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Interview: Arbeit und die Logik der Abstraktion

Moishe Postone im Gespräch mit Timothy Brennan

(Überarbeitete Übersetzung vom 17.9.2010)

Moishe Postones Arbeit „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ hat seit ihrer Veröffentlichung im Jahre 1993 zahlreiche zustimmende Beurteilungen aus den verschiedenen Bereichen der kritischen Sozialwissenschaften hervorgerufen. Postone stellt die These auf, dass die „gesellschaftliche Herrschaft“, auf die der Buchtitel Bezug nimmt, nicht allein durch Marktmechanismen und Privateigentum, sondern von der Arbeit selbst erzeugt wird. Ähnlich wie in den Konzepten der Theoriegruppe krisis in Deutschland (und den Arbeiten von Ernst Lohoff, Norbert Trenkle und Robert Kurz, letzterer jetzt Gruppe Exit) wird die industrielle Arbeit eher als Hindernis für die menschliche Emanzipation begriffen, denn als Schlüssel zu ihr. Während Postone insofern eine Konvergenz zwischen den Zielen des Kapitalismus und den älteren Formen des Staatssozialismus konstatiert, begnügt er sich jedoch nicht mit der Widerlegung älterer Systeme. Einer der tragenden Pfeiler seines Buches ist der Versuch, eine neue kritische Gesellschaftstheorie zu begründen.
Dies ist der gedankliche Hintergrund, vor dem das folgende Interview am 16. Mai 2008 geführt worden ist.

Timothy Brennan: Viele von uns betrachten Ihr Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ als eine der seit Jahrzehnten innovativsten Neudeutungen der Theorie des späten Marx. Was hat Sie veranlasst, es zu schreiben?

Moishe Postone: Danke. Es war ja ein sehr langer Prozess, der schon begann, als ich in der 1960ern auf der High School war. Früher hatte der Marxismus für mich eine Art von romantischem Appeal … Trotzki, zum Beispiel, und andere Revolutionäre. Theoretisch jedoch erschien er mir altmodisch, grobschlächtig und positivistisch. Ich war viel mehr von den Kritikern der Moderne angezogen, etwa von Nietzsche und Dostojewski, die mich wirklich ansprachen, obwohl sie eigentlich konservativ waren. Also versuchte ich, linksorientierte Politik mit dieser Art von Kritik zu verbinden, die ich als fundamentaler empfand als den Marxismus. Das Kapital war für mich im Grunde ein Buch des viktorianischen Positivismus.

Ah ja. Der Dialog zwischen Nietzsche und Marx dauert noch an, nicht wahr? Sie sagten, das sei schon ein Charakteristikum Ihrer informellen Studienzirkel in den 1960ern gewesen, als Sie auf der Universität waren …

Ja, als Student an der Universität von Chicago.

Wie kam es nun, dass Sie Ihr Denken über den vermeintlich spätviktorianischen Marx revidierten?

Nach Sit-ins an der Universität in den späten 60er Jahren gründeten wir eine Gruppe, die sich „Hegel und Marx“ nannte. Unter anderem lasen wir Teile aus Geschichte und Klassenbewusstsein, die nur in Fotokopien zur Verfügung standen. (Das Buch war noch nicht auf Englisch erschienen.) Lukács zu lesen war wie eine Offenbarung. Er nahm Themen der Moderne auf, wie sie zuvor von Nietzsche, Simmel und Weber formuliert worden waren, und transformierte sie, indem er sie in eine Kritik des Kapitalismus einbezog. Für mich eröffnete das die Möglichkeit einer Kapitalismuskritik, die viel erklärungsmächtiger war als die konservative Kritik der Moderne oder eines Marxismus, der alles auf die Kategorie der Klasse reduzierte, wie ich ihn bis dahin gewohnt war. Kurz danach entdeckte ich einen anderen Schlüsseltext für mich, die Grundrisse, vermittelt durch Martin Nicolaus’ The Unknown Marx in der New Left Review.

Aber Sie machten schließlich Ihren Doktor phil. in Deutschland. Ging es dabei mehr darum, Ihr Deutsch zu perfektionieren, oder dass Sie in ein Milieu eintauchen konnten, in welchem die Diskussionen auf einem höheren intellektuellen Niveau stattfanden?

Absolut das letztere! Gerhard Meyer, der mich bei der Arbeit an meiner Dissertation beriet, empfahl mir, nach Deutschland zu gehen, um dort in eine intellektuelle und politische Atmosphäre einzutauchen, die einer ernsthaften Beschäftigung mit Marx förderlicher wäre.

Die Grundrisse waren in den 70er Jahren natürlich außerordentlich populär. Eine Anzahl von Theoretikern nahm das Buch zum Anlass, frühere Marx-Interpretationen zu revidieren. Noch heute kann man feststellen, dass diese Strategie ein Comeback in der neuen italienischen politischen Philosophie Negris und Virnos erlebt, welche sich z.B. sehr stark auf die Deutung einer einzelnen Passage über Maschinen gegen Ende der Grundrisse stützen (in Deutschland geläufig unter dem Titel Das Maschinenfragment, Anm. d. Übers.), um daraus Argumente für das zu liefern, was sie den „General Intellect“ nennen (einen Terminus, den Marx in diesem Textabschnitt eher beiläufig benutzt). Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass die Grundrisse, die ja im Grunde nur eine Ansammlung von Notizen sind, welche die Grundlage einer Kritik der Kategorien der politischen Ökonomie darstellen sollten, deswegen so populär sind, weil sie so unendlich dehnbar in der Auslegung sind?

Ich glaube eigentlich nicht, dass die Grundrisse so unendlich dehnbar in der Auslegung sind. Ich denke schon, dass in diesem Manuskript der eigentliche Marx zum Ausdruck kommt. Im Laufe der Arbeit an den Grundrissen kommt Marx zu dem Schluss, dass eine angemessene kritische Theorie ihrem Gegenstand vollkommen immanent sein muss. Die Kritik darf nicht von einem Standpunkt aus durchgeführt werden, der dem Objekt äußerlich ist, sondern muss sich aus der immanenten Darstellungsweise des Gegenstands selbst entwickeln. Das Kapital ist daher nach dieser immanenten Darstellungsweise strukturiert. Jedoch wurde hier, und zwar eben aufgrund dieser dicht strukturierten, immanenten Form von Marx’ Darstellungsweise, der Gegenstand der Marxschen Kritik (z.B. der Wert, ebenso wie die Arbeit, die diesen begründet, wobei beide als spezifische historische Formen analysiert werden) häufig als Standpunkt dieser Kritik angesehen.
Die methodologischen Abschnitte der Grundrisse erklären nicht nur diese Darstellungsweise; sondern andere Abschnitte – etwa wie der über die Maschinen, auf den Sie sich bezogen haben – machen zudem deutlich, dass die Kategorien des Kapitals wie z.B. der Wert historisch spezifisch sind, dass also die sog. Arbeitswertlehre nicht eine Theorie des (transhistorischen) Reichtums darstellt. Genau aus dem Grunde, weil die Grundrisse eben nicht so immanent strukturiert sind, sind sie der Schlüssel zum Verständnis des Kapitals. Gleichzeitig gibt es Unterschiede zwischen den Grundrissen und dem Kapital. Die Marx-Forscher, welche diese Unterschiede betonen, haben sowohl Recht als auch Unrecht. Recht haben sie darin, dass z.B. die weitverzweigten Implikationen der Kategorie des Mehrwerts in den Grundrissen noch nicht völlig ausgearbeitet sind. Trotz alledem, wenn man sich auf solche Unterschiede konzentriert, kann es geschehen, dass man einen wesentlichen Punkt verwischt: dass nämlich Marx in den Grundrissen die allgemeine Natur seiner Kritik des Kapitalismus deutlich herausarbeitet. Die generelle Stoßrichtung seiner Kritik, die sich von der des traditionellen Marxismus unterscheidet, ist dieselbe wie im Kapital.
Zum zweiten ist es nicht mein Hauptanliegen festzustellen, was Marx beabsichtigt haben mag oder nicht. Ich konzentriere mein Interesse auch nicht darauf, mich durch die inneren Widersprüche hindurchzuarbeiten, die im Kapital vorhanden sein mögen oder nicht. Mein Erkenntnisinteresse (deutsch im Original, Anm. d. Übers.) ist es, dazu beizutragen, eine wirkungsvolle kritische Theorie des Kapitalismus neu zu formulieren. Zu diesem Zweck bemühe ich mich, die Kritik der politischen Ökonomie innerlich so kohärent wie möglich zu gestalten – aus theoretischen Gründen und gewiss nicht aus Gründen der Heiligenverehrung.

