 1999, S. 15).

Diese »Krise des Fordismus« sei im Zuge der Globalisierungsoffensive durch die neoliberalen Wildwest-Methoden, die weitgehende Flexibilisierung und Deregulierung der Märkte und der Arbeitsverhältnisse, glänzend bewältigt worden: »Mit der Spaltung der Lohnabhängigen und der Möglichkeit, ihre nationalen Segmente verstärkt gegeneinander auszuspielen, erreichte das Kapital nicht nur eine strukturelle Veränderung der Einkommensverhältnisse zu seinen Gunsten, sondern schuf auch die Voraussetzungen für einen umfassenden Rationalisierungsschub und damit auch von dieser Seite her für eine nachhaltige Erhöhung seines Profits« (ebd., S. 15f).

Diese Aussage ist doch einigermaßen erstaunlich. Anscheinend hat Hirsch es verlernt, die kapitalistische Produktionsweise als politisch-ökonomisches Gesamtsystem zu denken, sonst müßte ihm aufgefallen sein, daß seine Behauptungen akkumulations- und krisentheoretisch auf schwachen Beinen stehen. Nicht anders als die liberale Wirtschaftstheorie rechnet Hirsch einfach von der mikroökonomischen Ebene des Einzelbetriebes auf die makroökonomische Ebene des Gesamtkapitalismus hoch. Daß es zwischen diesen beiden Ebenen grundlegende Widersprüche geben könnte, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn. Ein einzelnes Unternehmen kann freilich seinen Profit dadurch verbessern, daß es die Löhne und sonstigen Arbeitskosten drückt, weniger Steuern und Abgaben an den Staat zahlt, Betriebsteile an »Billigstandorte« verlagert und zugleich (oder alternativ dazu) durch den Einsatz neuester Technologien Betriebsabläufe rationalisiert und Arbeitsplätze durch Sachkapital ersetzt. Gesamtökonomisch betrachtet trägt dies aber keinesfalls dazu bei, die kapitalistische Krise zu lösen, sondern verschärft sie im Gegenteil noch. Das zeigt sich zunächst in schrumpfenden Absatzmärkten. Denn wenn Lohneinkommen und Staatseinnahmen sinken, dann bedeutet dies selbstverständlich auch (unter sonst gleichbleibenden Umständen), daß die entsprechende kaufkräftige Nachfrage zurückgeht. Wo aber Waren nicht abgesetzt werden können, kann auch kein Kapital verwertet werden. Einzelne Unternehmen oder einzelne »Wirtschaftsstandorte„ mögen sich diesem Dilemma zwar vorübergehend entziehen, indem sie ihre Konkurrenten in den Bankrott treiben und deren Marktanteile übernehmen. Aber damit können sie nicht verhindern, daß insgesamt die Märkte immer enger werden und ständig neue Überkapazitäten in den zentralen Bereichen der Weltmarktproduktion entstehen, wie es seit Jahren der Fall ist.

Doch dabei handelt es sich nicht einfach um ein Problem mangelnder Kaufkraft auf den Märkten (der Ebene der Zirkulation), wie es aus keynesianischer Sicht erscheint, sondern im Kaufkraftmangel und in den schrumpfenden Märkten drückt sich ein viel grundsätzlicheres Dilemma aus: nämlich das absolute Abschmelzen der Arbeitssubstanz und damit der Basis der Kapitalverwertung im Zuge der dritten (mikroelektronischen) industriellen Revolution. Die reale Kaufkraft kommt ja nicht daher, daß mehr Geld gedruckt und verteilt wird, sondern daß eben »Arbeitseinkommen« erzielt werden, die aus gelingender betriebswirtschaftlicher Vernutzung von Arbeitskraft resultieren. Es müßten also neue Produktionssektoren entstehen, die genügend zusätzliche Arbeitsplätze auf dem weltweit gültigen technisch-organisatorischen Produktivitätsniveau schaffen würden, um die gewaltigen betriebswirtschaftlichen Rationalisierungseffekte der Mikroelektronik zu kompensieren. Auf der Ebene der Absatzmärkte würden dann die gestiegenen Profite in einer erweiterten Nachfrage nach Investitionsgütern wiedererscheinen, während zugleich zusätzliche Lohneinkommen entstünden, die sich in der Nachfrage nach Konsumgütern ausdrücken könnten.

Genau diesen Effekt haben die neoliberalen Methoden nicht erzielt. Denn auf dem jetzt erreichten Stand der Produktivkraft mittels Verwissenschaftlichung greift der Mechanismus nicht mehr, der die Überwindung der bisherigen kapitalistischen Krisen ermöglicht hat. Soweit neue Produktbereiche entstehen, etwa in der Informationstechnologie im weitesten Sinne, schaffen sie keinen ausreichenden Ersatz für die an anderer Stelle überflüssig gemachte Arbeitskraft, weil sie selber bereits von Anfang an mit den Methoden mikroelektronischer Rationalisierung produzieren. Der Neoliberalismus stellt deshalb auch keinen »kapitalistischen Ausweg aus der Krise« dar, wie Hirsch behauptet (ebd., S. 15), sondern ist vielmehr deren politisch-ökonomische Verlaufsform. Die Deregulierung und die weitgehende Auflösung der kohärenten nationalökonomischen Funktionsräume haben zwar in der Tat die Entstehung breit gefächerter Sektoren prekarisierter Lohnarbeit und Quasi-Lohnarbeit sowie anderer Formen der Elendsarbeit geschaffen. Es stimmt wahrscheinlich, daß heute mehr Menschen weltweit irgendeine Form der geldförmigen Erwerbsarbeit ausüben müssen als jemals zuvor; aber damit ist noch lange nicht die Krise der Arbeitsgesellschaft und damit der Kapitalakkumulation aus der Welt geschafft.

Hier wird ein soziologischer Tatbestand (Armut) begründungslos mit einer ökonomischen Funktion (Kapitalakkumulation) kurzgeschlossen, ähnlich wie bestimmte politische Maßnahmen (Deregulierung, Privatisierung etc.) per se als Faktoren einer forcierten Kapitalverwertung unterstellt werden. Auch linken Soziologen und Politologen ist es offenbar fremd, daß die Ökonomie der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft einer eigenen Logik folgt, die nicht in sozialen Erscheinungen oder politischen Regulationsformen aufgeht. Der objektivierten Logik der Kapitalverwertung kommt es ja nicht einfach darauf an, daß sich Menschen massenhaft abrackern und ihre Lebensenergie verausgaben; vielmehr zählt nur, wieviel ökonomischer »Wert« dabei »produziert« wird. Der Wert einer bestimmten Ware mißt sich aber nicht daran, wie lange eine einzelne Person oder ein einzelner Betrieb daran gearbeitet hat; sein Maßstab ist vielmehr die Arbeitszeit, die für die Herstellung dieser Ware auf der Höhe des jeweils gültigen (und historisch ständig ansteigenden) betriebswirtschaftlichen Produktivitätsniveaus benötigt wird.

