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Last Exit Meritocracy

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S.138 – 150

Zur Herrschaftsrationalität der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

von Holger Schatz

»Während jede Form des Realitätsprinzips ein beträchtliches Maß an unterdrückender Triebkontrolle erfordert, führen die spezifischen Interessen der Herrschaft zusätzliche Kontrollausübungen ein, die über jene hinausgehen, die für eine zivilisierte menschliche Gemeinschaft unerlässlich sind. Diese zusätzliche Lenkung und Machtausübung, die von den besonderen Institutionen der Herrschaft ausgehen, sind das, was wir als zusätzliche Unterdrückung bezeichnen« (Herbert Marcuse 1955).

Nur unschwer ist zu erkennen, wie die Totalisierung der Arbeitsideologie, die sich hierzulande als »größte Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte« (Hartz-Kommission) in einer tiefgreifenden Ausweitung des Arbeitszwangs niederschlägt, quasi im Gleichschritt mit der Krise der Arbeit voranschreitet, die in ökonomischer Hinsicht als Krise der Verwertung von Kapital mittels Arbeit zu verstehen ist. Weitaus unklarer stellt sich jedoch der innere Zusammenhang dieser Bewegungen dar. Die für eine kritische Praxis unabdingbare Analyse des aktuellen Arbeitsregimes wird sich jedenfalls von der Annahme lösen müssen, die derzeitigen sozialpolitischen Angriffe folgten allein der Logik einer unvermittelten ökonomischen Rationalität; eine Perspektive, die viele Kritiker des Sozialabbaus mit den Ideologen des Sachzwangs gemeinsam bezogen zu haben scheinen.

Krise des Leistungsprinzips

Kein Zweifel: Die Bedeutung des aktuellen Zyklus’ sozialstaatlichen Kahlschlags im Bereich der Transferzahlungen liegt darin, dass nunmehr verwirklicht wird, wovon die neoliberale Staatskritik in den letzten 20 Jahren nur träumen konnte: die Lohnersatzleistungen, ob in Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosen oder Sozialhilfe, werden in einem solchen Maße abgebaut, dass weitestgehend »jedes Element eines garantierten Mindesteinkommens, das ohne Arbeit erzielt werden könnte« (Feist 2000, S. 108) aus dem Sozialsystem entfernt wird. Die angestrebte »Beseitigung der Lohnuntergrenze«, die letztlich auf eine Abschaffung der Sozialhilfe für so genannte Erwerbsfähige abstellt (vgl. Ifo Schnelldienst 2002), zielt offensichtlich nicht nur auf eine weitere Einkommensreduktion der lohnabhängigen Klasse in toto, sondern auch auf die Herstellung einer faktischen Alternativlosigkeit zum Lohnarbeitszwang. Aber worin liegt die Rationalität des Schwingens der Weber’schen ›Hungerpeitsche‹‚ wenn anders als zu Zeiten des Frühkapitalismus heute in den Zentren der Metropolen keine Fabriken mehr zu füllen sind? Tatsächlich, die strukturelle Überakkumulation des weltweiten Kapitalismus bekräftigt eindrücklich die These vom ›Abschmelzen der Arbeitssubstanz‹, die man wahrscheinlich noch drastischer formulieren müsste.[1] [1] Die Probleme, die dieser säkulare Trend der relativen Ersetzung lebendiger Arbeit für die bürgerliche Gesellschaft in ökonomischer Hinsicht evoziert, sind derart evident, dass sie beharrlich ignoriert und umgedeutet werden müssen. Ein hinreichendes Verständnis der Krise und ihrer Bewältigungsstrategien erfordert die Reflexion darüber, was das Abschmelzen der Wertsubstanz ›Arbeit‹ für die Arbeit als Medium gesellschaftlicher Integration und Kontrolle bedeutet.