Wie wir alle wissen, wird zurzeit das theoretische Klima immer noch beherrscht von dieser oder jener Spielart des französischen Post-Strukturalismus, der noch heute – beispielsweise fortexistierend in Deleuzes Kritik der Modalitäten, an der Publikation von Foucaults unveröffentlichten Vorlesungen am Collège de France, der Wiedererstehung eines hegelianischen Lacan im Werk von Žižek oder an der Heideggerschen Wendung in Subaltern Studies und so weiter – der also noch heute der Ausgangspunkt für einen großen Teil der an Kultur orientierten Linken ist. Ich stelle mir vor, dass einige Leser unsere Diskussion als eine Rückschau auf die 1970er Jahre sehen, wohingegen ich daran erinnern möchte, dass die gegenwärtigen theoretischen Moden genau aus derselben Konstellation emporwachsen, wie es bei Ihnen der Fall war, und zwar geprägt durch die gleichen Werke und Ereignisse. Können Sie ein paar Worte dazu sagen, warum und wie Sie selbst sich fortgesetzt auf die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie hinorientieren – und zwar dergestalt, dass Sie, faktisch noch vor Beginn der Kritischen Theorie, mit Lukács anfangen und dann Ihren Weg bahnen bis zu deren abschließenden Interpreten wie etwa Jürgen Habermas? Das ist ja ein recht ungewöhnlicher Ansatz im gegenwärtigen Kontext und sicherlich gegen den Strich der herrschenden Meinung.

Ich könnte sowohl theoretische als auch eher zufällige Gründe nennen. Einer dieser zufälligen Gründe ist – und der reicht zurück zu dem, was Sie über die Bedeutung des unmittelbaren Zusammenhangs sagten – dass ich mich fast die gesamten 1970er und 1980er Jahre in Frankfurt aufhielt. Auf der einen Seite erfolgte großenteils die Rezeption des Post-Strukturalismus in den USA während der Zeit, als ich in Deutschland war. Auf der anderen Seite war die Rezeption des Post-Strukturalismus in Deutschland erheblich schwächer, und das lag an der weitverbreiteten Vertrautheit mit der Frankfurter Schule und mit Lukács. Darüber hinaus waren, wenn ich das richtig einschätze, die amerikanischen Hochschulen in den 1970er und 1980er Jahren weitaus mehr in den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen für diese Theorierezeption aufgeschlossen als in den sozialwissenschaftlichen.

Ja, vor allem in den literaturwissenschaftlichen Fachbereichen …

… was, wie ich glaube, eine zweischneidige Entwicklung war. Einerseits finde ich es gut und wichtig, dass hier überhaupt eine Theorierezeption stattfand. Andererseits denke ich, dass die Theorierezeption in den Literaturwissenschaften auf eine Begrifflichkeit zugeschnitten wurde, die deren eigenem Verständnis von Gesellschaft entsprach. Ich sage es nur ungern, aber das ist meine Meinung.

War es einfacher für Sie, in die Frankfurter Schule einzutauchen, weil Sie in einem Land studierten, in dem der Post-Strukturalismus nicht in dem Maße ernst genommen wurde, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall gewesen war? Und wollen Sie sagen, dass einiges von dem, was manche für neu an der post-strukturalistischen Kritik hielten, bereits viel früher in anderer Weise und in anderer Sprache von der Frankfurter Schule geleistet worden war?

Ich denke, sie war wirkungsvoller, erheblich wirkungsvoller. Ich war von der Frankfurter Schule und von Lukács schon angezogen, bevor ich nach Deutschland ging und mich dort in Kreisen bewegte, die meine kritische Haltung sowohl in Bezug auf den Klassenreduktionismus als auch auf den Strukturalismus (z.B. Althussers) teilten. Post-Strukturalismus ist in Wirklichkeit ein Post- des Strukturalismus, ebenso wie, impliziter, des Klassenreduktionismus. Da ich nicht angezogen war von dem, worauf der Post-Strukturalismus reagierte, sprach mich dieser auch nicht besonders an. Ein Grundzug der gesamten theoretischen Richtung, Strukturalismus und sein Post-, ist der, dass er völlig unberührt von jeglichen ernsthaften politisch-ökonomischen Überlegungen ist. Ich war immer der Meinung, dass eine
adäquate kritische Gesellschaftstheorie in irgendeiner Weise Kenntnis von der politisch-ökonomischen Dimension (wenn Sie es so nennen wollen) des Lebens nehmen sollte. Was ich als so schlagkräftig empfand, als ich Lukács und die Grundrisse kennen lernte – viel schlagkräftiger als bei den Konservativen, die mich mit ihrer Kritik der Moderne begeistert hatten – war die Tatsache, dass sie mir einen Weg zu einer fundamentalen kritischen Gesellschaftstheorie eröffneten, einen Weg, der viel historischer und zugleich kulturell und politisch-ökonomisch war.

Dennoch, in der Erklärung, die Sie eben gegeben haben, weshalb Sie von der Frankfurter Schule angezogen waren, sprechen Sie nicht die Tatsache an, dass in jeder praktischen Hinsicht Ihre Alma Mater (die Johann Wolfgang Goethe Universität) einen ziemlich großen Teil der Frankfurter Denker der ersten Generation in die staubigen Regale einer ehrwürdigen Vergangenheit verbannt hat. Wie kommt das? Und wie erklären Sie Habermas’ Rolle in diesem theoretischen Panorama (abgesehen von seinen Ambitionen, als der Philosoph der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen zu werden)?

Zunächst war dies nicht gänzlich der Fall. Es gab einige, international weniger bekannte Wissenschaftler, wie z.B. Jürgen Ritsert, welche die Arbeit in dem theoretischen Rahmen, den die erste Generation der kritischen Theoretiker etabliert hatte, weiterführten. Dennoch trifft es zu, dass Habermas dominant wurde. Ich bin der Meinung, dass dies nicht nur deshalb geschah, weil er hochschul- und wissenschaftspolitisch sehr erfolgreich war, sondern auch weil das Kategoriensystem der früheren Kritischen Theorie historisch an seine Grenzen gestoßen war. Während ich mit Habermas in diesem Punkt übereinstimme, bin ich doch gänzlich anderer Meinung, was den Charakter dieser Grenze betrifft, und ebenso hinsichtlich des Wegs, den er zur Wiederbelebung der Kritischen Theorie beschritten hat.