Können also zum Beispiel in einer Textilfabrik mit Hilfe von mikroelektronischer Prozeßsteuerung und Lasertechnologie in einer Stunde einige Hundert Hemden geschneidert werden, dann ist dies der Standard, an dem sich auch eine Schneiderin in der Hinterhofklitsche eines südamerikanischen Slums zu messen hat. Wenn sie drei oder vier Stunden für ein Hemd braucht, dann ist ihre Arbeit schlicht und einfach nicht viel »wert«. Für die Schneiderin drückt sich das spürbar darin aus, daß sie für ihre Hemden, die sie beispielsweise an einen international operierenden Textilkonzern abliefert, einen minimalen Preis erhält, der nicht über den Produktionskosten in der entsprechenden Textilfabrik liegt, zu der sie über den Weltmarkt in direkte Konkurrenz treten muß, und der für sie gerade einmal ausreicht, um unter elenden Bedingungen zu überleben.

Wenn dennoch viele Millionen von Menschen unter Bedingungen wie diese Schneiderin arbeiten, dann läßt sich dies von zwei Seiten her begründen. Aus Sicht der transnational operierenden Unternehmen und ihrer vielfach gestaffelten Zulieferbetriebe ist es zunächst vollkommen egal, auf welche Weise sie ihre Kosten minimieren und ihre Gewinne steigern. High-Tech-Produktion und Low-Tech-Billigarbeit sind für sie einfach verschiedene Optionen, die sie je nach Investitionskalkül, Marktlage, Risiko, Konkurrenzsituation und sonstigen Rahmenbedingungen wahlweise nutzen oder auch miteinander kombinieren. Aus Sicht der ElendsarbeiterInnen ist es der nackte Zwang der Verhältnisse, der sie dazu treibt, ihre Arbeitskraft zu den erbärmlichsten und unmenschlichsten Konditionen zu verausgaben. Da die materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen einer bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in den meisten Teilen der Welt (und insbesondere in den riesigen städtischen Agglomerationen mit ihren enormen Slumgebieten) vom Vormarsch der kapitalistischen Warenproduktion zerstört worden sind, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich buchstäblich zu jedem Preis zu verkaufen. Sie sind gewaltsam zu Marktsubjekten gemacht worden, aber die Möglichkeiten, in dieser Form ein wenigstens einigermaßen annehmbares Leben zu führen, wurden nicht mitgeliefert. Notwendigerweise müssen deshalb die miserablen Geldeinkommen durch unterschiedliche Formen von Eigenarbeit, Selbst- und Nachbarschaftshilfe, individualisierter Subsistenzproduktion (wo dies noch möglich ist), informalisierter Dienstleistungen, Kleinkriminalität, Prostitution, Schmuggel etc. ergänzt werden.

Dies ist ein Resultat des Kapitalismus, aber nicht notwendig ein Faktor der Kapitalakkumulation selbst. Oberflächlich soziologisch betrachtet könnte die vielfältige Elendsarbeit als die Wiederkehr frühkapitalistischer Verhältnisse erscheinen, wo die Menschen in ähnlicher Weise prekär überleben mußten.

Doch diese Sichtweise, die in vielen Studien zum informellen Sektor vertreten wird (vgl. etwa Komlosy u. a. 1997), verkennt einen ganz wesentlichen Unterschied. Die frühkapitalistische Massenarbeit in der Heimindustrie und in den Fabriken, die häufig durch Subsistenzproduktion ergänzt wurde, war Ausdruck einer allgemein noch wenig entwickelten kapitalistischen Produktivität. Das bedeutet, daß der Wert der produzierten Waren nur um ein relativ Geringes den Wert dessen überstieg, was den ArbeiterInnen in Form des Lohns ausgezahlt wurde. Der Mehrwert war also im Vergleich zur aufgewandten Arbeitszeit relativ gering. Das Kapital (ob nun in Gestalt des Fabrikbesitzers oder des Verlegers) kompensierte dies dadurch, daß es überlange Arbeitszeiten erzwang und zugleich die materiellen Existenzbedingungen der proletarischen Schichten auf ein absolutes Minimum herabdrückte: Überfüllte, verschimmelte und dunkle Wohnlöcher sowie die tägliche Ration Kartoffeln waren der Standard überall dort, wo der »zivilisatorische Fortschritt« der Moderne Einzug hielt. Nur so gelang es, einen »Mehrwert« abzupressen, der eine ausreichende Verwertung des Kapitals garantierte. Marx nannte das die Periode der »absoluten Mehrwertproduktion«.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese extreme Auspowerung zunehmend durch eine andere, intensivere Form der Arbeitskraftvernutzung ersetzt. Im gleichen Maße, wie die technisch-organisatorische Produktivität rasant anstieg, wurde auch die Arbeit immer weiter verdichtet und dadurch im betriebswirtschaftlichen Sinne immer produktiver. Das kam zwar bei entsprechender Ausweitung der Produktion in erster Linie der Kapitalverwertung zugute, aber zugleich war es auch die ökonomische Voraussetzung, um im Verlauf heftiger sozialer und politischer Kämpfe die Arbeitszeiten zu verkürzen und den Lebensstandard der Mehrheitsbevölkerung zumindest in den kapitalistischen Kernländern deutlich anzuheben. Heute dagegen ist die Situation eine radikal andere als zu Beginn der ersten industriellen Revolution. Da die technisch-wissenschaftlich vermittelte betriebswirtschaftliche Produktivität unter den Bedingungen der Mikroelektronik inzwischen so ungeheuer hoch ist, stellt die extensive und massenhafte Vernutzung von prekarisierter Billigarbeit keinesfalls die Basis einer erneuerten weltweiten Kapitalakkumulation dar. Es handelt sich vielmehr nur um die Art und Weise, wie die Arbeit und damit das Kapital »entwertet« wird.