Um dies besser zu verstehen, sollte man sich vergegenwärtigen, wie in der bürgerlichen Gesellschaft idealiter Herrschaft und Ungleichheit begründet werden, die es offiziell ihrem Selbstverständnis nach ja gar nicht geben darf, die aber der aberwitzigen Form der Reichtumsproduktion inhärent sind und deshalb einer Rechtfertigung bedürfen. Status und Einkommen sind demnach unmittelbarer Ausdruck der individuellen (Arbeits-)Leistung und nicht dem Zufall der Geburt oder Gottes Gnaden geschuldet. Diese antifeudalistische, sich revolutionär gebärdende Vorstellung, die angesichts der Bedeutung der (Aus-)Bildung als meritokratisches Prinzip bezeichnet werden kann, war freilich von Anfang an Ideologie: Von Marx und Polanyi wissen wir, dass die neuerdings wieder salonfähige Parole ›Gleichheit am Start – Freiheit im Ergebnis‹ von je her mehr verschleiert als erhellt. Der historiographische Blick auf die ›ursprüngliche Akkumulation‹ legt die Gewalt jener ›Leistungsgerechtigkeit‹ frei, die nicht erst am ›Ziel‹, sondern bereits am ›Start‹ den (Einkommens-)Status des Individuums als von dessen (Arbeits-)Leistung abgekoppelten ausweist:

»Gleiches Recht und gleiche Chance der Konkurrierenden ist weithin fiktiv. Ihr Erfolg hängt ab von der – außerhalb des Konkurrenzmechanismus gebildeten – Kapitalkraft, mit der sie in die Konkurrenz eintreten, von der politischen und gesellschaftlichen Macht, die sie repräsentieren, von altem und neuen Conquistadorenraub, von der Affiliation mit dem feudalen Besitz, den die Konkurrenzwirtschaft nie ernstlich liquidiert hat, vom Verhältnis zum unmittelbaren Herrschaftsapparat des Militärs« (Adorno 1942).

Trotz all dieser Widersprüche, die im Übrigen vor allem anhand der Vermögensvererbung durchaus im klassischen Liberalismus thematisiert wurden[2] [2], konnte das meritokratische Prinzip seinen Status als hegemoniales, weil letztlich auch Klassen übergreifend wirksames Leitbild bewahren bzw. immer wieder erneuern. Zum einen wirkt der beständige Abgleich von Anspruch und Wirklichkeit – seitens einer immanenten (Sozial-) Kritik im Idealfall als Jungbrunnen des Glaubens an das Leistungsprinzip, dessen sich die bürgerliche Gesellschaft über alle vordergründigen Differenzen hinweg als geteiltes Ideal versichert. Zum andern sind es die Verkehrungen und Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise selbst, die als ›Tatsachen‹ dem Leistungsprinzip zu seiner Plausibilität verhelfen. So verschaffte die fordistische Boomphase dieser Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft einen gewissermaßen sinnlich erfahrbaren Unterbau: Angesichts eines relativ breiten Zugang zum Bildungssektor und einer gewissen sozialen Durchlässigkeit schien sich individuelle (Arbeits-)Leistung nahezu unvermittelt im Ergebnis niederzuschlagen. Sozialer Aufstieg konnte als allein der individuellen Anstrengung geschuldet interpretiert werden.

Demgegenüber ist die nunmehr seit drei Jahrzehnten sich entwickelnde Krise der Arbeit von einer zunehmenden objektiven Untergrabung des meritokratischen Prinzips und des mit ihm korrespondierenden Arbeitsethos bestimmt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Es ist eine Zunahme von Einkommen, die nicht aus Arbeit, sondern geerbtem Vermögen, Zinsen oder Profiten stammen, zu beobachten. Zum anderen hat sich in den 70er, 80er und 90er Jahren eine bisweilen durch subkulturelle Phänomene flankierte Kultur der Arbeitslosigkeit entwickelt, die das Nicht-Arbeiten nicht zwingend als Skandal betrachtet. Schließlich und vor allem aber kann die Allgegenwart des Überflusses, der Überkapazitäten und der Überakkumulation bei und trotz hoher Arbeitslosigkeit als Hinweis auf die potentielle Möglichkeit von Leben mit immer weniger (Lohn-)Arbeit gewertet werden. Auf die darin zum Ausdruck kommende relative Entkoppelung von Reichtum und Arbeit soll im Folgenden reflektiert werden.