Ich würde jetzt gerne Ihre Wiederaufnahme der Theorien des späten Marx (samt seiner Betonung der Produktion, der Handelsstatistiken, der Profitraten etc.) in Einklang bringen mit Ihrer eigenen theoretischen Konzentration auf das, was nur „Metaphysik“ genannt werden kann, d.h. spekulative Philosophie. Müssen wir „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ verstehen als ein Werk der Philosophie – sagen wir als ein Werk des Genres (wenn auch natürlich nicht des Umfangs) von Hegels Phänomenologie des Geistes und seiner Rechtsphilosophie, welche beide ökonomische Fragen zum zentralen Thema haben, Fragen wie Arbeit, Ungleichheit, bürgerliche Gesellschaft und bürgerliche Eigentumsverhältnisse, dabei jedoch nie das Terrain der für das spekulative Denken als solches notwendigen Abstraktionen verlassen?

Philosophen werden wahrscheinlich bei diesem Gedanken erschrecken, aber ich würde gerne die Problematik in anderen Begriffen formulieren. Trotz mancher Einwände, die ich gegen Lukács habe – was ich an ihm schätze, ist, dass er sich philosophische Fragstellungen unter Bezugnahme auf eine Theorie der kapitalistischen gesellschaftlichen Formen aneignete und analysierte, eine Theorie, die diese Fragen sinnvoll und produktiv erscheinen ließen, sowohl historisch als auch kulturell. Das eröffnete die Möglichkeit, Philosophie weder idealistisch zu fassen – etwa als Ergebnis irgendeines mysteriösen Akts, der große Geister aus der Trivialität der eigenen Zeit und des eigenen Raums katapultiert – noch sie in reduktionistische materielle Kategorien zu pressen. Lukács nahm die Philosophie ernst und veränderte ihre Kategorien. Er historisierte sie, und er tat es auf analytisch rigorose Weise. Er veränderte das Terrain des spekulativen Denkens, indem er dessen scheinbare Unabhängigkeit vom Kontext beseitigte. Je mehr ich Marx lese, desto mehr bin ich überzeugt, dass es genau das ist, was er geleistet hat. Ich bin mir nicht sicher, dass ich Marx ohne Lukács hätte verstehen können, und dennoch glaube ich nicht, dass Lukács’ Analyse dieselbe ist wie die von Marx. Ich bevorzuge die letztere.
Der andere Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte, betrifft die Vorstellung, dass die Kritik des Kapitalismus eine ökonomische sei. So wie Lukács die philosophischen Fragen als Verschiebungen neu formulierte, als Denkformen, die eine Realität zu fassen suchen, ohne sie jedoch völlig erfassen zu können, so formulierte auch Marx die Postulate der Politischen Ökonomie neu, nämlich die, welche die Oberflächenformen einer Realität darstellten, ohne diese selbst völlig erfassen zu können. Es wäre ein Fehler, diesen Ansatz als Argument für den Vorrang der Ökonomie zu betrachten, ebenso wenig als eine Affirmation der spekulativen Philosophie. Vielmehr handelt es sich hier um eine Theorie der historisch spezifischen gesellschaftlichen Vermittlung (was ich hier nur erwähnen, aber nicht ausführen kann), die uns die Möglichkeit eröffnet, sowohl ökonomisches wie philosophisches Denken als Äußerungsformen einer historischen/materiellen Realität zu begreifen, die sie nicht völlig erfassen können.

Ein besonders hervorstechender Aspekt Ihres Projekts ist der Respekt, den Sie gegenüber Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein zeigen. Sie zeigen dabei neben anderem, wie sehr Adorno, Horkheimer und die übrige Frankfurter Schule Lukács verpflichtet sind, und wie sehr Heideggers Sein und Zeit einen Versuch darstellt, darauf zu reagieren.

Als ich Geschichte und Klassenbewusstsein zum ersten Mal las, war ich beunruhigt über das, was mir als Bruch erschien, als ein Bruch zwischen den ersten beiden Teilen der Ausführungen über die Verdinglichung und dem dritten Teil. Im ersten Teil bettet Lukács Webers Kritik der Moderne, im Sinne einer Kritik von Rationalisierungsprozessen, in die Warenform ein. Er gibt so der Rationalisierung eine historische Grundlage. Lange bevor Foucault das Konzept der Disziplinargesellschaft entwickelte, hatte Lukács es im Wesentlichen schon getan und darüber hinaus die Entwicklung dieser Formen historisch begründet. Im zweiten Teil des Essays unternimmt Lukács eine brillante Analyse der Entwicklungslinie des westlichen philosophischen Denkens von Descartes bis Hegel, indem er diese Entwicklung in den Rahmen einer Theorie der Kapitalformen eingliedert. Ich halte diese beiden Teile für überragend. Jedoch schien es mir, als stünde Lukács’ Fokussierung auf das Proletariat im dritten Teil im Widerspruch zu dem weitaus umfassenderen Verständnis des Kapitalismus, wie er es in den ersten beiden Teilen entfaltet hatte. Es schien mir nicht klar, wie die proletarische Revolution, die er im Rahmen des dritten Teils vorgestellt hatte, den zuvor beschriebenen Prozess der Rationalisierung hätte ändern können.
Viele Leute, die Lukács’ „Mythos vom Proletariat“ kritisierten, schütteten am Ende das Kind mit dem Bade aus. Sie verwarfen die gesamte Analyse der Warenform, wie sie von Lukács wiederentdeckt worden war, aufgrund dessen, was sie als „Mythos vom Proletariat“ bezeichneten. Ich habe mich bemüht – und es hat einige Zeit gebraucht, bis ich zu meinen eigenen Erkenntnissen gekommen bin – zwei Dinge zu trennen: das, was ich als die generelle Stoßrichtung von Lukács’ Analyse der Marxschen Kategorien ansehe, dass sie nämlich gleichermaßen kulturelle und gesellschaftliche Formen sind – dies also zu unterscheiden von der ganz spezifischen Art und Weise, in der er diese Kategorien verstanden hat. Es brauchte eine ganze Weile, bis ich mich da durchgearbeitet hatte. Je länger ich mich mit Lukács’ Kritik befasste, desto mehr erkannte ich (manchmal kann man dieselbe Sache viele Male lesen, und es ereignet sich erst ab einem bestimmten Punkt, was die Deutschen ein Aha-Erlebnis nennen; eben wenn etwas vertraut ist, dann verfremdet man in gewisser Weise das Vertraute): Wo nämlich ich die Kategorien der Marxschen Kritik immer als Kategorien der Praxis verstanden hatte, bedeutete Praxis für Lukács fast eine Art unterirdische Realität, eine Realität, die von einer Oberfläche verdeckt ist, welche von den Kategorien konstituiert wird. Diese sind für Lukács keine Kategorien der Praxis, sondern Kategorien, welche die Praxis verschleiern und hemmen. Für ihn ist Revolution, ebenso wie die Krise, die Eruption dieser „tieferen Ebene“ der Praxis durch die sie bedeckende Oberfläche der Abstraktion hindurch. Es ist die Eruption einer ontologischen Schicht des Lebens, konstituiert durch Arbeit. Ich denke nicht, das dies ein guter Weg ist, Marx zu lesen.

