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Die vierte Enteignung

Aus: Grundeinkommen – Soziale Sicherheit ohne Arbeit

Herausgegeben von Andreas Exner, Werner Rätz, Brigitte Zenker1 [1]

Ernst Lohoff

Der Begriff Kapitalismus bezeichnet ein Selbstzwecksystem, das darauf programmiert ist, sich den gesamten gesellschaftlichen Reichtum einzuverleiben und allen sozialen Beziehungen seinen Stempel aufzudrücken. In keiner Phase der Geschichte reichte die Herrschaft der Verwertungsmaschinerie derart tief in den Alltag der Menschen hinein wie heute. Dieser Zustand steht am Ende einer mehrhundertjährigen Entwicklung, die zwar nicht mit eherner Notwendigkeit, aber auch nicht zufällig zum modernen Markt- und Konkurrenztotalitarismus führte.

Vom Bauernlegen bis zum Sozialabbau

Vom Standpunkt des kapitalistischen Systems erscheint dieser langfristige Prozess als Bemächtigungsprozess. Aus der Gegenperspektive betrachtet, wäre derselbe historische Entwicklungsgang als eine Geschichte sukzessiver Enteignung zu fassen: Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt, indem er den Menschen strukturell, aber auch was ihr Denken, Fühlen und Erleben betrifft, nach und nach die Fähigkeit nahm, anders miteinander zu kooperieren als vermittelt über das Medium des Geldes. Zumindest in Europa, der Wiege dieses Systems, zerfällt dieser Gesamtprozess in vier Schübe. Der erste, die ursprüngliche Enteignung, führte zur Trennung der unmittelbaren Produzenten und Produzentinnen vom bebaubaren Land und zerstörte damit die traditionelle Naturalwirtschaft. Dieses Urverbrechen des Kapitalismus, das gemessen am Niveau der vorangegangenen Jahrhunderte eine dramatische Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen bedeutete, war beim Einsetzen der Industrialisierung im Wesentlichen abgeschlossen. Der Siegeszug des Fabrikregimes im neunzehnten Jahrhundert markiert den Einstieg in die zweite Etappe der großen Enteignungsbewegung. Diesmal waren die gegenüber der kapitalistischen Vernutzung selbstständigen produktiven Fähigkeiten der Menschen das Hauptangriffsziel. Die übermächtige kapitalistische Konkurrenz walzte eine Form traditioneller Fertigung nach der anderen nieder. Künftig konnten die unmittelbaren Produzenten und Produzentinnen nur mehr als Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie an der Schaffung des gesellschaftlichen Reichtums teilhaben. Damit nahm die wichtigste aller Produktivkräfte, das Vermögen des Menschen zum aktiven Stoffwechselprozess mit der Natur, selber Warencharakter an und wurde zur Basisware des Wertverwertungssystems, zur Arbeitskraft, die sich auf einem entsprechenden Markt anbot.

