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Krisis 28 – Editorial



„Bei einem Brand in einem Einkaufszentrum in Paraguays Hauptstadt Asunción kamen am Sonntagnachmittag nach Polizeiangaben mindestens 340 Menschen ums Leben, 300 wurden zum Teil schwer verletzt. Wie dutzende Augenzeugen berichteten, hatten Wachleute des Einkaufszentrums nach Ausbruch des Feuers die Türen verschlossen, um Plünderungen zu verhindern. Damit wurde der Komplex der Kette Ykuá Bolaños zur tödlichen Falle. Von draußen warfen Passanten Steine gegen die Glastüren, um die Eingeschlossenen zu befreien. Erst als Polizei und Feuerwehr angerückt waren, öffneten die Wachleute die Türen.“ (taz vom 3. 8. 2004)

Es war keineswegs die einzige Horrornachricht, die Anfang August das Sommerloch füllte, und was die Opferzahlen angeht sicherlich nicht die schlimmste. Während in Asunción die Kaufhausbesucher verbrannten, stand zeitgleich die halbe Bevölkerung Bangladeschs – der globalen Klimakatastrophe und der beschleunigten Entwaldung der Himalajahänge wegen – bis zum Hals im Wasser. Die Reaktionen auf die beiden Katastrophen hätten indes kaum unterschiedlicher ausfallen können. Die Flut auf dem indischen Subkontinent nahmen die hiesigen Zeitungsleser und Fernsehzuschauer mit buddhistischem Gleichmut hin. Die massenmörderische Tat des Kaufhauschefs mit dem frommen Namen, Juan Pio Paiva, und seiner Angestellten löste trotz aller Abstumpfung für einen kurzen Moment Unglauben und Entsetzen aus. Warum das? Was hob den Vorfall in Paraguays Hauptstadt aus der Monotonie der täglichen Gräuel- und Unglücksmeldungen heraus?

Für gewöhnlich hat, wer mit monströsen Verbrechen Schlagzeilen macht, sich an Normen vergangen, die als selbstverständlich gelten. Pio Paivas Untat ist aus dem gegenteiligen Grund grauenerregend. Die oberste Maxime seines Handelns, „Zuerst das Geld, dann alles andere“, deckt sich vollkommen mit dem kategorischen Imperativ, auf dem die gesamte Warengesellschaft beruht.

„Geld oder Leben!“ Neu ist sie nicht, diese Alternative. In den Weltmarktzentren stellt sie sich üblicherweise (noch) nicht in ihrer extremen Form, der Zuspitzung auf die nackte Existenz; ansonsten bestimmt sie das Dasein im globalen Krisenkapitalismus auf Schritt und Tritt. Auch Paivas Prioritätensetzung war völlig systemkonform. Tag für Tag entscheiden Milliarden von Menschen notgedrungen oder aus Überzeugung genauso und stellen das Geldverdienen allem anderen voran. Die Herrschaft von Ware und Wert unterwirft die Gesellschaft einer Logik von Lebenszeitvernichtung, Zerstörung und Tod. Die Gleichgültigkeit der Selbstzweckbewegung der Wertverwertung und des Geldverdienens gegenüber allem und jedem bedeutet auch die Gleichgültigkeit gegenüber möglichen mörderischen Konsequenzen. Das grauenhafte Geschehen im Kaufhaus Ykuá Bolaños wiederholt im Kleinen, wie die Warengesellschaft im Großen funktioniert. Die Quintessenz des globalen kapitalistischen Horrors hat sich dort zu einem Einzelereignis zusammengezogen.

Ein Resümee sagt das Wesentliche über das Ganze, ohne das Ganze zu sein. Es lässt Zwischenglieder und Vermittlungsschritte weg und schließt Ausgangspunkt und Resultat so kurz wie möglich zusammen. Genau daraus speiste sich wesentlich das Erschrecken über das Geschehen in Asunción. Der warengesellschaftliche Normalbetrieb produziert Tod und Zerstörung, aber er erzeugt sie nicht direkt, sondern indirekt und damit weitgehend anonymisiert. Die Handlungen vieler „Marktteilnehmer“ tragen hochgradig vermittelt dazu bei, Bangladesch unter Wasser zu setzen. Das bedeutet vielleicht nicht gleich „Unschuld“, aber auf alle Fälle entsteht so Unzurechenbarkeit und Unzuständigkeit. Die Auflösung der zerstörerischen gesellschaftlichen Praxis in eine Vielzahl voneinander scheinbar unabhängiger Einzelakte garantiert im Zweifelsfall die Verantwortungslosigkeit jedes einzelnen Warensubjekts. Der Blick auf das warengesellschaftliche Zerstörungswerk und seinen Wahnsinn wird durch deren Größe, Komplexität und kollektiven Charakter verlässlich verstellt. Bei Pio Paivas resümierender massenmörderischer Tat fallen all diese Sichtblenden weg.