Ich habe dieses kalkulierte Einschleusen des „Proletariats“ in den Essay immer anders aufgefasst. Lukács ringt nicht so sehr mit der auf ihn überlieferten Idee des Proletariats als Praxis – als Motor und Agent der Geschichte (wie wir zuerst glauben mögen). Stattdessen vertritt er eher die These, dass die Revolutionen in der globalen Peripherie in den 1920er Jahren und kurz davor (in der Sowjetunion, China, Mexiko) die Natur der philosophischen Untersuchungen änderten. Sie führten in die philosophischen Konstrukte eine Art Akteur ein, dessen Existenz es dem Intellektuellen ermöglichte, eine frühere mentale Sackgasse zu überwinden. Um es anders zu sagen, nur der Theoretiker, der sich mit den Menschen identifiziert, die das industrielle System und die damit verbundenen Werte ablehnen, konnte einen Ausweg aus den von Kant ererbten und mittlerweile abgestandenen Antinomien des bürgerlichen Denkens finden.

Ja, man könnte argumentieren, dies sei Lukács’ Position. Eine wichtige Einsicht, die ich aus den Grundrissen gewann, ist jedoch, dass Marx’ Kritik des Kapitalismus tatsächlich auf die Abschaffung des Proletariats zielt – nicht in dem legalistischen, sowjetischen Sinn, in der Weise, dass, wenn es keine Bourgeoisie gibt, es eo ipso auch kein Proletariat gibt; sondern eher im Sinne einer materiellen Abschaffung der vom Proletariat verrichteten Arbeit. Und mir scheint, dass im dritten Teil von Lukács’ Essay sich nichts in diese Richtung bewegt. Die Bewegung dort geht vom Proletariat als einem Objekt zu einem Proletariat als Subjekt. Letztlich impliziert das eine Affirmation des Proletariats; es zielt nicht auf eine Abschaffung des Proletariats und der von ihm verrichteten Arbeit.
Die Bedingung für die Abschaffung der Klassengesellschaft – in dem allgemeinen Sinne verstanden als eine Gesellschaft, in der viele Menschen fortwährend ein Mehrprodukt schaffen, das von wenigen angeeignet wird (was in diesem Sinn die meisten menschlichen Gesellschaften seit der sog. Neolithischen Revolution charakterisiert) – ist die Abschaffung der Notwendigkeit der unmittelbaren Arbeit der Vielen als Voraussetzung für die Erzeugung eines Mehrprodukts. Diese Möglichkeit wird, so sagt Marx in den Grundrissen, vom Kapital selbst hervorgebracht.
Sie erwähnten den Einfluss von Lukács auf die Kritische Theorie. Ich denke, die Entwicklung der Kritischen Theorie erhellt im Rückblick einige von Lukács’ Begrenzungen. Die Kritische Theorie eignete sich Lukács’ Kritik der Rationalisierung und Bürokratisierung an, die auf einem sowohl gesellschaftlich/ökonomischem wie kulturellem Verständnis des Kapitalismus beruhte. Während der 1930er und 40er Jahre jedoch nahmen sie gegenüber Lukács’ Affirmation von Arbeit und Totalität eine kritische Haltung ein. Dennoch hat die Kritische Theorie die Doppelseitigkeit des kategorialen Grundgerüsts nicht wiedererlangt, sondern im Gegenteil Lukács’ affirmative Position schließlich in einer ebenso einseitigen Weise umkehrt.
Pollock und Horkheimer beispielsweise kamen zu dem Schluss, dass sich eine neue, dirigistische Form des Kapitalismus herausgebildet hatte, in welcher der alte kapitalistische Gegensatz zwischen Arbeit einerseits und Markt und Privateigentum andererseits überwunden war. Das bedeutete für sie, dass Totalität und Arbeit historisch verwirklicht waren. Das Resultat davon war freilich nicht emanzipatorisch. Stattdessen war, verbunden mit der instrumentellen Vernunft, eine neue technokratische Form von Herrschaft entstanden. Sie assoziierte nun Arbeit mit instrumentellem Handeln.
Horkheimers pessimistische Wendung hatte ihre Parallele in Adornos Verständnis der Marxschen Kategorien. Adorno folgte Lukács und Sohn-Rethel und begriff diese Kategorien als Kategorien sowohl der Subjektivität als auch der Objektivität. In Marx’ Analyse haben diese Kategorien einen Doppelcharakter. Adornos Lesart dieser Kategorien untermauerte seine höchst scharfsinnigen, oft brillanten Analysen. Dennoch betonte seine Lesart die Wertdimension in einseitiger Weise. Das Resultat war eine Analyse, die ungeachtet ihrer Erklärungskraft schlecht ausgestattet dafür war, sich mit der Neuentstehung radikaler politischer Opposition angemessen auseinandersetzen zu können, und die auf einer anderen Ebene auch nicht mehr angemessen reflexiv war.
Meine Betonung des Doppelcharakters der Marxschen Analyse stellt den Versuch dar, aus den Sackgassen der Kritischen Theorie herauszukommen, wobei ich mich bemühe, das zu vermeiden, was ich als die Schwächen der Habermas’schen theoretischen Antworten betrachte. Gleichzeitig lege ich besonderen Nachdruck auf die Arbeiten von Lukács und der Frankfurter Schule, weil ich der Auffassung bin, dass die Perspektive, die sie eröffneten – eine reflexive kritische Theorie, die Gesellschaft und Kultur mit denselben Kategorien begreift – erheblich erklärungsmächtiger ist als die des Strukturalismus und des Post-Strukturalismus.

So wie es bei Lukács selbst der Fall war (und wie es sich in gleicher Weise mit Alfred Sohn-Rethels bedeutsamem Buch über die geistige Arbeit verhält), scheint sich Ihre Methode sehr stark zu bewegen von einer Analyse der Warenform zu den alles durchdringenden Strukturen, die auf makrologischer Ebene aus der Warenform hervorgehen. Deshalb verleiht der Doppelcharakter der Ware, die zugleich Gebrauchswert (eine Qualität) und Tauschwert (eine Quantität) ist, der gesellschaftlichen Existenz selbst einen doppelten Charakter, und zwar in der Tat einen widersprüchlichen. Meine Frage ist jedoch: Wie weisen wir eigentlich nach, dass der einzigartige Charakter der Ware im Kapitalismus diese durchdringende Gewalt hat? Wie vermeiden wir es, dabei in bloße Metaphorik abzugleiten?