Der dritte große Schub der Enteignung fällt wesentlich mit dem Fordismus zusammen, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine volle Wucht entfaltete. Was den Autonomieverlust bei der Reichtumsproduktion angeht, komplettierte das fordistische System von Fließband und Arbeitszerlegung lediglich das vom Industriekapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts begonnene Werk. Hatte dieser den unmittelbaren Produzenten und Produzentinnen ihre Unabhängigkeit vom kapitalistischen Vernutzungsbetrieb genommen, so verloren sie jetzt auch ihre relative Selbstständigkeit innerhalb des kapitalistischen Arbeitsprozesses. Gleichzeitig gewann die große Enteignungsbewegung zusätzliche Dimensionen. Zunächst einmal ging sie im großen Stil zur Vernichtung wichtiger Naturressourcen durch Vernutzung über. Ferner geriet die reproduktive Praxis im privaten Haushalt in direkte Abhängigkeit von der kapitalistischen Megamaschinerie und deren staatlichen Maschinisten. Der Konsum vorgefertigter Waren füllte in wachsendem Maße die Lebenszeit und auch die häusliche Tätigkeit wurde durch den Gebrauch neuer Produkte (Kühlschrank, Waschmaschine, Fertignahrung) nicht nur partiell erleichtert, sondern ist seitdem unmittelbar auf den kapitalistischen Betrieb angewiesen. Parallel dazu übernahmen staatliche Institutionen die Aufgabe, die Infrastruktur einer modernen Arbeitsgesellschaft sicherzustellen. Auch diese Entwicklung hatte Züge einer Entmächtigung. Sie machte die Menschen nicht nur von anonymen Apparaten abhängig, sondern verzahnte ihr Schicksal enger denn je mit dem der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie. In diese Entwicklung fügt sich auch die Herausbildung des Sozialstaats ein. Im heutigen Herrschaftsdiskurs mag dieser als Inbegriff von Verkrustung und Unflexibilität gelten, als Instanz, die Menschen davon abhält, ihrer Arbeitspflicht Genüge zu tun; ironischerweise ist er selber einst als Instrument der Verfügbarmachung und Flexibilisierung von Arbeitskraft entstanden. Die traditionellen Instanzen der Daseinssicherung, die Verwandtschaftsverbände und berufsständischen Solidargemeinschaften, lagen nämlich noch quer zu der Auflösung der Gesellschaft in isolierte Arbeits- und Warenmonaden. Damit die Menschen gezwungen, aber gleichzeitig auch in der Lage waren, ihr Leben voll und ganz als das vereinzelter Arbeitskraftverkäuferinnen zu führen, mussten diese zugunsten einer konsequent als Begleitprogramm zum Normalarbeitsverhältnis organisierten Sicherung zurücktreten. Genau diese Funktion erfüllte der moderne Sozialstaat. Diese Ordnung musste freilich mit dem Ende der Epoche der Massenarbeit prekär werden.

Die gegenwärtige Epoche steht im Zeichen des vierten großen Enteignungsschubs. Seine Vorgänger hatten die Elemente einer gegenüber dem Verwertungsbetrieb selbstständigen Existenz hinweggefegt. Diesmal ist der Kapitalismus drauf und dran, das abgesicherte Leben in Knechtschaft für die breite Mehrheit der Bevölkerung abzuschaffen – und das auch in den Weltmarktgewinnerregionen; mehr noch: In seinem neuen Entwicklungsstadium stellt er letztlich die gesellschaftliche Überlebensfähigkeit überhaupt zur Disposition. Hatte die sozialstaatliche Absicherung im fordistischen Zeitalter noch den Charakter, die gesamtgesellschaftlichen Voraus- und Begleitkosten der Arbeitskraftvernutzung zu decken, so wird sie vom gesamtkapitalistischen Standpunkt aus gesehen in dem Maße Luxus, wie die Ware Arbeitskraft im Gefolge der mikroelektronischen Revolution einen Entwertungsprozess durchmacht, also für die einzelkapitalistische Profitproduktion immer weniger vonnöten ist. Wie die Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Massenarbeit insgesamt, so verliert auch die Gewohnheit, Menschen ehrenhalber als Mit-Warensubjekte anzuerkennen und als Konsumenten durchzuschleppen, mit der massenhaften Produktion strukturell Überflüssiger ihre Grundlage.

Die Mutation des Sozialstaats zur Selektionsinstanz, die das verwertbare vom unverwertbaren Menschenmaterial scheidet, ist Teil einer umfassenderen Entwicklung. Das Kapital hat damit begonnen, den infrastrukturellen Rahmen der Profitproduktion und die dazugehörige Grundversorgung (Verkehrswesen, Energie, Gesundheitswesen) selber zum Gegenstand der Profitproduktion zu machen, mit verheerenden Folgen für die gesellschaftliche Reproduktionsfähigkeit.

Rebellische Kapitulationen

Die großen Enteignungsschübe der Geschichte schufen zugleich immer auch den Bezugsrahmen der Emanzipationsbewegungen, und zwar in einem doppelten Sinn. Während der Kampf für eine menschlichere Gesellschaft seine Energie wesentlich aus der Empörung über den historisch aktuellen Enteignungsschub schöpfte, begrenzten allzu oft die in den vorangegangenen Etappen bereits vollzogenen Enteignungen Horizont und Reichweite der neu formulierten antikapitalistischen Kritik. In der Geschichte des Antikapitalismus setzte sich der lautstarke Protest gegen die nächste Beraubungswelle regelmäßig Ziele, die eine stillschweigende Anerkennung der vorangegangenen beinhalteten. Damit trugen sie schon den Keim des Scheiterns in sich und bereiteten der Umwidmung ihrer Kritik in ein Moment der Fortentwicklung kapitalistischer Herrschaft Vorschub.