Der Zusammenhang von individueller Arbeitsleistung und Ergebnis wird, entgegen der neosozialdarwinistischen Ideologie, immer zufälliger, und dies nicht nur in der alltäglichen Erfahrung, sondern auch hinsichtlich des ausweisbaren Anteils der unmittelbaren Lohnarbeit an der Warenproduktion, der im Verhältnis zur vergangenen Arbeit, zum Wissen, zu Kooperation etc. weiter abnimmt. Bereits Marx ahnte, dass mit fortschreitender Produktivkraftentwicklung »die Schöpfung des wirklichen Reichtums« immer weniger abhängt von dem »Quantum angewandter Arbeit«, sondern zunehmend von »der Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion«:

»Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes« (Marx, 1953, S. 593).

Wir wissen heute leider, dass deshalb die kapitalistische Produktion nicht so ohne weiteres zusammenbricht, wie Marx in seinen weiteren Ausführungen anmerkte, um möglicherweise auch nur die emanzipativen Möglichkeiten dieser Entwicklung provokant anzudeuten. Auch kann diese Tendenz nicht im Sinne einer absoluten Unabhängigkeit des Reichtums von der auf sie angewandten Arbeitszeit interpretiert werden. Festzuhalten bleibt die Erkenntnis, dass Mehrwert tatsächlich nur durch Vernutzung lebendiger Arbeit zu erzielen ist. Die Arbeitswertlehre ist also im Wesentlichen immer noch gültig. Sie sollte aber nicht als eine Theorie zur mathematischen Berechnung des Werts aufgrund der verwandten Arbeitszeit missverstanden werden. Arbeit als Potential im Sinne schöpferisch zerstörender Problemlösungskompetenz wird – und hier ist den Annahmen von einem obsolet Werden der Arbeit zu widersprechen – gerade in den high-tech basierten Bereichen mit hoher Arbeitsproduktivität immer wichtiger, obgleich freilich die quantitative Abnahme der Arbeitssubstanz auch vor diesen Bereichen nicht Halt macht. Aber der stetig wachsende Eingang der Produktivkraftentwicklung, der Arbeit früherer Generationen, des ›general intellects‹ und der Effekte der Arbeitsteilung verändern tatsächlich das Verhältnis von Arbeitsleistung und Sozialprodukt derart, dass dieses immer weniger als Ergebnis jener betrachtet werden kann. Diese Entwicklung und die zuvor angesprochenen Tendenzen einer objektiven Demoralisierung des meritokratischen Prinzips – und nicht primär monetäre Sachzwänge – bilden meines Erachtens die Grundlage der »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik« (vgl. Schatz 2002) und des aktuellen Krisen- und Reformdiskurses.

Die Rückkehr der Ideologie der Knappheit als Rekonstruktion des meritokratischen Prinzips