Ich freue mich, dass Sie das fragen. Lassen Sie mich es mit meiner Antwort so versuchen, zumindest vorläufig, dass ich zurück zu Lukács gehe! Einer meiner Kritikpunkte am dritten Teil von Lukács’ Verdinglichungs-Essay ist, dass die Dialektik des proletarischen Bewusstseins wenig zu tun hat mit der fortlaufenden historischen Dialektik des Kapitals. Es ist eher so, dass der Prozess ein Prozess der wachsenden Selbstbewusstwerdung des Proletariats über seine Lage ist. Lukács stellt ihn als einen Prozess dar, bei dem das Proletariat sich seiner selbst als Objekt bewusst wird, und insoweit es dies tut, ist es auf dem Weg, selber zum Subjekt zu werden. Die Lage des Proletariats ist jedoch eine statische. Die Entwicklung des Kapitals selbst von der formalen zur realen Subsumption und die Entwicklung der letzteren haben wenig mit dem von Lukács skizzierten Prozess zu tun. So wie ich das Kapital lese (angefangen mit der starken Betonung der Ware als der allgemeinen Form des Kapitals), macht es eine Entwicklung deutlich, die nicht einfach ökonomisch genannt werden kann, sondern vielmehr die Entwicklung der Warenform in ihrer Bewegung zeigt. Diese Dynamik der Warenform ist das, was Marx „Kapital“ nennt. Der Doppelcharakter der Ware gründet in dieser Bewegung. Die Bedeutung der Marxschen Analyse der Warenform hinsichtlich ihres Doppelcharakters wird dann klarer, wenn man versteht, dass sie die Grundlage bereitstellt für das Begreifen der historisch einzigartigen Dynamik, die den Kapitalismus kennzeichnet. Dieses Verständnis unterscheidet sich stark von dem, das auf den Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert im ersten Kapitel des Kapitals beschränkt bleibt.
Marx begründet sowohl die Produktionsweise als auch die Wachstumsentwicklung im Kapitalismus vermittelst seiner Analyse der dynamischen Natur des Kapitals. Ich habe versucht, den allgemeinen Charakter dieser Dynamik als Tretmühlen-Dialektik herauszuarbeiten. Es ist diese Tretmühlen-Dialektik, welche die geschichtliche Möglichkeit zur Abschaffung der proletarischen Arbeit erzeugt. Sie macht diese Arbeit anachronistisch, während sie gleichzeitig stets aufs neue deren Notwendigkeit bestätigt. Diese historische Dialektik schließt Prozesse fortwährender Transformation ebenso ein wie eine fortwährende Reproduktion der grundlegenden Bedingungen des Ganzen.
Jedoch in dem Maße, in dem sich das Kapital entwickelt, gerät diese Notwendigkeit, die von den Formen dieser Dialektik aufgenötigt wird, zunehmend zu einer Notwendigkeit für das Kapital allein; es wird immer weniger eine Notwendigkeit für das menschliche Leben selbst. Mit anderen Worten, Kapital und menschliches Leben treten historisch auseinander. Ich glaube nicht, dass diese historische Dimension bei Lukács gegeben ist. Der Grund, warum ich dies als Antwort auf Ihre Frage erwähne, ist der: Es scheint mir, dass die auf den Kategorien von Ware und Kapital beruhende Analyse des Kapitalismus sich genau in Hinsicht auf die dynamische Entwicklung der heutigen Gesellschaft als äußerst erklärungskräftig erweist.
Diese analytische Dimension ist es, welche meiner Meinung nach die Theorie über die bloße Metaphorik hinausführt. Wenn man sich nicht selbst mit dem Thema der historischen Dynamik des Kapitals befasst – welche in letzter Instanz den wechselnden Gestalten von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zugrunde liegt – dann verfehlt man das, was ich als zentral in Marx’ Analyse betrachte, und man ist dann für den Vorwurf verwundbar, lediglich einige interessante Homologien gezeigt zu haben.

Da genau liegt der Hund begraben. Da ist eine Sache in Ihrer Erklärung, die mir ins Auge gesprungen ist. Sie sagten, dass Marx sich, wenn er das Wort „Kapital“ in seinem Werk Das Kapital verwendet, auf „die Bewegung der Warenform durch die Gesellschaft hindurch“ bezieht. Das scheint mir eine sehr weit gehende Behauptung zu sein, und sie passt sehr gut zu der Abstraktion, nach der Sie in Ihrer Argumentation streben: der Verallgemeinerung der Form. Darum lassen Sie mich schlicht fragen: Wäre es demnach aus Ihrer Sicht falsch, das Wort „Kapital“ eher in einem konventionellen Sinn zu verstehen als „akkumulierten Wert in Gestalt von Geld, das für Investitionszwecke und nicht für den Gebrauchsnutzen eingesetzt wird“?

Ja, denn das geht nicht weit genug. Nach meiner Auffassung reicht Marx’ Konzeption des Kapitals weiter. Obwohl man das Kapital als Geld betrachten kann, das in fortlaufender Weise investiert und re-investiert wird, erfasst das nicht in hinreichender Weise, was diese Kategorie in der Kritik der Politischen Ökonomie leistet.
Zum ersten ist es wichtig festzuhalten: Wenn Marx sich mit Geld und Akkumulation befasst, dann tut er das innerhalb des Bezugsrahmens der Werttheorie. Schließlich erscheint das Kapital zuerst im Kapital als sich selbst verwertender Wert. Die Unterscheidung, die Marx im Kapital und in den Grundrissen zwischen Wert und stofflichem Reichtum macht – zwischen einer Form des Reichtums, die von der Verausgabung abstrakter Zeit bestimmt wird und einer, die auf der Beschaffenheit und der Menge der produzierten Güter beruht –, diese Unterscheidung wird vor allem wichtig für die Erklärung der spezifischen Tretmühlendynamik, die der Natur und dem Entwicklungsverlauf fortwährenden „Wachstums“ im Kapitalismus zugrunde liegt, wo mehr und mehr produziert werden muss, um stetig schrumpfende Zuwächse von Mehrwert zu erzielen.
Zum zweiten: die Kategorie des Kapitals wird von Marx im Verlauf seiner analytischen Darstellung dialektisch entwickelt. Kapital wird anfänglich bestimmt als sich selbst verwertender Wert. In zunehmendem Maße jedoch wird die Dimension des Gebrauchswerts ein fester Bestandteil des Kapitals. Anders als es im ersten Kapitel des Kapitals den Anschein hat, existiert der Gebrauchswert nicht außerhalb der Formen; er ist kein ontologisches Substrat unterhalb der Formen. Erst später im Text, wenn die Kategorie des Kapitals eingeführt ist, bekommen Aspekte der Warenanalyse im ersten Kapitel rückwirkend ihren Sinn. Das Konzept des Doppelcharakters der Ware als Wert und Gebrauchswert wird deutlich herausgearbeitet als Teil einer kritischen Analyse, die weit über eine romantische Zurückweisung des Abstrakten (Wert) im Namen des Konkreten (Gebrauchswert) hinausgeht. Vielmehr geht es hier um die Analyse einer fließenden „Substanz“, ohne dass diese identisch wäre mit den verschiedenen Erscheinungsformen, die sie im Verlauf ihres Fließens annimmt. Das Kapital verwandelt sich selbstverständlich permanent von Geld in Waren, von Waren in Geld und wieder von Geld in Waren und von Waren in Geld. Es fließt durch alle hindurch, ohne mit ihnen identisch zu sein.
Das Kapital ist hier eine Form von fließender Vermittlung. Es ist gesellschaftlich konstituiert, aber was diese Analyse impliziert, ist ein ganz anderes Verständnis von sozialer Konstruktion, als die weitverbreitete Vorstellung eines platten sozialen Konstruktivismus, der auf simple Weise einen Gegensatz aufstellt zwischen dem, was konstruiert ist, und dem, was vermeintlich „natürlich“ oder „ontologisch“ ist – eine Position, deren Kritik abstrakt und unbestimmt bleibt.
Das Kapital stellt eine eigentümliche Form gesellschaftlicher Vermittlung dar, eine Art verborgene und dynamische soziale Konstruktion, deren Wirksamkeit nicht davon abhängt, ob die Menschen an sie glauben (und die daher „quasi-objektiv“ ist). Diese Form der gesellschaftlichen Vermittlung konstituiert gesellschaftlich und historisch das, was das Objekt metaphysischer Spekulation ist.
Dass das Kapital die Dimensionen sowohl des Werts als auch des Gebrauchswerts hat, erzeugt seine historisch einzigartige Dynamik, eine Dynamik, die auf eine Zukunft jenseits ihrer selbst verweist, gleichzeitig aber die Verwirklichung dieser Zukunft behindert. Das zeigt, dass Geschichte, Geschichte im Sinn einer immanent erzeugten, fortlaufenden Dynamik, selber historisch spezifisch ist. Es zeigt auch, dass kritisches Bewusstsein begriffen werden muss als ein Bewusstsein, das innerhalb des vom Kapital strukturierten Kontextes erzeugt wird und nicht durch den Rückgriff auf irgendeine vermeintlich „außerhalb“ liegende oder ontologische Dimension. Diese Position stimmt völlig überein mit Marx’ Darstellungsweise als einer immanenten Kritik. Sie erlaubt der Kapitalismuskritik, die Fallstricke von Theorien zu umgehen, die sich selbst als abgesondert von dem betrachten, was sie analysieren.