Denn die Arbeit ist jetzt im doppelten Sinne immer weniger »wert«. Nicht nur der Preis der Arbeitskraft als Ware wird immer weiter unter das Existenzminimum gedrückt, sondern auch die noch möglichen Erlöse der produzierten Waren fallen immer tiefer unter das für eine gelingende Kapitalakkumulation nötige Niveau. Da der Standard der Wertschöpfung vom Standard der Produktivität bestimmt wird, nützen dem Kapital die vielen billigen Arbeitsstunden nicht mehr viel, eben weil sie ökonomisch nicht mehr »gelten« als die wenigen Minuten oder sogar bloß Sekunden Arbeitszeit der mikroelektronischen High-Tech-Produktion. Das ist ein entscheidender Unterschied zur bisherigen Geschichte der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Jetzt mag der Lohn noch so tief sinken und die Arbeitszeit noch so weit ausgedehnt werden – die Akkumulation von Arbeitsmengen, die als Wertmasse wiedererscheinen können, wird dadurch nicht mehr beflügelt wie im Frühkapitalismus. Ebensowenig kann die Produktion von Waren derart ausgedehnt werden, daß unter mikroelektronischen Bedingungen noch einmal der Effekt der fordistischen Industrien zu erreichen wäre. Da müßte man schon buchstäblich die Ozeane mit PCs, Handys und Nintendo-Spielen zuschütten.

War die »absolute Mehrwertproduktion« des 18. und frühen 19. Jahrhunderts der brutale Einstieg in die kapitalistische Warenproduktion, so markiert die prekarisierte Massenarbeit am Ende des 20. Jahrhunderts den rapiden Zerfall dieser Produktionsweise. Und stellte der Grad der fordistischen Produktivkraftentwicklung die notwendige ökonomische Bedingung sowohl für die Totalisierung des Kapitalismus zum Weltsystem als auch für die relativen Erfolge der Arbeiterbewegung dar, so zieht der Grad der Produktivitätssteigerung durch die Mikroelektronik der Kapitalakkumulation und dem immanenten Interessenstandpunkt der Lohnarbeit gleichermaßen den Boden unter den Füßen weg.

Das neue Massenelend ist kein (vom Standpunkt des Kapitals aus) »produktives« mehr. Es gibt eben keine immer gleiche »Normalität« des Kapitalismus, die nur einmal zeitweilig durch Welfare-Prosperität unterbrochen gewesen wäre, sondern wir haben es mit einem historischen Entwicklungsprozeß des Kapitals zu tun, in dem keine vergangene Stufe jemals wiederkehren kann. Soweit die Billigarbeit in formellen oder gar informellen Sektoren direkt oder indirekt in die Kapitalverwertung eingeht, handelt es sich nicht mehr um einen tragenden Faktor, sondern eher um einen sekundären und minimalen »Mitnahmeeffekt« der kapitalistischen Krise durch das Kapital selbst, ohne daß es dadurch jedoch diese Krise überwinden könnte. Zu erheblichen (und wachsenden) Teilen aber besteht das soziale Phänomen der neuen Massenarmut eben gerade nicht in der massenhaften Überausbeutung (wie im Frühkapitalismus), sondern in der massenhaften »Überflüssigkeit« von Menschen, die gar nicht mehr oder nur noch zeitweilig und am Rande in den Produktionsprozeß des Kapitals eingesaugt werden können. Das ist aber nur ein anderer Ausdruck dafür, daß die Kapitalakkumulation selber an historische Grenzen gestoßen ist.

Es ist eine Verelendung nicht in der und durch die Arbeit, sondern außerhalb der Arbeit, weil sich die Arbeitsgesellschaft selber ad absurdum geführt hat, aber ihre ökonomischen Formen trotzdem weiter die Gesellschaft beherrschen. An die Stelle der betriebswirtschaftlich vernutzten Arbeit treten die »Elendstätigkeiten« der Herausgefallenen. Weder subsistenzwirtschaftlicher Gemüsebau auf der verbrannten Erde der Marktwirtschaft noch Schmuggel, Kinderprostitution oder Nachbarschafts- und Selbsthilfe beim Anlegen von Latrinen oder Abwasserkanälen in den Slums gehen als »Wertsubstanz« in die Kapitalakkumulation ein. Die Vermittlung durch die Geldform ist dabei größtenteils nicht mehr direkt in die Zirkulation des Kapitals einbezogen, sondern bewegt sich nur noch in davon abhängigen Kreisläufen zweiter und dritter Ordnung, etwa wenn ein Billigarbeiter eine Slum-Dienstleistung kauft oder ein Sextourist sich ein Kind mietet. Ähnliches gilt für große Teile des sich ausbreitenden informellen Sektors in den kapitalistischen Zentren: die ambulanten Dienstleistungen, Formen der »Bürgerarbeit«, Tauschringe, Kleinkriminalität, kommunale Zwangsarbeit usw. Wenn der im Abriß befindliche Sozialstaat Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger dazu nötigt, künftig auf der Straße Feuerzeuge zu verkaufen, dann wird zwar die Staatskasse entlastet (was auch der eigentliche Zweck solcher »Maßnahmen« ist), aber die Kapitalakkumulation wird dadurch so wenig gesteigert wie durch einen Handtaschenraub.