Auf den ersten Blick erscheinen die aktuellen Maßnahmen, mit denen die Arbeitslosigkeit abgebaut werden soll, durchaus einer unmittelbaren ökonomischen Rationalität zu folgen. Entsprechend wird denn auch die Notwendigkeit zu so genannten Reformen täglich rauf und runter gebetet: Die Kassen der Sozialversicherungen seien leer, weil Arbeitslose zum einen nicht in sie einzahlten, zum anderen aus ihnen ›alimentiert‹ werden müssten. Nicht zu vergessen der Hinweis auf die so genannte ›demographische Zeitbombe‹, die das mehr und länger Arbeiten zur nationalen Schicksalsfrage erhebt. Es ist nicht falsch, demgegenüber darauf hinzuweisen, dass einige dieser Sachzwänge, auf die sich die ›Reform‹ideologie unaufhörlich berufen kann, politisch geschaffen wurden.[3] [3] Zu denken ist etwa an die steuerliche Umverteilung von den Lohneinkommen zu den Einkommen aus Gewinnen, Profiten, Vermögen oder Zinsen, die tatsächlich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Einnahmeproblem der öffentlichen Kassen bewirkt hat, oder etwa an die letztlich willkürliche direkte Bindung und damit Abhängigkeit der Sozialversicherungen an und von Erwerbsarbeit.[4] [4] Ebenso wichtig ist es natürlich, auf die potentielle Funktionalität der Arbeitslosigkeit hinzuweisen, denn vom Standpunkt des Kapitals (hier ist von einer Affinität der Interessen der Einzelkapitalien auszugehen) aus betrachtet, stellt Arbeitslosigkeit an sich kein Problem, sondern unter bestimmten Voraussetzungen einen Vorteil dar. Man denke nur an den Druck, den die Arbeitslosen als »Reservearmee« (Marx) auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Noch-Beschäftigten ausüben. Man kann dieses Spiel der immanenten Kritik weiter treiben und wird so einige Widersprüche in den hegemonialen neoliberalen ›Reform‹empfehlungen sozialdemokratischer, konservativer oder sonstiger Provenienz aufzeigen; erfassen wird man die dahinter stehende Rationalität dadurch alleine nicht. Ob und ab wann Arbeitslosigkeit funktional für den Gesamtproduktions- und -reproduktionsprozess des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft wird oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. So gab Kalecki bereits 1943 einen Hinweis darauf, dass sich der Druck der Reservearmee auf die Löhne nicht unbedingt ›rechnen‹, also in einer größeren Profitrate niederschlagen muss, dass aber »von den Mächtigen der Wirtschaft ›Arbeitsdisziplin‹ und ›politische Stabilität‹ höher bewertet werden als Profite« und deshalb Vollbeschäftigung unerwünscht ist (Kalecki 1987, S. 238).

Wenn man unterstellt, dass es gar nicht wirklich um die Schaffung neuer Arbeitsplätze geht, die es, abgesehen von ökonomisch nutzlosen Billigjobs, ohnehin nicht gibt[5] [5], dann rückt nolens volens die Neujustierung des herrschaftsstabilisierenden Angstverhältnisses von Arbeit und Arbeitslosigkeit in den Blick, welches der Tendenz nach auf beiden Seiten zu bröckeln droht.

Auf der einen Seite könnte angesichts der objektiven Möglichkeit, mit immer weniger Arbeit Wohlstand für alle zu schaffen, aber auch aufgrund der nicht intendierten Folgen jahrzehntelanger transferzentrierter Arbeitslosigkeitsverwaltung im Verein mit einer faktischen Arbeitsabstinenz sich die Arbeitslosigkeit von der Arbeit, vom Leistungsprinzip und damit von Angst und Schuld emanzipieren.[6] [6] Man kann sich diesen Zusammenhang auch psychoanalytisch erklären: In einer Kultur, in der Arbeit derart positiv besetzt ist wie in der unseren, lassen sich die Folgen eines Arbeitsplatzverlusts etwa mit denen einer Auflösung einer Liebesbeziehung vergleichen. Arbeit wie Beziehungspartner waren vor der Trennung Objekte libidinöser Besetzung. Im Falle der Liebesbeziehung ist das Subjekt nun bestrebt, das Objekt aufzugeben, um Selbstbewusstsein wiederzuerlangen und sich auf sein Leben konzentrieren zu können.[7] [7] »In der Situation der Arbeitslosigkeit würde dies bedeuten«, schreibt die Psychoanalytikerin Christine Morgenroth, »sich endgültig mit dem Zustand der Nicht-Arbeit abzufinden oder bewußt auszusteigen« (1990, S.95). Gerade dies entspricht aber weder den Interessen der meisten Arbeitslosen noch der gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Deshalb bleibt der Arbeitslose auch in der Regel negativ auf Arbeit bezogen und ist mit all den Konsequenzen konfrontiert, die eine misslungene Trauer- und Loslösungsarbeit nach sich ziehen: Ich-Schwäche, Depression, Unterwürfigkeit, gesellschaftliche (Selbst-) Isolation. Auch wenn man nicht beweisen kann, dass es gesellschaftliche Interessen gibt, die genau diesen Zusammenhang von Angst und Arbeitslosigkeit konserviert wissen wollen, so laufen doch alle Maßnahmen der Arbeitslosigkeitsverwaltung faktisch darauf hinaus. Der Arbeitslose hat sich latent schuldig zu fühlen dafür, auf ›Kosten der Allgemeinheit‹ ›alimentiert‹ zu werden. Es wird erwartet, dass es ihm schlecht geht. Das Vertrackte an diesem Funktionsmechanismus besteht nun darin, dass die fatalen psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit in aller Regel jenem Zwangssystem zu Gute kommen, dass für sie verantwortlich zeichnet. So verewigen selbst noch diejenigen diesen Zwangszusammenhang, die es subjektiv ganz ehrlich ›gut meinen‹ mit den Arbeitslosen und daher Arbeitsplätze für sie fordern.