Ihre Arbeit ist ideenreich und komplex. Einer ihrer Aspekte ist zweifellos Ihre Feststellung, dass der traditionelle Marxismus in seiner Marx-Deutung allzu sehr auf Klassenkampf und Ausbeutung fixiert war. Ihr Hauptinteresse gilt eher dem späten Marx des Kapitals, wo er, wie Sie sagen, in Wahrheit versucht, etwas sehr Unterschiedliches zu beschreiben: eine alles bestimmende Logik, die einen jeden einschließt und, genau genommen, keiner menschlichen Kontrolle unterliegt. Sie bringen das auf den Punkt, wenn Sie schreiben: „Für Marx ist das historische Subjekt die entfremdete Struktur der gesellschaftlichen Vermittlung, die für die kapitalistische Formation konstitutiv ist.“ Was ist demnach Ihr Begriff des Handelns?  (Anm. d. Übers.: im Orig. agency, sieh dazu die Anmerkung am Schluss!) Und was das Thema der Ausbeutung betrifft – leitet sich in Ihrem Buch der Wert von der Arbeit ab oder nicht?

Das sind so nette kleine Probleme, die Sie stellen! Mal sehen, ob ich daran irgendwie herumtüfteln kann. Wenn ich von einer beherrschenden Logik der Formen gesellschaftlicher Vermittlung im Herzen des Kapitalismus spreche, dann betrachte ich diese „Logik“ (ich möchte das Wort gern in Anführungszeichen setzen) als die Herausarbeitung dessen, was der junge Marx mit dem Begriff der Entfremdung zu erfassen versucht hat, was bedeutet, dass Menschen Strukturen schaffen und dann von diesen beherrscht werden. Diese dem Kapitalismus zugrunde liegende Herrschaftsform ist, gemäß dieser Analyse, reflexiv. Herrschaft im Kapitalismus wurzelt somit letztlich nicht in Institutionen des Eigentums und/oder des Staates, so wichtig diese auch sein mögen. Sie wurzelt vielmehr in quasi-objektiven Zwangsstrukturen, welche durch bestimmte Handlungsweisen erzeugt werden, die ihrerseits in den Kategorien von Ware und Kapital gefasst werden. Diese Form der Herrschaft findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Dynamik des Kapitals, einer Dynamik, welche die Eigenschaften einer historischen Logik besitzt. Wenn wir darum von Geschichte im Kapitalismus sprechen, so sprechen wir in Wirklichkeit über einen erheblich anderen Prozess, als wenn wir über geschichtliche Entwicklungen im antiken Mittelmeerraum, im alten Südasien, in China oder sonstwo reden.
Diese Logik ist zunehmend dichter und globaler geworden. Natürlich ist sie sehr, sehr verschieden von jeglicher Vorstellung eines historischen Fortschritts (auch wenn sie die Grundlage für die Idee eines historischen Fortschritts liefert), denn in dem Maße wie diese Dynamik herrscht, wird das Handeln (im Orig.: agency) begrenzt und eingezwängt. Je größer die menschlichen Handlungsspielräume (human agency) sind, desto weniger kann man von einer historischen Logik sprechen. Mir scheint, Marx analysiert den Kapitalismus als eine Gesellschaft, in der individuelles Handeln (individual agency) ein großes Gewicht hat, die aber zugleich einem starken historisch-strukturellen Zwang unterliegt. Die Dynamik des Kapitalismus eröffnet jedoch historische Handlungsmöglichkeiten (historical agency), auch wenn sie gleichzeitig deren Verwirklichung einschränkt. Ich denke, das zu begreifen, kann einem helfen, einige unvorhergesehene Konsequenzen politischen Handelns zu vermeiden. Die Konsequenzen politischen Handelns sind nicht völlig beliebig und, wenn man die Zwänge des Kapitals nicht begriffen hat, scheitern viele politische Vorhaben auf unerwartete Weise oder werden zu einem Teil dessen, was sie selbst zu überwinden trachteten.

Ein eher triviales Beispiel eines Handelns (agency) in Bezug auf den Kapitalismus wären jene charismatischen und entschlossenen Führer von militärischen Parteien oder Volksbewegungen, die, einmal an die Macht gelangt, sich entschlossen, ihre Nationalökonomien partiell vom Weltmarkt abzugrenzen. Mossadegh und Nasser in eingeschränkter Weise, Lumumba, Jyoti Basu, und als jüngere Beispiele Chavez, Mugabe und Evo Morales. Müsste man nicht sagen, dass in dieser einfachen, direkten Weise, durch Willenskraft und günstige gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die herrschende Logik des Kapitals überwunden werden kann?

Aus der Rückschau betrachtet würde ich diese Dinge ein wenig anders sehen, insofern als das Ineinssetzen staatlichen Agierens mit Handlungsfreiheit (agency) und des Marktes mit Zwang nunmehr fragwürdig erscheint. Wenn wir die Entwicklung der letzten hundert Jahre betrachten, sehen wir, allgemein gesprochen, ein Auf und Ab von staatlich gelenkten wirtschaftlichen Aktivitäten unterschiedlichster Formen, die vom Keynsianismus im Westen bis zur Sowjetunion reichten. Diese Formen waren in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschend und schienen sich in die Zukunft hinein fortzusetzen, gerieten aber in den 1970ern an ihre Grenzen. Das zeigt, dass der Grad an Handlungsfreiheit (agency), den sie zum Ausdruck brachtenn, doch stärker eingegrenzt war, als es damals der Fall zu sein schien.
Es gibt viele widerstreitende Darstellungen der allgemeinen Krise der frühen 70er Jahre. Statt eine umfassende Erklärung zu versuchen, würde ich sagen: Was die Sowjetunion als Sozialismus bezeichnete (und lassen wir einmal dessen negative Seiten, die wir nur zu gut kennen, beiseite), erscheint im Rückblick in Wirklichkeit als ein Mittel – und wahrscheinlich war es damals das einzig mögliche – nationales Kapital zu erzeugen, das heißt eine nationale Ökonomie hervorzubringen. Eine nationale Ökonomie zu schaffen bedeutete auch, zumindest auf dem Papier, dass man Ressourcen auf andere Weise zu verteilen vermochte, als wenn dies von außen her geschehen wäre. Es war eine Strategie, um der ungleichen Entwicklung entgegenzuwirken und eine effektive staatliche Souveränität zu etablieren. Das jedoch brachte ganz sicher nicht die Überwindung des Kapitalismus mit sich.