Es stellt sich die Frage, ob die linke These von der kapitalistischen Überwindung der Krise, dem ungebrochenen Weiterlaufen der Arbeitsgesellschaft und der vermeintlichen Rückkehr zur (schlechten) »Normalität« nicht ebenso brutal »interessiert« ist wie dieselbe These des Neoliberalismus mit umgekehrtem (positivem) Vorzeichen. Offensichtlich fürchtet sich die Linke ganz genauso wie die Vertreter der kapitalistischen Institutionen davor, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß der kategoriale Kern des modernen warenproduzierenden Systems, die abstrakte »Arbeit«, rapide verfällt – und damit allerdings auch die Möglichkeit systemimmanenter Reformbewegungen. Joachim Hirsch etwa bringt kein einziges ökonomisches (akkumulationstheoretisches) Argument vor, um seine These zu stützen, sondern ausschließlich »soziologische« und »politologische« Argumente. Die Analyse bewegt sich überhaupt nicht auf der Ebene des Zusammenhangs von abstrakter Arbeit, Wertform und Kapitalakkumulation, sondern setzt diese vielmehr blind voraus. Wie sich der Neoliberalismus einbildet, durch Privatisierung, Deregulierung und Billiglohn zu einer »kapitalistischen Normalität« zurückkehren zu können, so bildet sich anscheinend die Linke ein, auf dem weiter tragenden Boden ebendieser »Normalität« wieder zu glorreichen Kämpfen um Regulierung, keynesianische Welfare-Staatsintervention und verbesserte Gratifikationen der Lohnarbeit zurückkehren zu können: Alles noch einmal von vorne, weil es so schön war? Einen immanenten Ausweg aus dem Teufelskreis von Kapitalentwertung und Massenverelendung gibt es aber nicht mehr, weil die Kluft zwischen der High-Tech-Produktion und der Überlebensökonomie ständig größer wird und nie wieder durch irgendwelche »Entwicklungsstrategien« überbrückt werden kann. Dies ist auch der Grund, weshalb die prekarisierten Arbeitsverhältnisse notwendigerweise mehrheitlich im informellen Sektor angesiedelt sind und dort auch bleiben müssen. »Informalität« ist eine Grauzone zwischen randständiger kapitalistischer Billigproduktion und »herausgefallenen« Elendstätigkeiten, damit aber gleichzeitig eine ökonomische Aktivität außerhalb des staatlichen oder sonstigen institutionellen Regelwerks (Arbeitsschutz, Tarifverträge, Umweltauflagen, Sozialsystem etc.), weshalb einerseits der Schutz entfällt, den dieses bietet, andererseits aber auch keine oder fast keine Steuern mehr gezahlt werden. Auf Dauer bedeutet dies natürlich, daß sich der Staat immer weiter aus seinen traditionellen allgemeingesellschaftlichen Funktionen zurückzieht und somit der politische Rahmen völlig zerbricht, der für eine funktionierende Marktwirtschaft unerläßlich ist. Sogar die Polizei überläßt ihre »Ordnungsfunktionen« irgendwelchen Banden (mit denen sie nicht selten eng verwoben ist), das Schul-, Gesundheits- und Sozialsystem zerfällt immer weiter ebenso wie die materielle Infrastruktur. So beschleunigt sich die Abwärtsspirale, und letztlich gehen selbst noch die Bedingungen für eine extrem unterproduktive Marktteilnahme verloren (als Absatzmärkte spielen die Zusammenbruchsregionen im Süden und Osten ohnehin schon lange keine nennenswerte Rolle mehr).

Natürlich sind dabei die Grenzen fließend, zumindest in der gegenwärtigen Phase des Krisenprozesses. Es gibt auch im informellen Sektor durchaus gut verdienende Betriebe und Einzelpersonen, die wahrscheinlich ohne weiteres die Kosten der Formalität aufbringen könnten; aber für die überwiegende Mehrheit trifft dies eben nicht zu. Es wird dort einfach nicht genug Wert geschöpft, um auch noch den Staat oder andere gesellschaftliche Institutionen daran zu beteiligen. Die Informalisierung der Ökonomie resultiert notwendigerweise aus dem säkularen Abschmelzen der Arbeits- und Wertsubstanz, kann diesen Prozeß aber keinesfalls aufhalten. Solange die kapitalistische Form, der Selbstzweck der betriebswirtschaftlichen Vernutzung von abstrakter »Arbeit«, die allgemeine Bedingung der gesellschaftlichen Reproduktion bildet, kann die gewaltige mikroelektronische Steigerung der Produktivkräfte, die ein leichtes und gutes Leben für alle ermöglichen würde, nur noch zu immer neuen Gesellschaftskatastrophen führen.

Innerhalb dieses Krisenprozesses kommt es zu paradoxen sozialökonomischen Erscheinungen. Einerseits ist bereits die Mehrheit der Weltbevölkerung zu »Marktsubjekten« degradiert, die für den Weltmarkt eigentlich überflüssig sind. Andererseits hat aber gerade diese verzweifelte Lage die von Markt und Geld bestimmte Bewußtseinsform sogar noch verstärkt und ausgedehnt. In vielen Ländern der »Dritten Welt«, wo die Waren- und Arbeitsgesellschaft bis in die siebziger Jahre hinein (zumindest mental und kulturell) noch gar nicht richtig angekommen war, hat ausgerechnet die Krise der Arbeitsgesellschaft einen gewaltigen Schub der »Vermarktwirtschaftlichung« ausgelöst. Es ist leider nicht nur ideologisches Wunschdenken, wenn die Neoliberalen im informellen Sektor lauter verkannte Kleinunternehmer entdeckt haben wollen. Gerade die nicht mehr verkäufliche Arbeitskraft verwandelt sich in eine Art »Elendsunternehmertum« in den Nischen und Sekundärbereichen der Zirkulation (man denke etwa an die ungeheuren Massen von »selbständigen« ambulanten Straßenhändlern). Nicht nur die materiellen und sozialen Existenzweisen, sondern auch die Mentalitäten haben sich zunehmend diesem Modell entsprechend verändert, wenn auch freilich nur in der negativen Form des puren Überlebenskampfs.

Trotz aller Momente von nachbarschaftlicher Selbsthilfe und familialer (vor allem weiblicher) »Eigenarbeit«, ohne die ein Überleben im informellen Sektor kaum möglich wäre, bildet dieser keine eigenständige sozialökonomische Formation und schon gar nicht ein »Gegenmodell« zur Marktwirtschaft, sondern er stellt bloß deren Zerfallsform dar, in der sie am Ende ihres historischen Durchmarschs noch einmal auf besonders ekelhafte Weise zur Kenntlichkeit gelangt. Die universelle Konkurrenz von Marktsubjekten ist nicht etwa aufgehoben, sondern reproduziert sich auf Elendsniveau sogar noch verschärft. Zugleich hängt der informelle Sektor gerade in seiner Armseligkeit auf Gedeih und Verderb davon ab, daß die Verbindungen zu den transnationalen Waren- und Geldströmen nicht völlig abreißen, auch wenn die entsprechenden Anteile, gemessen am Umfang des Weltsozialprodukts, nur geringfügig ins Gewicht fallen. Werden diese Verbindungen gekappt, weil selbst die minimalen Bedingungen einer Weltmarktteilnahme entfallen oder der Finanzüberbau des Landes zusammenbricht (oder beides), ist der Weg in eine Plünderungs- und Bandenkriegsökonomie vorgezeichnet, wie sie in weiten Teilen der Welt bereits wütet.