Auf der anderen Seite aber zielt die Neujustierung des Angst-Schuld-Verhältnisses keineswegs nur auf die Arbeitslosen. Denn deren Zurichtung ist nicht Selbstzweck, sondern hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die psychosoziale Verfassung der Noch-Beschäftigten. Die disziplinierende und letztlich lohndrückende Drohfunktion von Arbeitslosigkeit ist so allgegenwärtig, dass man nahezu jede soziale Interaktion im Arbeitsleben mühelos mit ihr in Verbindung bringen kann. In der sich verschärfenden Akkumulations- und Verwertungskrise des Kapitals muss sich nun das Angst-Schuld-Verhältnis von Arbeit und Nichtarbeit an der Verschärfung der Arbeitsbedingungen der Noch-Beschäftigten ausrichten. Je erbärmlicher diese sich darstellen und damit den apologetischen ›Chancen‹-Diskurs blamieren, an dem Linke so gerne mitbasteln, umso härter muss gegen die Arbeitslosen vorgegangen werden. Der vorwiegend anzunehmende Sozialcharakter, der autoritäre, wird die eigene Demütigung in der Arbeit entsprechend zu schätzen wissen, wenn doch bloß die Demütigung der anderen in der Arbeitslosigkeit sichergestellt ist.

Dieses Angst-Schuldverhältnis zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit ist nun aber wiederum mit der realökonomischen Krise und deren Verarbeitung im aktuellen Krisen- und Reformdiskurs vermittelt, wodurch es weiter dynamisiert wird. Denn die sich gegenwärtig als Ergebnis einer jahrzehntelangen diskursiven ›Reformoffensive‹ vollziehende Retotalisierung der Arbeit ist als umfassende Rekonstruktion eines anachronistisch geworden Prinzips zu deuten: Jeder kriegt, was er verdient, was er also (er)arbeitet. Im Grunde handelt es sich dabei um nichts anderes als um die geschichtlich immer wieder in unterschiedlicher Gestalt auftauchende Schizophrenie, die im Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktion gründet: dass Arbeit als Wertbasis und Herrschaftsmittel gesetzt ist und gesetzt werden muss, sie aber dennoch abhängige Variable bleibt. Ob sie in Gang gesetzt, ob sie ›nachgefragt‹ wird, wie es im Reformdeutsch heißt, liegt weitestgehend außerhalb ihres Vermögens, denn »die kapitalistische Verwertung der allgemeinen Ware, des Geldes, ist zugleich Bedingung und Beschränkung der Erzeugung besonderer Waren, der unternehmerischen Verwertung der Arbeit« (Helmedag, 1992, S. 321). Schizophren, weil letztlich immer zum Scheitern verurteilt, sind heute allesamt jene Versuche, die objektiven Tendenzen dieses Grundwiderspruchs irgendwie austricksen zu wollen; sei es, indem der Arbeitsbegriff willkürlich ausgedehnt und nicht mehr nur produktive Arbeit, sondern auch tätiger Dienst an der ›Gemeinschaft‹ als Bewährungschance ausgelobt wird, oder sei es, indem zumindest vom Status her alle potentielle Arbeitskraft durch Deregulierung in die Konkurrenz des Marktes geschmissen, also kommodifiziert wird.[8] [8]

Aber wie irreal und unrealistisch auch immer: Auf den Konnex von Arbeit, Leistung und Bildung einerseits und das Ergebnis in Form von Status und Einkommen andererseits zielt der Schuld und Angst erzeugende Krisendiskurs.