Das prägte bereits die klassische Arbeiterbewegung. Im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert hatte sich das junge Fabrikregime in seinem Heißhunger nach frischem Menschenfleisch noch mit ausgesprochen renitenter Nahrung herumschlagen müssen. Angesichts der »Mühlen des Teufels« (William Blake) hatten die Fabrikarbeiter in spe in massenhafter Notwehr die Maschinen zerstört, an die sie gekettet werden sollten. Die klassische Arbeiterbewegung kam erst auf, als diese ursprüngliche Renitenz in harten Kämpfen gebrochen worden war, und in einem Akt der Identifikation mit der aufgezwungenen Tortur machte sie ausgerechnet die Unterwerfung unter das Fabrikregime zur Grundlage ihres antikapitalistischen Kampfes. Das »Pech produktiver Arbeiter zu sein« (Karl Marx) erschien als eine Ehre, der die kapitalistische Gesellschaft die Anerkennung vorenthält, und allein das galt es zu ändern. Das emanzipatorische Streben schrumpfte im Kern auf die Frage, unter wessen Kommando und zu wessen Gunsten die Armeen der Arbeit ihr Werk verrichten sollen. Diese Verkürzung erklärt wesentlich, warum der kritische Impuls der Arbeiterbewegung schließlich mit der Entwicklung des Sozialstaats und des Massenkonsums eingemeindet werden konnte.

Sowohl die ursprüngliche Enteignung wie die Enteignung der produktiven Fähigkeiten kamen als Schock über die Menschheit, der dritte Schub dagegen als Danaergeschenk. Gerade das Industrieproletariat erlebte den Eintritt in das Zeitalter von Massenarbeit, Massenkonsum und Verstaatlichung im Kontrast zum frühkapitalistischen Elend als Verbesserung. Die destruktiven Folgen, soziale Vereinzelung, Naturzerstörung und totale Auslieferung an das kapitalistische Aggregat, wurden erst nach und nach erkannt. Diese Dimensionen der entwickelten Herrschaft der Ware wurden mit den Protestbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, wobei vor allem der Ökologiebewegung eine Schlüsselrolle zukam. Ähnlich wie bei den sozialistischen Vorgängern konterkarierte das Vorzeichen, unter dem diese Fragen aufgeworfen wurden, freilich dieses Verdienst. In stillschweigender Übereinstimmung mit dem herrschenden Selbstverständnis unterstellten die Stichwortgeberinnen des Protests, die Reduktion der gesellschaftlichen Beziehungen auf abstrakte Geld- und Warenbeziehungen sei der unvermeidliche Preis für eine hochgradige gesellschaftliche Vernetzung. Sie missverstanden die Enteignung der produktiven und reproduktiven Kompetenzen als einen jeder entwickelten Gesellschaft notwendig zukommenden Wesenszug. Die Ursache für den Amoklauf gegen die Natur wurde statt im irren, gegenüber allem sinnlichen Inhalt gleichgültigen gesellschaftlichen Selbstzweck der Wertverwertung, der Profitproduktion, in den dafür eingesetzten technischen Mitteln verortet. Indem die Kritik bei einer Industrialismuskritik und der Kritik hierarchischer Großstrukturen stehenblieb und die gesellschaftliche Form der Produktion und Verteilung ausblendete, bereitete sie ihrer kapitalismusverherrlichenden Verkehrung den Boden. Das betrifft nicht allein die Realo-Variante, die partout an die Versöhnbarkeit von kapitalistischer Ökonomie und Ökologie glauben wollte. Gerade auch die radikale Version, der Traum, dem Kapitalismus durch die Rücknahme des Vergesellschaftungs- und Bedürfnisniveaus die ökologischen Reißzähne ziehen zu wollen (Small is beautiful, Eigenversorgung), fand auf verquere Weise Eingang in das System. Die ökologisch motivierte Konsumkritik ist mittlerweile, zur Polemik gegen das überkommene sogenannte Anspruchsdenken gewendet, wiedergekehrt; während das emanzipativ gemeinte Nein zu hierarchischen Großapparaten und zum kapitalistischen Staat in der neoliberalen Privatisierungs- und Verschlankungswut eine zeitgemäße, systemadäquate Übersetzung erfährt.