In den westlichen Zentren verschränken sich die prekarisierten und informalisierten Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die auch hier dramatisch zunehmen, mit dem unteren Segment dessen, was im sozialwissenschaftlichen Diskurs ebenso unscharf wie beschönigend als »Dienstleistungsgesellschaft« bezeichnet wird. Dieser Diskurs, der seinen Ausgangspunkt in den 60er Jahren hatte, will suggerieren, daß die Krise der Arbeitsgesellschaft durch eine Schwerpunktverschiebung vom Produktions- in den Dienstleistungsbereich gelöst werden könne. Oberflächlich soziologisch betrachtet scheint die Entwicklung der letzten Jahrzehnte diese These zu bestätigen. In allen westlichen Ländern, wiederum mit den USA an der Spitze, hat seit Mitte der 70er Jahre der »tertiäre Sektor« relativ und absolut enorm an Gewicht gewonnen. Teilweise handelt es sich dabei um statistische Verzerrungen, die zum Beispiel dadurch entstehen, daß viele Funktionen wie etwa Gebäudereinigung, Buchhaltung, Transportwesen oder EDV nicht mehr betriebsintern erledigt werden, sondern auf externe »Dienstleistungsfirmen« übergehen (»Outsourcing«) oder daß Arbeitskräfte bedarfsweise bei Zeitarbeitsfirmen »angemietet« werden. In all diesen Fällen entsteht gar kein neuer eigenständiger Sektor der Reproduktion jenseits der Industrie, sondern es werden nur bestimmte industriebezogene Tätigkeiten neu erfaßt. Davon abgesehen gibt es aber den statistischen Trend einer Verschiebung zum »tertiären Sektor« tatsächlich.

Aber genau wie beim Billiglohn, dessen Ausbreitung sich ja mit der »Tertiarisierung« überschneidet, stellt sich auch hier die Frage, ob die Verdrängung von Arbeitskraft aus den Kernsektoren der industriellen Weltmarktproduktion durch das Wachstum des Dienstleistungssektors tatsächlich im Sinne der Kapitalakkumulation kompensiert oder gar überkompensiert werden kann. Die theoretisch unvermittelte empirische Betrachtung scheint dies nahezulegen. Allerdings nur deshalb, weil dabei ganz einfach die Anzahl der neu enstandenen »Arbeitsplätze« oder die Volumina der Arbeitszeiten aufaddiert werden, ohne zu fragen, in welchem Verhältnis diese Größen eigentlich zum gesamtgesellschaftlichen Prozeß der Kapitalverwertung stehen. Wie bereits an der industriellen Produktion gezeigt, bedeutet die bloße Expansion von Arbeitszeit (einmal angenommen, dies sei ein empirisches Faktum) keinesfalls automatisch, daß dabei auch stets die Produktion von Wert zunimmt. Das Problem ist bei den Dienstleistungen freilich etwas anders gelagert als bei der Näherin in der Hinterhofklitsche. Deren Arbeit ist zwar durchaus im direkten Sinne wertproduktiv, sie repräsentiert jedoch nur ein sehr geringes Quantum an Wert, weil sie gemessen an der automatisierten Textilfabrik extrem unterproduktiv ist. Die meisten Dienstleistungstätigkeiten dagegen produzieren schon grundsätzlich und strukturell, aufgrund ihrer Stellung und Funktion innerhalb des ökonomischen Gesamtzusammenhangs, selber gar keinen Wert, auch wenn dabei Arbeitszeit verausgabt wird. Sie dienen entweder dazu, die allgemeinen Funktionsbedingungen und -voraussetzungen der Warenproduktion zu gewährleisten, oder sie sind deren unselbständiges Anhängsel und als solches vom eigentlichen Verwertungsprozeß abhängig, den sie selbst aber nicht in Gang halten können.

Das gilt zum einen und in besonderem Maße für die gesamtgesellschaftliche Infrastruktur im weitesten Sinne des Wortes: also für das Verkehrs-, Kommunikations-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen, die Rechtsprechung und die Grundlagenforschung, die Polizei und das Militär etc. All diese Funktionen werden nicht zufällig zu einem erheblichen Teil direkt vom Staat übernommen oder von ihm finanziert, denn obwohl sie für den kapitalistischen Gesamtzusammenhang unentbehrlich sind, können sie aufgrund ihres Allgemeinheitsgrades und ihrer mangelnden Marktfähigkeit nicht oder nur sehr bedingt betriebswirtschaftlich »rentabel« organisiert werden. Es handelt sich um »öffentliche Güter«, die prinzipiell jedem und jeder zur Verfügung stehen müssen und deren Kosten deshalb in Form von Steuern und Abgaben auf die Allgemeinheit umgelegt werden. Ihre Finanzierung erfolgt zu Lasten der Lohn- und Gehaltseinkommen wie der Gewinne, stellt also einen Abzug von der verfügbaren Wertmasse dar. Deshalb versucht sich ja jedes Unternehmen vor dem Finanzamt zu drücken, während es andererseits selbstverständlich die öffentliche Infrastruktur nutzt.

Gesamtökonomisch betrachtet handelt es sich bei den »öffentlichen Gütern« um Konsum (zumeist Staats- oder Quasi-Staatskonsum), weil der dafür verausgabte Wertanteil für betriebswirtschaftliche Investitionen nicht mehr zur Verfügung steht; und zwar auch dort nicht, wo im gängigen Sprachgebrauch von »öffentlichen Investitionen« gesprochen wird. Denn diese werfen nicht selbst Profite ab, sondern sind nur allgemeine Voraussetzungen dafür, daß sich eventuell Betriebe »ansiedeln«, die ein paar Arbeitskräfte vernutzen. Wenn ein »Standort« überhaupt noch Aussichten auf eine Weltmarktteilnahme haben will, muß er die öffentliche Infrastruktur auch dort aufrechterhalten, wo eine erfolgreiche Kapitalverwertung gar nicht oder kaum stattfindet (wie etwa viele ostdeutsche Kommunen bitter erfahren mußten, die zwar ausgewiesene Industriegebiete und Autobahnanschlüsse haben, aber keine dazugehörigen produzierenden Gewerbebetriebe).