Jeder kriegt, was er verdient, was er also (er)arbeitet: Diese Forderung und Behauptung wird ›wahr‹, je mehr sie als (Arte-)Fakt hergestellt wird. Genau darin liegt die Wirkungsmächtigkeit des meritokratischen Prinzips heute. Während wie oben angedeutet zu Zeiten des Booms der Zusammenhang von (Arbeits-)Leistung und Ergebnis sich positiv darstellte, funktioniert die Ideologie heute paradoxerweise genau umgekehrt. Gerade weil der Einzelne faktisch immer mehr arbeiten muss, um immer weniger herauszubekommen, stellt quasi unter der Hand der ›Sachzwang‹ eine von ihm zwar verschmähte aber doch hingenommene Realität her. Dies korreliert mit der kollektiven Umdeutung der Krise, die als Krise des Zuwenig an Arbeit, Kapital und Produktivität und nicht der Verwertung dargestellt wird. Ihre Plausibilität für das Alltagsbewusstsein gewinnt diese Ideologie der Knappheit deshalb, weil sie an die grundsätzliche Paradoxie kapitalistischer Reichtumsproduktion anknüpft, die darin besteht, dass stofflicher Reichtum (Güter- und Zeitwohlstand) immer durch die Form des abstrakten Reichtums von Ware, Geld und Kapitalverwertung hindurchgepresst werden muss, um überhaupt zugänglich zu werden.[9] [9] Dem Alltagsverstand jedoch erscheint in Gestalt des leeren Geldbeutels und der leeren öffentlichen Kassen die Knappheit als Güterknappheit und eben gerade nicht als kapitalistisch produzierter, sich als Geldknappheit ausdrückender Mangel an Verwertungsmöglichkeiten.

Conclusio

Man mag die Diagnose kaum mehr aussprechen, weil sie in ihrer Redundanz zutiefst banal erscheint: ›Hauptsache Arbeit‹, die Rede vom Sachzwang schaut hinter jeder Ecke als Massenideologie hervor. Um den wie auch immer gearteten Diskurs vom Ende der Arbeit, in dem sich immerhin die alte Nüchternheit des Liberalismus noch einmal zu zeigen wagte, ist es bis auf wenige Ausnahmen still geworden: »Arbeit ist das letzte Instrument der sozialen Kontrolle, das geblieben ist, nachdem die Kirche, die Gemeinde und andere Institutionen das nicht mehr leisten können« (Dahrendorf 2003, S.40). Vieles spricht also dafür, den aktuellen Reformdiskurs und die faktische Beschneidung aller ›proletarischen Einkommen‹, ganz gleich ob Lohn, Lohnersatz oder Transferleistung, nicht nur als verschärfte Artikulation des basalen ›Arbeitgeber‹interesses zu deuten. Zum Ausdruck kommt eine gesamtgesellschaftliche Paranoia, in der reflexartig die Krisengespenster einer überkommenen Produktionsweise vertrieben und die Einsicht in deren mögliche Überwindung abgewehrt werden sollen. Darin besteht die Funktion der Reartikulation des Prinzips ›Jeder kriegt was er verdient‹ als Forderung, Behauptung und durch ›Reform‹ hergestelltes Artefakt, die notwendig geworden ist, weil es angesichts der zunehmend erfahrbaren Zufälligkeit und Ohnmacht als Ideologie entlarvt zu werden droht. Was Marx nur ahnte, als er angesichts der abzusehenden ›Emanzipation‹ des Wertes vom stofflichem Reichtum und der lebendigen Arbeit vom Zusammenbrechen des Tauschwertes sprach, ist heute aufgrund der wachsenden Vergesellschaftung und Verwissenschaftlichung der Reichtumsproduktion vollends Realität geworden, ohne dass sich freilich die Wirklichkeit darum allzu sehr scherte. Wo Marx die Aufhebung einer – geschichtsphilosophisch betrachtet – überflüssig gewordenen privaten Aneignung prophezeite, feiert die Individualisierung der partikularen Zurechnungsethik fröhliche Urstände: Auf der einen Seite in Gestalt des wachsenden privaten Vermögensbesitzes und auf der anderen Seite in Form zunehmend individualisierter Zuschreibung der Ursachen und Folgen von Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit. Eine radikale Arbeitskritik hätte die Verschränkung von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Herrschaft ins Visier zu nehmen, indem sie die Ideologie der Knappheit und den menschenfeindlichen Konnex zwischen Arbeit und Leistung und dem Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum als »zusätzliche Unterdrückung« im Sinne Marcuses denunziert.