Im brutal-banalen Motiv der übereifrigen Geldknechte scheint der Gesamtirrsinn geldvermittelter Vergesellschaftung auf. Aber nicht allein deshalb lief es dem hiesigen Publikum einen Moment lang eiskalt den Rücken hinunter. Schaudern machte nicht zuletzt, wer da an welchem Ort dem gesellschaftlichen Formprinzip als Brandopfer dargebracht wurde. Dass Zahlungsunfähige und kapitalistisch Überflüssige vor den Fenstern und Türen der Warengesellschaft krepieren, daran hat man sich gewöhnt. Wachleute, Polizisten und Grenzschützer der einen oder anderen Sorte sind für die Externalisierung zuständig und sorgen damit für die Aufrechterhaltung dieser Sterbeordnung. Indem der Kaufhauschef seine Sicherheitskräfte anwies, die werte Mittelschichtskundschaft sicherheitshalber an der Flucht vor den Flammen zu hindern, hat er von einem Augenblick auf den anderen die vertrauten Verhältnisse umgekehrt. Ausschluss verwandelte sich schlagartig in Einschluss. Menschen, die sich in der Kaufhauswelt vor der Krisenrealität beschützt wähnten, fanden sich in der Rolle von Internierten in einer Feuerhölle. Und das alles nur aus einem Grund: das Kriterium, das die Grenzlinie zwischen Warenleben und Tod bestimmt, hatte sich verschoben. Normalerweise reicht absolute Zahlungsfähigkeit, um im Zweifelsfall auf der sicheren Seite zu stehen. Die Kunden des Kaufhauses von Asunción hatten dagegen ihr Leben schon dadurch verwirkt, dass sie durch widrige äußere Umstände an der rechtzeitigen Realisierung ihrer durchaus vorhandenen Zahlungsfähigkeit gehindert waren. Selbst notorischen Gewinnern wird angesichts eines solchen Schicksals mulmig.

Die Sprachregelung, mit der die hiesigen Medien in ihrer Berichterstattung aufwarteten, ist in diesem Kontext aufschlussreich. Genau wie im Eingangszitat aus der taz hieß es auch anderweitig allenthalben, die Sicherheitskräfte hätten „Plünderungen“ verhindern wollen.

Das stellt das reale Geschehen auf den Kopf. Das Vorgehen der Wachleute zielte offensichtlich nicht darauf ab, die Armen der Stadt am Eindringen in das brennende Kaufhaus zu hindern, wie es das Wort Plünderung nun einmal suggeriert. Beim qualvollen Tod der Warenhausinsassen handelte es sich keineswegs um einen ungewollten Nebeneffekt der Abriegelung nach außen. Es ging von vornherein darum Zahlungsfähige am Entkommen zu hindern. Der Schock über die Umkehrung der vertrauten Sterbeordnung saß wohl derart tief, dass der Warenverstand nicht einmal ohne größere Anlaufschwierigkeiten diesen Fakt beim Namen nennen konnte. Oder mutieren Menschen, nur weil sie um ihr Leben rennen und darüber ihre Konsumentpflichten hintanstellen, zu Plünderern?

Der fatale Ladenschluss zur Unzeit lässt sich als Chiffre für den warengesellschaftlichen Gesamtwahnsinn lesen. Es ist indes auch ein Menetekel für die fortschreitende Verwilderung der Warensubjekte, die auf die Zerstörung des gemeinsamen Konkurrenzrahmens hinausführen muss. Die Warengesellschaft wäre längst in Anomie versunken, würden ihre Mitglieder der Verpflichtung nachkommen, ihre individuellen Konkurrenzinteressen in jedem Augenblick mit der von der zeitgenössischen ökonomischen Theorie gepredigten Beinhärte und Rücksichtslosigkeit durchzuprügeln. Völlige Entgrenzung der Konkurrenz im Inneren und die totale Fixierung auf das vereinzelte Geldinteresse stellt mit der Kooperationsfähigkeit selbst noch das einzelbetriebliche Funktionieren in Frage. Davon weiß jede von Mobbing geschüttelte Firma ein Liedchen zu trällern. Selbst das hartgesottenste Warensubjekt muss bei entsprechendem Anlass schon mal Fünfe grade sein lassen und sein individuelles Geldinteresse zugunsten übergeordneter Gesichtspunkte vergessen. Als Pio Paiva die Kassen retten und die Menschen verbrennen ließ, hat er selbst noch in einer extremen Notsituation das Vergessen erfolgreich vergessen. Damit führte er der Weltöffentlichkeit vor Augen, dass es sich beim homo oeconomicus purus, dem Menschenideal unserer Epoche, um einen Zwillingsbruder des Amokläufers handelt. Diese Identität wird im Zuge des verschärften Krisenprozesses immer offensichtlicher.