Strukturell ähnlich verhält es sich mit all den Dienstleistungen, die nur die Waren- und Geldzirkulation in Gang halten; also Tätigkeiten in Verkauf und Vertrieb, in der kaufmännischen Verwaltung und der Buchhaltung, im Bank- und Finanzsektor, in Versicherungen, Rechtsanwaltskanzleien und dergleichen mehr. Auch sie sind als allgemeine Funktionsbedingungen unerläßlich für eine gelingende Kapitalverwertung, produzieren aber selbst keinen Wert, sondern müssen aus der industriell geschöpften Wertmasse finanziert werden. Insofern handelt es sich bei ihnen ebenfalls um »tote Kosten« des Systemerhalts, auch wenn sie auf einer anderen Funktionsebene als die »öffentlichen Güter« angesiedelt sind. Dieser Sachverhalt wird nur dadurch verschleiert, daß Handelsketten, Banken, Rechtsanwaltskanzleien usw. selber als private Unternehmen betrieben werden, die ihren Anteil am gesellschaftlichen Wertprodukt als Umsatz und Gewinn ausweisen, als hätten sie ihn selbst produziert. Wie wenig dieser Schein der ökonomischen Realität entspricht, zeigt sich spätestens immer dann, wenn eine Region unter die Räder der Konkurrenz kommt und zusammen mit der Weltmarktproduktion selbstverständlich auch die dazugehörigen nachgeordneten Dienste im zirkulativen, juristischen usw. Bereich zusammenbrechen. Nicht nur Fabrikarbeiter, sondern auch Verkäufer und Bankangestellte landen dann auf der sprichwörtlichen Straße. Andererseits werden die kaufmännischen und Verwaltungstätigkeiten, aber auch bei den Weltmarktgewinnern wird abgebaut, weil sie ebenso wie die industriellen Produktionstätigkeiten von der mikroelektronischen Rationalisierung erfaßt werden. Die Unternehmen suchen sich des toten Gewichts zu entledigen, das auf ihren Gewinnen lastet.

Die größten, in der Vergangenheit aufgebauten Bereiche des »tertiären Sektors« werden also durch Krise und Rationalisierung in Wirklichkeit abgeschmolzen, statt einen neuen eigenständigen Sektor der Kapitalverwertung zu bilden. Was bleibt, ist das allerdings tatsächlich wachsende Segment der »personenbezogenen Dienste«, auf das die neoliberale Krisenverwaltung besondere Hoffnungen setzt: »Wenn es gelänge, ein Fünfzigstel der Eigenarbeit in bezahlte Arbeit zu überführen, könnten 800.000 Arbeitsplätze entstehen«, schwärmt etwa die »Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen« (Kommission 1997, S. 117). Bedauerlicherweise stehe dem aber eine »ausgeprägte Selbstversorger-Mentalität der Deutschen« entgegen (ebd., S. 133). Gemeint ist damit nicht etwa, daß ein allzu großer Teil der deutschen Bevölkerung sein Gemüse im Schrebergarten anbaut, sondern daß er in frivolem Eigensinn darauf beharrt, seine Einkaufstüten selbst einzupacken und seine Nasen selbst zu schneuzen, statt dafür eine bezahlte Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Dieses geradezu unverschämt arbeitsplatzverhindernde Verhalten gilt es deshalb nach den Vorstellungen der »Zukunftskommission« zu verändern, um einer Armee von schlecht entlohnten und dauerlächelnden Domestiken zu ihrem Arbeitsglück zu verhelfen. Die dreiste Zumutung wird in eine nur allzu durchsichtige »sozialpsychologische« Argumentation verpackt: »Neben dem materiellen können einfache personenbezogene Dienste auch den immateriellen Wohlstand erhöhen. So kann das Wohlbefinden der Kunden steigen, wenn ihnen Dienstleister belastende Eigenarbeit abnehmen. Zugleich steigt das Wohlbefinden der Dienstleister, wenn sich ihr Selbstwertgefühl (!) durch die Tätigkeit erhöht. Einen einfachen personenbezogenen Dienst auszuüben ist für die Psyche besser, als arbeitslos zu sein« (ebda., S. 119). Damit ist unmißverständlich das politische Programm repressiver Krisenverwaltung formuliert, nämlich knallhartes Vorgehen gegen diejenigen, deren »Wohlbefinden« nicht durch das Putzen fremder Schuhe gesteigert wird. Ökonomisch freilich handelt es sich um nichts als haltlosen arbeitsideologischen Zweckoptimismus, denn wie bei den artverwandten »Elendstätigkeiten« der »Drittwelt«-Slums ist auf diese Weise keine eigenständige Kapitalakkumulation auf den Weg zu bringen. Prinzipiell kann zwar das Gepäcktragen, das Schuheputzen oder das Verabreichen einer Massage durchaus genauso reale Warenproduktion darstellen wie die Fabrikation eines Koffers oder eines Paars Schuhe, denn entscheidend dafür ist nicht, ob das Resultat der Verausgabung abstrakt-menschlicher Energie nun materiell oder immateriell ist. Doch die »personenbezogenen Dienste« sind ihrer Natur nach großenteils nicht oder nur sehr bedingt als Kapitalverwertung zu betreiben (Man stelle sich einen Schuhputz- oder Babysitter-Konzern vor.) und deshalb auch nicht in der Lage, eine autonome Akkumulationsdynamik zu entfesseln. Die Arbeit des Schuhputzers, der Hausangestellten, der Pflegekraft usw. erlischt im (meist nicht gerade üppigen) persönlichen Konsum und kann daher nicht als »tote Arbeit« aufgehäuft und zum Ausgangspunkt für die Verausgabung weiterer Arbeit werden.

Deshalb sind auch diese Dienstleistungen als sekundäre Warenproduktion strukturell abhängig von einem funktionierenden industriellen Verwertungsprozeß, aus dessen Wertprodukt sie sich speisen, den sie aber selbst nicht anfachen und tragen können. Das zeigt sich auch an der Marktoberfläche von Angebot und Nachfrage: Die »personenbezogenen Dienste« treten nicht an die Stelle industrieller Produktion, sondern verschwinden zusammen mit dieser, weil dann die kaufkräftige Nachfrage dafür fehlt. Diese Tätigkeiten fungieren ihrem spezifischen Charakter nach nicht als Bestandteil eines informationell hoch vergesellschafteten Komplexes, sondern in der Regel als Angebot von Einzelpersonen mit geringem Sachaufwand und zumeist auch wenig inkorporiertem Wissensaufwand. Deshalb können sie im Unterschied zur industriellen Produktion auch leicht wieder aus einem Bestandteil der formellen warenproduzierenden Arbeit in »Eigenarbeit« zurückverwandelt werden (wenn ich mir die Nase wieder selber putze) oder eben in den »informellen« Sektor abwandern. Schon insofern ist es eine völlig absurde Vorstellung, das arbeitsgesellschaftliche System könne auf dieser Basis erneuert werden. Die »personenbezogenen Dienste« sind nicht der Übergang zum »Dienstleistungskapitalismus«, sondern nur die Art und Weise, wie die prekarisierten Verhältnisse und »Elendstätigkeiten« am Rande oder überhaupt außerhalb von Arbeitsgesellschaft und Kapitalverwertung ihren Einzug in die westlichen Zentren des warenproduzierenden Systems halten.