Allerdings droht eine Kritik, die über keine gesellschaftliche Basis und Perspektive verfügt, zur bloßen Attitüde von gelangweilten ›Aussteigern‹ zu mutieren, die sie sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten können. Der Erfolg von Ratgeber- und Lifestyleliteratur a lá »Die Kunst, weniger zu arbeiten« zeigt, wie bequem eine missverstandene Kritik der Arbeit sein kann. Und dennoch wäre viel gewonnen, wenn das Unbehagen an der Arbeit sich einen anderen Ausdruck verschaffen würde als den, der gerade hierzulande allzu oft zu gegenwärtigen ist: Im zunächst vielleicht harmlos anmutenden Neid auf diejenigen, denen man unterstellt, sie würden nicht arbeiten, der sich aber schnell zu erkennen gibt als Hass auf jene, denen man zugleich nachsagt, sie lebten auf Kosten anderer. In historischer Perspektive betrachtet waren es in Deutschland vor allen Dingen die Juden, die zur Projektionsfläche derartiger Verdrängungsleistungen wurden. Sie galten ›den Deutschen‹, die sich in besonderem Maße mit der Arbeit identifizierten bzw. vorgaben, dies zu tun, als faul und parasitär. Etwas davon lebt fort, nicht nur im Antisemitismus, sondern auch im beliebten Diskurs von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Literatur

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Beckert, Jens (2003): Wer niemals strebend sich bemüht hat, den können wir besteuern, in: FAZ 10.6.2003

Christen, Christian; Michel, Tobias; Rätz, Werner (2003): Sozialstaat. Wie die Sicherungssysteme funktionieren und wer von den ›Reformen‹ profitiert, Hamburg

Dahrendorf, Ralf (2003), Interview in: Mitbestimmung 7/2003

Feist, Holger (2000): Arbeit statt Sozialhilfe. Zur Reform der Grundsicherung in Deutschland, Tübingen

Dröge, Kai; Neckel, Sighard (2002): Die Leistung und ihr Preis: Leistung in der Marktgesellschaft, in: Honneth, Axel (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M., S. 93-116

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Morgenroth, Christine (1990): Sprachloser Widerstand. Zur Sozialphatologie der Lebenswelt von Arbeitslosen, Frankfurt/M.

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Endnoten

[1] [11] In Rechnung zu stellen sind hierbei das Ausmaß künstlich blockierter Rationalisierung sowie die Subventionierung betriebswirtschaftlich unrentabler Produktion. Ganz zu schweigen von der Senkung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität in Kombination mit niedrigen Löhnen, wodurch das Ersetzen lebendiger durch tote Arbeit weniger reizvoll erscheint, wie am Beispiel der nordamerikanischen Volkswirtschaft teilweise beobachtet werden kann und was auch hiesige Experten zu inspirieren scheint (vgl. Gerster, 2003, S. 49).