Ich verstehe – was da handelte war also in Wirklichkeit die Strukturlogik und waren nicht die Menschen.

Ich befürchte, so war es. Ich glaube auch nicht, dass es ein Zufall war, dass, nachdem das staatszentrierte Konzept in den 70er Jahren in die Krise geriet, die in China zur Macht gelangte Führung der Kommunistischen Partei zu erkennen schien, dass eine frühere Epoche zu Ende ging, während die Führung in der Sowjetunion das nicht wahrnahm. Der chinesische Weg war also nicht einfach das Ergebnis von Dengs Handeln; sondern die Hinwendung zum Markt, insbesondere zum Kapitalmarkt, war eine Antwort auf die Begrenzungen staatlichen Handelns. Die früher sehr erfolgreiche Art der staatsdirigistischen Entwicklung war nun nicht mehr effizient. Diese allgemeine Betrachtung stellt die Identifikation staatlichen Handelns mit Handlungsfreiheit (agency) infrage.
Auf der anderen Seite schienen marktorientierte Ansätze, die während der vorherigen Epoche der etatistischen Entwicklung nicht gut funktionierten, nun erfolgreich zu sein. (Insoweit es die Kapitalverwertung, natürlich.) Sie könnten in zwanzig Jahren vielleicht nicht mehr funktionieren. Offensichtlich ist Südafrika heute anders, als es geworden wäre, wenn der Kampf gegen die Apartheid eine Generation früher erfolgreich gewesen wäre; dann hätte es wahrscheinlich eher den klassischen Weg Entwicklungslandes einer staatszentrierten Entwicklung („developmental state“) eingeschlagen. Gerade das scheint für das Land heute aber keine sinnvolle Option mehr zu sein. Wir sollten die Tendenz vermeiden, eine historische Erscheinungsform des Kapitalismus herauszugreifen und sie dann festzuschreiben. Die meisten Debatten über Planung und Markt sind statisch; sie lösen die Kategorien aus ihrem Kontext heraus und vedinglichen sie.

Was wäre das entscheidende Charakteristikum einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft?

Ich denke, es gibt mehrere Kennzeichen. Sicherlich zeigt sich auf der Grundlage unseres heutigen Wissens, dass die Abschaffung des Privateigentums und des Marktes keine hinreichenden Bedingungen für die Abschaffung des Kapitalismus sind. Wenn man zu Marx’ Unterscheidung zwischen Wert und stofflichem Reichtum zurückkehrt, scheint es, dass eine grundlegende Bedingung für die Abschaffung des Kapitalismus die Abschaffung des Werts ist. Das produktive Potenzial, wie es im Kapitalismus entwickelt worden ist, vorausgesetzt, wäre es ein positives Resultat, dass der Reichtum der Gesellschaft nicht weiter abhinge von einer Masse von Menschen, die eine Arbeit verrichten, die wir als leer, zerstückelt, unterdrückend und ausbeuterisch ansehen. Im Sozialismus würde ein großer Teil dieser Arbeit abgeschafft, ohne dadurch einen enormen Bevölkerungsüberschuss hervorzubringen, der heute eines der Probleme in vielen Teilen der Welt ist. Auf der anderen Seite wären politische und ökonomische Entscheidungen weit weniger eingeengt von den quasi-objektiven Zwängen des Werts und des Kapitals, sodass verschiedene Projekte, etwa solche, wie sie von der französischen Regierung in den frühen 1980ern unternommen wurden, eine bessere Erfolgschance hätten. Obwohl ich mir nicht sicher bin, was die spezifischen empirischen Bedingungen für einen solchen Wandel wären, meine ich doch, dass es überaus wichtig ist, auf beide Dimensionen Nachdruck zu legen: zum einen auf die Arbeitsbedingungen der meisten Menschen, zum andern auf die Zwänge, denen politische Entscheidungen unterliegen.

Selbst das gründlichste Verständnis der Marxschen Kritik des Kapitals führt letztlich nicht zu einer genauen Vorstellung von einem künftigen Sozialismus. Mit anderen Worten, um den Kapitalismus zu verstehen, ist es nicht nötig, sich den Post-Kapitalismus auszumalen. Zugleich ist es schwierig, beides voneinander zu trennen. Gewisse Teile der Linken streben nichts weniger an als eine Welt ohne Gesetze, Regierungen oder Staatsorgane. Die Abschaffung entfremdeter Arbeit ist für sie zu kümmerlich, um sich dafür zu begeistern. Was immer der real existierende Sozialismus tatsächlich geleistet hat, diese Sorte von Linken verwirft das gesamte Projekt. Aber wäre eine zumindest partielle Eindämmung des Marktes durch eine Regierungsinstanz nicht deutlich besser als das, was wir jetzt haben?

Oh, unbedingt! Wenn ich über meine Vorstellungen von Sozialismus rede und dabei feststelle, dass diese sich von den traditionellen marxistischen Vorstellungen stark unterscheiden, dann bedeutet das nicht, dass ich eine Position des „Ganz oder gar nicht“ vertreten würde. Ich denke in der Tat, dass eine solche Analyse auch dabei helfen könnte, Reformen in die Wege zu leiten. Ich stimme mit Ihnen völlig darin überein, dass wir selbst von einer vorrevolutionären Situation sehr weit entfernt sind. Einer solchen Situation kann man sich nur praktisch annähern, d.h. über eine Reihe von Reformen, von denen einige dringender als andere wären. Das Thema des Bevölkerungsüberschusses – in dem Sinne, dass eine große Zahl von Menschen infolge der kapitalistischen Entwicklung „überflüssig“ geworden ist – ist ein ungeheuer drängendes Problem, ebenso wie es die Umweltprobleme sind. Ich bin da ein wenig pessimistisch, denn während gleichzeitig eine Art globaler Reformismus immer notwendiger wird, geraten wir in eine Situation, die auf die Wiedererstehung eines großen Machtkonflikts hinweist.
Ich glaube nicht, dass Amerikas militärische Abenteuer am Persischen Golf aus einer langfristigen Einschätzung zukünftiger Goßmachtkonflikte herausgelöst werden können. Obwohl die amerikanischen Ölgesellschaften davon mächtig profitiert haben dürften, so glaube ich doch nicht, dass die USA nur deshalb einmarschiert sind, um diesen Konzernen einen Gefallen zu tun. Natürlich spielt Öl eine extrem wichtige Rolle, aber das ist zum Teil der Fall wegen der möglichen zukünftigen Machtkonflikte.
Die Dialektik von Großmachtkonflikt und Globalisierung lenkt meinen Blick zurück auf die beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, als wir eine ähnliche Dialektik vorfanden. Aber lassen wir das einmal für einen Moment beiseite, ich glaube nämlich, dass eine Vielzahl von Initiativen unternommen worden sind, die uns einer globalen Perspektive näherbringen. Einer der Gründe, weshalb mich die Anti-Sweat-Shop-Bewegungen in den 1990er Jahren an den Unis so ermutigten, war, dass sie die Dritte-Welt-Regierungen nicht länger mit einer gleichsam magischen progressiven Souveränität aufluden, sondern sich stattdessen anschauten, was tatsächlich an der Basis geschah, egal ob die Fabriken in Indonesien oder in Vietnam standen.