Bewegte Lähmung

Befreiungsbewegungen haben in der Vergangenheit das Ergebnis der Enteignungsschübe als Rahmen ihrer Kapitalismuskritik und ihrer Gegenkonzepte akzeptiert. Und auch beim oppositionellen Spektrum unserer Tage zeichnet sich kein Bruch damit ab. Die Abfolge der großen Enteignungsschübe und die damit einhergehende lange Serie von Niederlagen und geplatzten Hoffnungen haben es darauf konditioniert, sich an das Basisdogma dieser Gesellschaft zu halten: Ein gutes Leben ist das Abfallprodukt gelingender Verwertung und kann nichts anderes sein. Die Auflösung der Gesellschaft in atomisierte und daher auf Gedeih und Verderb von der kapitalistischen Maschinerie und deren Maschinisten abhängige Geld- und Warensubjekte ist unhintergehbar.

Kaum jemand wagt an diesem Credo von einem emanzipativen Standpunkt aus ernsthaft zu kratzen. Und doch bricht dessen bisherige Grundlage weg. Sie wird mit dem vierten Enteignungsschub zerstört. Angesichts der strukturellen Entwertung der gesellschaftlichen Basisware, der Ware Arbeitskraft, bleibt der kapitalistische Motor nämlich nur auf Touren, indem er die Produktion des erhofften Abfallprodukts sukzessive herunterfährt. Im Standortwettbewerb reüssiert, wer rücksichtslos den gesellschaftlichen Reichtum auf den konkurrenzfähigen kapitalistischen Kern konzentriert – auf Kosten der Teilhabe der Arbeitskraftbesitzerinnen am Warenreichtum und durch Brandschatzung des öffentlichen Reichtums insgesamt. Der Kapitalismus kann überhaupt nur noch blühen, indem er Schritt um Schritt beseitigt, was er verspricht – erträgliche Knechtschaftsbedingungen. Dass die Zwänge der Profitproduktion und die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhangs in Widerspruch zueinander geraten, ist nicht einfach nur falschen politischen Weichenstellungen geschuldet, sondern ist das Grundcharakteristikum des erreichten Entwicklungsstadiums der Warengesellschaft.

Das verändert indes nachhaltig die Kampfbedingungen, auf die emanzipative Bewegungen treffen. Der Mangel an Distanz gegenüber den Resultaten der vorangegangenen Enteignungsschübe hat die Arbeiterbewegung und ihre Nachfolger keineswegs daran gehindert, die in der kapitalistischen Entwicklung einst selber enthaltenen emanzipativen Spielräume zu nutzen, im Gegenteil. Auch wenn sie ihre Erfolge schließlich mit dem Verlust ihres antikapitalistischen Impetus erkauften, haben oppositionellen Kräfte tatsächliche Verbesserungen erreicht; wer heute emanzipatorische Ziele anstrebt und dabei die Abhängigkeit des guten Lebens vom Wohlergehen des kapitalistischen Betriebs voraussetzt, setzt dagegen auf nicht mehr existierende Spielräume. Damit ernsthafter Widerstand möglich wird, muss diese geistige Kapitulationsurkunde zerrissen werden. Selbst in ganz banalen Verteilungskämpfen befindet sich die Opposition immer schon hoffnungslos in der Defensive, solange sie meint, ihre Forderungen wären nur dann legitim, wenn sie mit dem Verwertungsbetrieb – mit Wachstum und Profit also – zur Deckung zu bringen wären. Die adäquate Antwort auf die ungeheuerliche Praxis der vierten Enteignung ist die Aufkündigung des Gehorsams und der Gedanke der Neubestimmung des gesellschaftlichen Reichtums und der sozialen Beziehungen.