Wie erklärt sich dann aber die gewaltige Expansion dieses Sektors in den letzten fünfundzwanzig Jahren? Woher stammt die Wertmasse, aus der er sich speist, wenn er keine selbständige Akkumulationspotenz besitzt und die industrielle Wertproduktion abschmilzt? Diese Frage läßt sich wiederum nur beantworten, wenn wir den Blick auf den kapitalistischen Gesamtzusammenhang lenken. Dabei ist auffällig, daß die zunehmende »Tertiarisierung« einhergeht mit einer scheinbar paradoxen Verkehrung im Verhältnis von Realökonomie und Finanzüberbau. Die Position eines Landes in der Weltmarktkonkurrenz hängt längst nicht mehr unmittelbar von seiner industriekapitalistischen Produktivität ab (die natürlich weiterhin eine Rolle spielt), sondern zunehmend von der Fähigkeit, das frei flottierende Kredit- und Spekulationskapital anzuziehen und in die eigenen Wirtschaftskreisläufe zu schleusen. Insbesondere die Weltmacht USA hat sich zu einem gigantischen Magneten für die an den transnationalen Finanzmärkten geschöpfte, ungedeckte Liquidität entwickelt – und keineswegs zufällig ist es ausgerechnet dieses Land, dem der Sprung in die volle »Dienstleistungsgesellschaft« angeblich bereits geglückt sein soll.

Was als zufälliges Nebeneinander zweier unterschiedlicher Phänomene erscheinen könnte, steht in Wahrheit in einem kausalen inneren Zusammenhang. Es ist weithin üblich geworden, die wuchernden Finanzmärkte als verantwortlich für das sozialökonomische Desaster in den meisten Teilen der Welt und also zur Krisenursache zu erklären. Weil dort die »flotte Mark« zu machen sei, zögen diese luftigen Sektoren den Großteil des weltweit verfügbaren Geldkapitals an, das somit für realökonomische »Arbeitsplatz-Investitionen« und/oder für die sozialstaatliche Anregung der Nachfrage verlorengehe. Würde dieses Geldkapital dagegen in die richtigen Kanäle gelenkt, vor allem »produktiv« verausgabt, dann gäbe es das Problem der Massenarbeitslosigkeit womöglich gar nicht. Dieses Erklärungsmuster ist nicht nur in seinen ideologischen Konsequenzen gemeingefährlich, weil es mit der Mobilisierung gegen »die Spekulanten« (zumindest untergründig) auch das antisemitische Ressentiment vom angeblich die Welt beherrschenden »jüdischen Finanzkapital« wiederbelebt, es stellt auch den ökonomischen Sachverhalt auf den Kopf.

Nur über die riesigen Massen ungedeckter Liquidität, die seit den siebziger Jahren im Finanzüberbau ohne jede reale Vernutzung warenproduzierender Arbeitskraft »geschöpft« wurden, war es nämlich den westlichen Ländern möglich, den vollen Durchschlag der Krise vorübergehend aufzufangen und so der Arbeitsgesellschaft ohne ausreichend real wertschöpfende Arbeit noch einmal eine Galgenfrist zu verschaffen. Dieser Mechanismus des Krisenaufschubs über die Aufblähung von Kredit und Spekulation ist an sich nicht neu. Er hat schon in der Vergangenheit den Verlauf der größeren Krisen geprägt und noch jedesmal mit einem Krach der Finanzmärkte geendet. Bei einem solchen »Crash« wird die aufgeschobene Entwertung des Kapitals auf einen Schlag vollzogen, mit der Konsequenz von massenhaften Unternehmens- und Bankenzusammenbrüchen, Explosion der Massenarbeitslosigkeit usw. Neu daran ist heute nur, daß die Deregulierung und Transnationalisierung der Finanzmärkte ebenso wie die schon früher vollzogene völlige Entkopplung des Geldes von der Golddeckung eine historisch einmalig lange Dauer des Aufschubs ermöglichte.

Zunächst war es die rapide ansteigende Staatsverschuldung, die Geldkapital ansaugte und zugleich den Sockel für eine wundersame Geldvermehrung schuf. Die Kredite wurden im allgemeinen sofort in den Wirtschaftskreislauf geschleust – nicht zuletzt für den Aufbau jener vielfältigen staatlichen Dienste und Infrastrukturen, die den ökonomisch unreflektierten Soziologen dann den ersten Aufbruch einer »Dienstleistungsgesellschaft« vorgaukelten. Tatsächlich handelte es sich dabei aber eben um Staatskonsum und nicht um eine Kapitalverwertung, also auch nicht um eine real expandierende Wertmasse, aus der die Zinsen und Tilgungen hätten bedient werden können. Prinzipiell stellt nämlich jeder Kredit einen Vorgriff auf eine zukünftig erwartete Verwertung, also auf eine zukünftige betriebswirtschaftliche Vernutzung von Arbeitskraft dar. Solange diese Erwartungen erfüllt werden können, ist der Kredit Treibsatz einer dynamischen Kapitalakkumulation, weil die Gegenwart gewissermaßen permanent von der Zukunft gejagt wird. Beim kreditfinanzierten Staatskonsum aber ist das natürlich nicht der Fall. Während die geliehene Wertmasse verbraucht wird, häufen sich bei den Kreditgebern Ansprüche auf, die ihrerseits wieder als Nachfrage in den Wirtschaftskreislauf eingespeist werden können. So führt der längst im Staatskonsum verfeuerte Kredit ein Scheinleben als weiterhin geldheckendes Kapital, bis die ganze Sache auffliegt, weil die Staatshaushalte sich dem Notstand nähern, ihr reales Steueraufkommen nur noch für Zinszahlungen ausgeben zu müssen. Genau das geschah seit Beginn der 80er Jahre im Weltmaßstab.