[2] [12] Es scheint, als ob in der Diskussion um die Erbschaftsund Vermögenssteuer diese alte Selbstreflexion des Liberalismus zurückkehren könnte, die übrigens an diesem Punkt im nordamerikanischen Kontext traditionell weniger verdrängt wurde als im deutschen (vgl. Beckert 2003).

[3] [13] Vgl. etwa Kühn (2003), Christen; Michel; Rätz (2003), Schratzenstaller (2002)

[4] [14] Vgl. Kaufmann (2003). Diese Verknüpfung lässt nicht nur die Ausweitung von Erwerbsarbeit als Gebot der Stunde erscheinen, auch bezieht daraus jene Verteilungskampfhysterie ihre Plausibilität, die die ursprüngliche Umverteilung von Kapital und Arbeit in die zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, Erwerbstätigen und Rentnern etc. umdeutet.

[5] [15] Wohlgemerkt bezieht sich diese Perspektive auf den Kontext der kapitalistischen Zentren. Global betrachtet muss aufgrund der vielfach existierenden Möglichkeiten, Methoden der absoluten Mehrwertproduktion auf Basis niedrigster Löhne anzuwenden, der Zusammenhang von Arbeit und Herrschaft entsprechend anders reflektiert werden.

[6] [16] Damit ist lediglich behauptet, dass die Rekonstruktion des meritokratischen Prinzips als Reaktion auf eine potentielle Emanzipation der Arbeitslosigkeit von der Arbeit und nicht auf eine bereits erfolgte reagiert. Der Hinweis auf die Verinnerlichung der Leistungs- und Arbeitsethik seitens vieler Arbeitsloser widerspricht somit der hier vertretenen These ebenso wenig wie die Annahme, das aktuelle Krisenmanagement laufe angesichts der Unmöglichkeit ins Leere, den moralisch auf Arbeit verpflichteten Menschen auch die entsprechenden ›Bewährungsmöglichkeiten‹, sprich Jobs, zukommen zu lassen.

[7] [17] In der Regel wird das persönliche Umfeld nun diese Emanzipation mit Rat und Tat unterstützen. Zwar bleibt auch hier die Norm der Paarbeziehung (in der Regel) unangetastet, doch sich sofort in eine neue Liebesbeziehung zu stürzen, würde wohl kaum jemand anraten.

[8] [18] Welch Brutalisierung eine solche Schizophrenie zeitigen kann, zeigt die nazistische ›Empörung‹ über die faktische Einflusslosigkeit der Arbeit auf ihre Nachfrage, deren ›Ehre‹ man als ›deutsche Arbeit‹ wieder herzustellen vorgab. Die Auflösung des Widerspruchs der sich daraus ergab, dass man zugleich die Vorraussetzungen dieser ›Entehrung‹ faktisch stärkte, wurde vor allem in einer Dynamisierung der antisemitischen Barbarei gesucht. Vgl. Schatz; Woeldike (2001)

[9] [19] Die aktuelle Notwendigkeit, aus Disziplinierungsgründen den Mangel zu betonen, bricht sich freilich mit der grundsätzlichen Selbstbeschreibung des kapitalistischen Systems als demjenigen, das einzig Überfluss ermögliche. Wie Ernst Lohoff zeigt, ist diese Spannung bereits der Form kapitalistischen Reichtumsproduktion eingeschrieben: »Die Identität von Mangel und Reichtum mag absonderlich anmuten, genau diese Absurdität liefert aber eine präzise Bestimmung des warengesellschaftlichen Reichtumsbegriffs. Ökonomischer Reichtum hat in der Tat Reichtum an Mangel zum Inhalt und seine Vermehrung ist mit der Vermehrung von Mangel verschränkt« (Lohoff 1998, S. 58). Um das zu zeigen, muss auf die Keimform der kapitalistischen Vergesellschaftung reflektiert werden, die Ware. Ein Produkt kann nur dann zur Ware werden, wenn es zum einen für den Besitzer keinen Gebrauchswert besitzt, zum andern aber – und das ist die entscheidende Bestimmung – wenn »das Überflußgut des Produzenten als Mangelgut für andere gesetzt ist« (ebd.).


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