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„Die Linke ist nicht weniger verrückt als die Gesellschaft, die sie bekämpft“, heißt es im Editorial von krisis 25. „Was uns besonders stört, ist das wieder um sich greifende Sektensyndrom in der radikalen Linken, das Wiederaufleben kannibalistischer Orgien“, ist da zu lesen – und doch sind wir gerade in diesem Jahr selbst Gegenstand einer solchen geworden. Im Zuge dieser Auseinandersetzung ist es zur Abspaltung einiger Mitglieder um Robert Kurz und Roswitha Scholz gekommen, die nun die Zeitschrift Exit herausgeben. Schmerzlich haben wir erkennen müssen, dass die formelle Seite der krisis im Gegensatz zur inhaltlichen nicht nur schwächer entwickelt gewesen ist, sondern dass diese Diskrepanz auch mit ein Grund gewesen ist, dass der Konflikt in der alten Struktur nicht bewältigt werden konnte. Auf dieser Ebene besteht dringender Nachholbedarf.

Die Verrücktheit des Ganzen springt eigentlich ins Auge. Man lese nur das sechzigseitige Abrechnungspapier von Robert Kurz, „Die Revolution der Nettigkeit“ (unter „Zur Spaltung der Krisis“ auf http://www.exit-online.org/html/aktuelles.php [1]). Wir werden nichts Ähnliches vorlegen. Wir sind kein Anti-Exit- oder Anti-Kurz-Projekt. Unsere Lebenszeit ist uns für solcherlei Unsinnigkeiten einfach zu schade. Auch weigern wir uns entschieden, auf dieses Niveau der Auseinandersetzung hinabzusteigen. Ansonsten verweisen wir auf „Zur Spaltung der Krisis-Gruppe – Erklärung ehemaliger Redaktions- und Trägerkreismitglieder“ auf unserer Homepage www.krisis.org. Wer noch mehr wissen möchte, dem schicken wir die Dokumentensammlung des unseligen Crashs zu. Wir sind jedenfalls nicht bereit, uns in einen Grabenkampf zu begeben. Es gibt genug anderes zu tun. Und damit meinen wir nicht den Prozess, den die Exit-Leute gegen uns angestrengt haben (übrigens ohne jede Aussicht auf Erfolg), um die Ungültigkeit einer Mitgliederversammlung gerichtlich feststellen zu lassen.

Insgesamt glauben wir, dass unsere theoretische Publikationstätigkeit für sich, und damit für uns spricht. Wenn Exit uns kategorisch alle Freundschaft aufkündigt, so kündigen wir ihnen ebenfalls, aber nicht die Freundschaft, sondern die Feindschaft auf, die unser Anliegen nicht ist und auch nicht werden wird. Unsere negative Energie gilt dieser Gesellschaft, nicht einem anderen wertkritischen Projekt.

Wer die krisis-Gruppe nur von der Artikellektüre her kennt, dürfte von der Trennung ziemlich überrascht sein. Tatsächlich gibt es keine theoretischen Differenzen, die auch nur annähernd so tief wären, dass sie die Sprengung des gemeinsamen Rahmens erklären könnten. Die Gründe sind auf anderen Ebenen zu suchen. Dieses Editorial ist kein geeigneter Platz, um die biographischen und psychologischen Hintergründe einer solch unerquicklichen Entwicklung zu erörtern. Für den Fortgang des wertkritischen Projekts ist überdies ein anderer Aspekt weit wichtiger: Seit ihren Anfängen gehörte es zum Anspruch der krisis-Gruppe, das traditionelle linke Universum hinter sich zu lassen. Inhaltlich wurde er durchaus eingelöst. Was Diskussionskultur, Theorieerarbeitungsformen sowie die Frage des Status von Theorie und Theoretiker/in angeht, lässt sich jedoch nicht unbedingt das Gleiche behaupten.

