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Der Bischof und der andere


Ernst Lohoff

In den letzten Jahrzehnten galt Marx als toter Hund. Angesichts der Erschütterungen auf den Weltfinanzmärkten, die sich gerade zu einer veritablen Weltwirtschaftskrise ausweiten, ist sein Name plötzlich wieder in aller Munde. Diese Konjunktur ist freilich nicht mit der ernsthaften Wiederentdeckung seiner Kritik der Politischen Ökonomie zu verwechseln. Die Buchstabkombination M-A-R-X zirkuliert stattdessen als Kürzel für die vage Erinnerung, dass es in grauer präneoliberaler Vorzeit einmal so etwas wie eine Kritik an der herrschenden Produktionsweise gegeben haben soll.
Sogar der Finanzminister der Bundesrepublik hat neuerdings Marx für sich entdeckt. In einem Spiegelinterview meinte Peer Steinbrück kürzlich: “Gewisse Teile von Marx’ Theorien sind wohl doch nicht so verkehrt“. Das regierungsamtliche Liebäugeln mit dem Marxismus demonstriert nicht nur die Verbreitung, sondern auch die völlige Verblasenheit solcher Reminiszenzen. Peer Steinbrück klärte nämlich das werte Publikum gleich darüber auf, welche Elemente der Marxschen Kapitalismuskritik heute noch richtungsweisend wären. Steinbrück wetterte gegen die zügellosen Spekulanten und gelangt zu dem Schluss: „Ein maßloser Kapitalismus, wie wir ihn hier erlebt haben mit all seiner Gier, frisst sich am Ende selbst auf.“
Steinbrück scheint einer kleinen Verwechslung aufgesessen zu sein.
Solche Töne werden im Marxschen Kapital zwar durchaus angeschlagen, sie entstammen allerdings nicht Karl Marx’ im 19. Jahrhundert verfasstem Hauptwerk, sondern dem kürzlich erschienen Fake eines Namensvetters. Reinhard Marx, seines Zeichens Erzbischof von München und Freising hat, unter dem Titel „Das Kapital“ eine dreihundertseitige Fatwa veröffentlicht, in der er „wilde Spekulation“ zur „Sünde“ erklärt und die Rückkehr zu einer auf ehrlicher Arbeit gegründeten sozialen Marktwirtschaft fordert. Karl Marx hätte sich bei der Lektüre dieses Plädoyers für einen gemäßigten Kapitalismus, nicht nur der theologischen Fundierung wegen, vor Lachen gebogen; für jede Krisenanalyse, die im Finanzkapital die Wurzel aller Übel sieht, hatte er nur Hohn und Spott übrig. Zwar beschäftigte Karl Marx sich intensiv mit den Finanzmarktkapriolen seiner Zeit; er hat sie aber nie als Krisenursache, sondern immer nur als „Sturmvogel der Krise“ und als die Erscheinungsform viel tiefer reichender Widersprüche behandelt. Schon anlässlich des Crashs von 1857, der ersten Krise in der Geschichte, die alle Länder des kapitalistischen Länder gleichzeitig erfasste, schrieb er: „Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.” (MEW 12, S. 336f.)
Die Widerspruchsdimension hat sich geändert. Die Wechselreiterei, die 1857 das Hauptinstrument der Spekulation bildete, verhält sich zum Hedgefonds unserer Tage wie die Dampflok zur Interkontinentalrakete. Die Dynamik der fiktiven Kapitalschöpfung hat in unseren Tagen die strukturelle Überakkumulation nicht nur kurzfristig, sondern sehr lange überspielt. Der große Kriseneinbruch wurde diesmal nicht um ein paar Monate hinausgezögert, sondern um satte dreißig Jahre. Die Grundlogik aber bleibt. Die Krise erscheint als Finanzmarktkrise, ihre Wurzeln sind aber in den Widersprüchen der sogenannten Realökonomie selber zu suchen, im heiligen Reich der Arbeit.


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