In demselben Maße, wie die Staatsverschuldung an ihre Grenzen stieß, wurde dann die Aktienspekulation zum Hauptmotor des Krisenaufschubs. Auch hier wirkt der doppelte Mechanismus fiktiver Kapitalverwertung und virtueller Kaufkraftschöpfung. Zwar sind die astronomischen Zuwachsraten an den Börsen nur möglich, solange die Masse der ungedeckten Liquidität auch dort verbleibt und die Spirale weiter antreibt; trotzdem sickert ein nicht unerheblicher Teil davon in die Realökonomie ein und füttert dort die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. So ist mittlerweile etwa die Beleihung der hochspekulierten Aktienpakete eine der Hauptstützen des US-amerikanischen Konsums. Große Teile der Bevölkerung kompensieren ihre gesunkenen Einkommen durch Kredite, deren einzige Deckung die fiktiven Wertsteigerungen der letzten zehn Jahre an der Börse sind. Auf diese »pfiffige« Weise können sie gleichzeitig Kaufkraft schöpfen und weiterhin am allgemeinen Kettenbriefspiel teilnehmen, solange dieses eben noch funktioniert. Nicht weniger wichtig ist die »Subventionierung« auch der Unternehmens- und Bankbilanzen durch die Finanzmarktgewinne, ohne die viele Produktionszweige längst bankrottiert wären, und die über den Umweg von Investitionen, Gewinnausschüttungen und Gehältern ebenfalls der Nachfrage zugute kommen. Schließlich partizipiert auch der Staat über die Steuereinnahmen auf all diese Transaktionen direkt und indirekt an der anhaltenden Spekulationswelle. Das ist das offene Geheimnis der momentanen wundersamen Budgetüberschüsse des US-Staatshaushaltes, wie überhaupt der vielbewunderte Boom der US-Wirtschaft schon längst nur noch auf der virtuellen Geldschöpfung an den transnationalen Finanzmärkten beruht.

So hat also ausgerechnet die von den Liebhabern der »ehrlichen Arbeit« verteufelte Spekulation es ermöglicht, in den Zentren der Weltmarktgesellschaft noch einmal für mehr als zwanzig Jahre eine leidlich funktionierende Arbeitsgesellschaft zu simulieren. Doch die Gnadenfrist läuft ab. Denn auch die spekulative Steigerung der Aktienkurse »kapitalisiert« natürlich eine Erwartung an die zukünftige reale Wertschöpfung. Da aber unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution die Zukunft nicht mehr einlösen kann, was sie auf dem Papier versprochen hat, taugen auch die Aktienmärkte nicht länger für den Aufschub der »Entwertung des Werts«. Nach den Crashs in Lateinamerika, Rußland und Südostasien sind in absehbarer Zeit unweigerlich auch die Finanzmärkte in Japan, der EU und den USA »reif«. In der dann anstehenden Bankrottwelle wird sich zeigen, welches Ausmaß die Krise der Arbeitsgesellschaft tatsächlich bereits angenommen hat.

Vor diesem Hintergrund muten die grassierenden linken Phantasien, den Krisenkapitalismus durch eine Besteuerung der Spekulation und eine Kontrolle der Finanzmärkte austricksen und »bändigen« zu wollen, geradezu gespenstisch an. Sie laufen auf das Paradox hinaus, »bewußt« und mit keynesianisch-linkssozialdemokratischem Anstrich ausgerechnet das zu tun, was sich als bewußtloser kapitalistischer Selbstlauf ohnehin schon vollzieht: nämlich mit dem ungedeckten Geld aus dem Finanzüberbau die Realökonomie anzuheizen und »Arbeitsplätze« zu simulieren. Sollte dieser Versuch tatsächlich unternommen werden, wäre er ein ohnehin fälliger Anlaß für den Einsturz des ganzen Kartenhauses. Die Hartnäckigkeit, mit der solche Milchmädchenrechnungen aufgemacht werden, erklärt sich aber auch gar nicht aus ihrer praktischen Relevanz, sondern aus demselben Zurückschrecken vor einer kategorialen Kritik des warenproduzierenden Systems und seiner Tätigkeitsform »Arbeit«, das auch den linken Glauben an die neoliberale Krisenbewältigung nährt.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die linken Beschwörer »kapitalistischer Normalität« und die Verfechter einer Spekulationssteuer nicht von den Vettern der »Neuen Mitte«, die von ihrer fanatischen Arbeitsrhetorik an die Regierung gespült worden sind. Aber nicht die »Dienstleistungsgesellschaft« steht bevor, sondern der endgültige Zusammenbruch der Arbeitsgesellschaft, der nach einem westlichen Finanzcrash nicht einmal mehr in den Formen von Billiglohn, Zwangsarbeit und herausgefallenen »Elendstätigkeiten« verlaufen kann. Schon jetzt ist diese Prekarisierung ebenso wie die Propaganda von »Bürgerarbeit«, »Ehrenamt« und dergleichen kein Bestandteil neuer Kapitalakkumulation, sondern eine Ansammlung von Instrumenten der sozialen Disziplinierung und der moralischen Aufrüstung, um das Ende der Arbeitsgesellschaft nicht wahrhaben zu müssen und desto härter gegen die lästigen »Überflüssigen« vorgehen zu können. Mit der offiziellen Fiktion, jeder könne »arbeiten«, wenn er nur wolle (und sei es für einen warmen Händedruck), wird die moralische Legitimation für die Definition von »Sozialschmarotzern« geschaffen, denen im Namen der »ehrlichen Arbeit« selbst die schäbigste Unterstützung gestrichen werden darf, um sie als Haßobjekt für die aufsteigende Panik der Arbeitsvolksseele freizugeben. Und wer wäre besser für diese feine englische Art der Krisenverwaltung geeignet als die klassische »Partei der Arbeit« mit einem olivgrünen Juniorpartner?

Literatur

Hirsch, Joachim (1999): Geht die Arbeit wirklich aus?, in: Jungle World, 9. 6. 1999, S. 15-18

Komlosy, Andrea/ Parnreiter, Christof/ Stacher, Irene/ Zimmermann, Susan (1997): Der informelle Sektor: Konzepte, Widersprüche und Debatten, in diess. (Hrsg.): Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft, Frankfurt/M., S. 9-28

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen, Maßnahmen (Teil III), Bonn

Piper, Nikolaus (1998): Langfristig sind wir tot, in: Süddeutsche Zeitung, 6.8.1998


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