In der postmodernen Warengesellschaft gehorcht die Ideenproduktion dem Wechselspiel von Beliebigkeit und Markenpolitik. Im Miniformat reproduziert sich dieses Muster auch im linken gesellschaftskritischen Milieu. Begeisterung für die monoton bunte Angebotsvielfalt auf dem kleinen Restemarkt der Meinungen und aggressive Selbstbehauptungspolitik, die mit mühsam zusammengebastelten Identitätsprofilen ihre Claims abzustecken versucht, ergänzen sich und regieren weitgehend die Szene. Je schwächer das gesellschaftskritische Lager ist, desto mehr verstärkt sich der vom herrschenden Konkurrenzidiotismus ausgehende Druck. Die Selbststerilisierung der linken Opposition schreibt die Verhältnisse fort, denen sie geschuldet ist. Solange das aktuelle Standing auf dem linken Mikromarkt sich immer wieder als das entscheidende Kriterium durchsetzt, kann von einer gesellschaftlichen Veränderungsperspektive allemal nur ein blasser Schatten an der Wand bleiben.

Radikale Gesellschaftskritik kommt nicht umhin, einen jenseits der Scheinalternative von Pluralismus oder zwangsidentitärer Selbstinszenierungsübungen gelegenen Standpunkt zu beziehen. Sie muss diese Mechanismen reflektieren und als Kritikgegenstand ernst nehmen, wenn sie ihnen letztlich nicht selbst aufsitzen will. Scharfe Polemik gegen die herrschenden Verhältnisse ist dringend geboten, kein Zweifel. Gewinnt sie aber wirklich an Treffsicherheit und Präzision, wenn sie als rhetorischer Overkill vom Standpunkt des allwissenden Theoretikers gegenüber dem Nachbarsoziotop daherkommt? Dementiert Wertkritik nicht den inhaltlich längst vollzogenen Abschied vom traditionellen linken Universum, wenn sich immer wieder eine Negativfixierung auf das linke Szene-Milieu einschleicht?

Es steht an, diese Fragen sehr viel ernster zu nehmen als bisher. Dazu gehört auch, dass das diskursive Moment bei der Theorieerarbeitung und -präsentation künftig in der krisis stärker zur Geltung kommen soll. Als Anliegen steht das zwar schon lange im Raum, seine Umsetzung dürfte der neuen Redaktionsgruppe aber deutlich leichter fallen als ihrer Vorgängerin. Dagegen werden wir den Versuch der Integration kürzerer literarischer Formen in die krisis aufgeben und sie wieder als reine Theoriezeitschrift herausgeben. Zum einen ist die Abteilung „Rezensionen, Kommentare, Glossen“ nie über ein Schattendasein hinausgekommen. Zum anderen macht die enge Kooperation mit dem wertkritischen Magazin Streifzüge diese Rubrik positiv überflüssig. Die kürzere Form der wertkritischen Textproduktion findet dort einen geeigneteren Platz.

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Die Artikel dieser krisis-Ausgaben widmen sich verschiedenen Themenschwerpunkten.

Zwei Ausprägungen des bürgerlichen Subjekts beleuchtet Franz Schandl in seinem Text Fan und Führer. Beide Typen sind allgegenwärtig, sie werden produziert wie reproduziert in Industrie wie Kulturindustrie, sind also keineswegs nur der Sphäre der Politik zugehörig. Der Populismus ist ein allgemeines Phänomen. Fan und Führer berauschen sich aneinander, der Eine ist ohne den Anderen nicht zu haben. Der Fan ist das kritiklose Unwesen. Vor den unbegriffenen Zumutungen der warenproduzierenden Gesellschaft sucht er Deckung. Affirmation und Indifferenz, Unkenntnis und Anhänglichkeit zeichnen ihn aus. Auf der Suche nach Schuldigen kann er freilich auch ins Rasen geraten. Der Fan ist, nicht anders als der Führer, Opfer und Täter in einem. Nicht nur der Täter schreit nach Opfern, auch das Opfer schreit nach Opfern. Überlegungen zur Überwindung des internalisierten Opferzwangs beenden diesen Essay.