Der vierte große historische Enteignungsschub hat bis dato eher zur Lähmung denn zu einer Renaissance des Antikapitalismus geführt. In der gegenwärtigen Umbruchssituation sind die Ansätze, die eine Gegenperspektive zum offenen Terror der entfesselten Ökonomie aufmachen, statt nur den Status quo verteidigen zu wollen, rar gesät. Am meisten Resonanz findet derzeit noch die Idee eines vom Arbeitszwang entkoppelten Grundeinkommens. An einem zentralen Punkt führt die Vorstellung eines garantierten Mindesteinkommens zweifellos in die richtige Richtung. Der Kampf gegen sozialen Ausschluss und ein positiver Bezug auf die Arbeit – als Tätigkeit für den Gelderwerb – sind unvereinbar. Angesichts der ökonomischen Entwertung der Ware Arbeitskraft muss Kapitalismuskritik mit der Entwertung der Arbeit als gesellschaftlicher Norm kontern. Allerdings hat die Diskussion um das garantierte Grundeinkommen ihr Nein zum Arbeitszwang an Denkfiguren gebunden, die dem Problemhorizont unserer Epoche ausweichen und ihn wegfabulieren. Das für frühere Oppositionsbewegungen charakteristische Wechselspiel von Protest und Anpassung an das herrschende Bezugssystem wiederholt sich – diesmal allerdings mit fast schon karikaturhaften Zügen. Die Befürworterinnen scheuen keine Mühe, sich einzureden, dass die Politik gegenüber dem Gesamtverwertungsinteresse – dem Interesse an stabilem Wachstum und an Unternehmensprofiten – einen Fehler begeht, wenn sie den Überzähligen den Zugang zum Warenkonsum versperrt. Damit erkennen sie nicht nur das Primat der Verwertung an, ihnen verschwindet dabei der destruktive Inhalt des Siegeszugs der Ware vom Schirm. Das betrifft nicht nur die aus früheren Phasen bereits vertrauten Scheußlichkeiten wie die Naturzerstörung, sondern auch neue Angriffe wie die Verwandlung der Infrastrukturgüter und der Daseinsvorsorge in gewöhnliche Waren. Im Bemühen, allen einen Mindestzugang zu dem in Waren verwandelten gesellschaftlichen Reichtum zu sichern, gerät aus dem Blickfeld, dass die Verwandlung von Reichtum in Waren überhaupt erst das Problem schafft, das vom Mindesteinkommen notdürftig gelöst werden soll, und dass dieses Problem gerade eine völlig neue Dimension erreicht. Das Auskommen wird nicht nur aufgrund sinkender monetärer Einkommen für so viele prekär, mindestens genauso wichtig ist, dass Wohnraum, Gesundheit, Energie und andere Grundversorgungsgüter im Gefolge ihrer Privatisierung kaum mehr zu bezahlen sind. Um Missverständnisse zu vermeiden: Solange das Gros des gesellschaftlichen Reichtums die Gestalt von Waren annimmt und daher nur gegen Geld zu haben ist, ist es überhaupt keine Frage, ob die Abriegelung der Entwerteten vom Warenkonsum zu skandalisieren und aufzubrechen ist oder nicht. Entscheidend ist aber der Kontext, in dem das Streben nach einem arbeitslosen Einkommen steht. Reduziert es sich auf die Utopie, das vereinzelte, vom kapitalistischen Betrieb total abhängige Konsumsubjekt zu retten, auch wenn der Normalarbeitsaffe auf die rote Liste der bedrohten Tiere geraten ist? Oder handelt es sich um einen Notbehelf, der dem Kampf um die Reichtumsform untergeordnet bleibt; auf dem Weg zur sukzessiven Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, der dabei die Warenform verlieren muss? Dass derzeit vor allem die Grundeinkommensforderung die oppositionelle Szene beherrscht, hat jedenfalls etwas Doppeldeutiges. Es dokumentiert gleichzeitig deren Lähmung und überwindet sie partiell.

1 [2] ISBN-10: 3-552-06065-0, ISBN-13: 978-3-552-06065-4. Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.deuticke.at/978-3-552-06065-4 sowie im Buchhandel


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