Im Zuge der Aufklärungskritik setzt sich Christian Höner in seinem Text Zur Kritik von Dialektik, Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube mit dem Fortschrittsbegriff auseinander, um Aspekte einer Kritik des historischen Materialismus herauszuarbeiten. Denn nur allzu hartnäckig hält sich – gerade in der Linken – die Vorstellung, dass mit dem Kapitalismus der Fortschritt kam. So wird ihm in der Phase seines Niedergangs eine historische Berechtigung zugesprochen, weil er einerseits die „Naturverfallenheit“ der Menschen aufgesprengt, andererseits überhaupt Gesellschaft und damit die Voraussetzungen für Emanzipation hergestellt hätte. Dialektik als positive Erkenntnismethode, materialistische Geschichtsteleologie und Fortschrittsglaube gehören zum Inventar linker Identität. Hier finden Antipoden wie Antideutsche und traditionelle Linke auf je unterschiedliche Weise zueinander. Diesem Konsens zu widersprechen ist Anliegen des Artikels.

Der Beziehung zwischen den Menschenrechten und dem nationalstaatlichen Zerfall im Krisenprozess der Warengesellschaft widmet sich Karl-Heinz Lewed in seinem Artikel Von Menschen und Schafen. Er zeigt auf, dass der Status der Rechtsperson notwendig mit der Existenz eines staatlichen Souveräns verknüpft ist, der das abstrakte Rechtsverhältnis der vereinzelten Einzelnen im Kapitalismus repräsentiert. Im Rekurs auf Marx wird deutlich, dass das „Recht, Rechte zu haben“ (H. Arendt) nur den kapitalistischen Normalbetrieb auszeichnet. Der Ausnahmezustand, den z.B. die USA im Irak verhängt haben, verweist dagegen auf eine ebenso grundlegende Dimension: Die Einzelnen sind dem Gewaltmonopol des Souveräns bis zur äußersten Grenze des „nackten Lebens“ (G. Agamben) überantwortet. Im globalen Anwachsen politisch wie sozial anomischer Verhältnisse wird diese Grenze sichtbar und für immer mehr Menschen zur Realität.

In seinem Aufsatz Arbeitskritik und soziale Emanzipation [2] antwortet Norbert Trenkle auf die vier in der letzten Ausgabe der krisis publizierten Kritiken am Manifest gegen die Arbeit. Da diese Kritiken in vielerlei Hinsicht als exemplarisch gelten können, ist der Text nicht nur als direkte Antwort darauf zu verstehen, sondern hat allgemeineren Charakter. Er geht auf einige der zentralen Einwände ein, die quer zu den länderspezifischen und verschiedenen linken Diskursen immer wieder erhoben werden. Dazu gehört der Vorwurf, die Arbeitskritik der krisis greife zu kurz, weil sie die Ausbeutung der Arbeitskraft nicht in den Mittelpunkt rücke; außerdem sei die Diagnose vom Ende der Arbeit „deterministisch“ und „katastrophistisch“. Trenkle zeigt, dass diese Einwände einer dem traditionellen Marxismus verpflichteten Lesart geschuldet sind, die den Kern der von krisis entwickelten Arbeitskritik verfehlen. Weiterhin setzt er sich mit dem Vorwurf auseinander, das Manifest verherrliche „die Produktivkräfte“ und hält dagegen, dass die von Jaime Semprun aufgemachte simple Gleichung Kapitalismus = Industriegesellschaft nicht aufgeht. Zwar sind die Formen von Ware und Wert der industriellen Produktionsweise und der modernen Technologie nicht äußerlich, sondern ihr eingeschrieben. Dennoch lassen sich die Zwänge und die Destruktionsdynamik der kapitalistischen Gesellschaft nicht unmittelbar nur auf Letztere zurückführen. Diese verkürzte Ableitung kehrt nur pessimistisch die mechanische Sichtweise des traditionellen Marxismus um, wonach die „Entwicklung der Produktivkräfte“ geradewegs in „den Sozialismus“ führe.

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Es wird unseren werten Leserinnen und Lesern schon aufgefallen sein, dass sich diese Ausgabe der krisis in ihrem äußeren Erscheinungsbild von ihren Vorgängerinnen unterscheidet. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Pichl Peter für die Neugestaltung des Covers und an Maria Wölflingseder für das neue Layout. Bedanken möchten wir uns auch beim Unrast-Verlag für die Aufnahme in sein Programm. Wir freuen uns auf eine lange und gute Zusammenarbeit.

Achim Bellgart, Karl-Heinz Lewed, Ernst Lohoff, Franz Schandl und Norbert Trenkle (krisis-Redaktion)

August 2004


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