Lassen Sie uns zum Thema „Arbeit“ zurückkommen! Wenn ich das einmal so formulieren darf, konzentrieren Sie sich eher auf Marx als den Theoretiker der gesellschaftlichen Formen als auf Marx als den Propheten der Revolution. Eines Ihrer Argumente ist, dass im Kapitalismus der ökonomische Wert nicht reduzierbar ist auf „Hirn, Muskeln, Nerv, Hand“ (Marx), die zur Herstellung materieller Objekte zum Zweck des Austauschs verausgabt werden. Der Wert, und so auch die ihn produzierende Arbeit, wird im Kapitalismus abstrahiert, und er zirkuliert in dieser höchst vermittelten Weise, fern von seinem Ursprung in der menschlichen körperlichen Anstrengung. Wie Sie zeigen, repäsentiert diese Eigenschaft des Kapitalismus in gewisser Weise das, was Max Weber als „Rationalisierung“ bezeichnet hat – das bedeutet die quantitative Rationalisierung der modernen Institutionen sowie das, worauf Lukács mit seiner Vorstellung der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen hingewiesen hat. Wörter wie „Abstraktion“ und „Rationalisierung“ sind Ausdrücke, die in die Richtung von Denken, Management, Planung, Projekt, Theorie, Prognosen zielen. Meine Frage lautet: Beschreiben Sie einen Prozess der Bewegung von der körperlichen zur geistigen Arbeit, oder ist das zu weit gegriffen?

Ich glaube, ja und nein. Was mir beim Nachdenken über die Werttheorie im Kapital ins Auge fiel, ist, dass Marx auf der einen Seite versucht zu zeigen, dass mit der Entwicklung des Kapitals sich ein produktiver Apparat ausbildet, der nicht länger einfach nur das Vermögen der Arbeiter ausdrückt – es geht weit darüber hinaus. Auf der anderen Seite bleibt für Marx der Wert an die von den Arbeitern verausgabte Arbeitszeit gebunden. Dass die entgegengesetzt wirkenden Kräfte zwischen diesen beiden Momenten stetig zunehmen, ist konstitutiv für die Produktionsweise im Kapitalismus. Das begründet auch den fundamentalen Widerspruch der Gesellschaftsform. Diese Position unterscheidet sich von der von Theoretikern wie Daniel Bell und Jürgen Habermas, die behaupten, dass die Arbeitstheorie des Werts zwar in der Vergangenheit gültig gewesen sei, der Wert heute jedoch auf Wissenschaft und Technik beruhe. Diese Position unterscheidet sich ebenso von der Auffassung von Vertretern des orthodoxen Marxismus, die alles und jedes, einschließlich der Rechenleistung eines Supercomputers inklusive der technischen Entwicklungszeit, auf die darin eingegangene Arbeitszeit zu reduzieren trachten.
Diese beiden diametral entgegengesetzten Positionen teilen ein gemeinsames Verständnis vom Wert. In keinem Fall wird der Wert als eine historisch spezifische Form des Reichtums verstanden. Marx hingegen entwirft ein Konzept, das ich viel interessanter finde, indem er sagt: Obwohl das Kapital diese enormen produktiven Kapazitäten entwickelt und damit, wenn Sie so wollen, die geistige Arbeit immer mehr in den Mittelpunkt rückt, bleibt es strukturell an die unmittelbare Arbeit im Produktionsprozess gebunden. Das ist der Hauptwiderspruch des Kapitals. Ich denke, das ist es, was Marx mit seiner Werttheorie zu analysieren sucht. Das unterscheidet sich sehr von den Absichten eines Ricardo und Smith.

Also, trotz der Distanz, der Abstraktion usw., die Vermittlung …

… basiert weiterhin auf der Arbeitszeit.

Und damit meinen Sie die körperliche Arbeit bei der Erzeugung von Dingen.

Ja, zeitlich gemessen.

Nun, in der Perspektive Ihrer Argumentation – wie stehen Sie zu den weitausholenden Vorhersagen, wie sie mindestens seit zwei, drei Jahrzehnten gemacht werden, wonach wir in eine postindustrielle Ära eingetreten sind?

Nun ja, ich habe da in der Tat vor einer ganzen Weile etwas über Daniel Bell geschrieben und ihn mit Ernest Mandel, der über den Spätkapitalismus geschrieben hat, verglichen.

Die beiden könnten politisch nicht verschiedener sein.

Ja, aber Bell war einmal Assistent der Frankfurter Schule in Morningside Heights, nachdem diese nach New York gekommen war. Ich glaube, er hat sich eine Menge von ihr „angeeignet“ und dies dann in seiner eigenen unnachahmlichen Weise transformiert.

Ja, so wie er Marcuses Eindimensionalen Menschen für sich „adaptierte“, als er Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus schrieb, wo er Punkt für Punkt und ohne Quellenangaben Marcuses Gedankengang folgt, nur um dessen Konzept zu untergraben, während er dabei die Moderne preist, die Marcuse, wie bekannt, verwarf.

Nun, er ist sicherlich vertraut mit den allgemeinen Fragestellungen der Frankfurter Schule. Wie dem auch sei, Daniel Bell postuliert, dass das Einzige, was uns am Erreichen einer postindustriellen Gesellschaft hindern könne, eine Bewusstseinsstruktur sei, die er „ökonomistisch“ nennt, im Gegensatz zu einem „soziologistischen“ Denken. Vielleicht war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren so eine Haltung noch plausibel. Aber ich glaube nicht, dass die Theorie der postindustriellen Gesellschaft, die im tiefsten Innern eine lineare Theorie ist, die Natur der Veränderungen seit den späten 1960er Jahren erklären kann. Sie vermag nicht zu erklären, wie das, was eine historische Bewegung zu sein schien, die über den Ökonomismus hinausführt und befriedigende Arbeit sowie vermehrte Freizeit zur Folge hat, gestoppt und wieder umgekehrt werden konnte. Was nach meiner Auffassung die Theorie der postindustriellen Gesellschaft leistet, ist, dass sie uns daran gemahnt, welch ein gewaltiges Potenzial unter dem Kapitalismus geschaffen wurde, ein Potenzial, das tatsächlich das Leben vieler Menschen verbessern könnte, und dieses Bessere ist nicht nur in den Kategorien des Konsums zu verstehen. Wenn man jedoch von den Zwängen des Kapitals abstrahiert, dann führt die Theorie der postindustriellen Gesellschaft zu linearen Modellen, deren Versagen sie nicht zu erklären vermag.

Sie meinen also, dass, so gesehen, der „postindustrielle Kapitalismus“ sich viel eher auf etwas Reales bezieht als auf eine Metropolen-Illusion, die auf nichts weiteres zielt als auf die Auslagerung der Basisproduktion in die Dritte Welt?

Ja. Jemand wie André Gorz hat schon vor Jahren gezeigt, dass die Masse der proletarischen Arbeit, die der technischen Rationalisierung zum Opfer fiel, größer ist als diejenige, die exportiert wurde. Es ist falsch zu glauben, dass proletarische Arbeit ein fixer Betrag sei, der einfach exportiert wird, zunächst nach Mexiko, dann nach China, dann nach Vietnam. Natürlich findet die Verlagerung von Arbeitsplätzen ebenfalls statt, beides geschieht. Ich versuche, das Problem zu erfassen, indem ich – zugegeben auf einer sehr abstrakten Ebene – beschreibe, wie das Kapital über die proletarische Arbeit hinausweist, während es sie beständig neu konstituiert.

Einverstanden. Auf der andern Seite jedoch erscheint mir die Auffassung, dass die auf kruder körperlicher Arbeit beruhende Basisproduktion nicht mehr die Grundlage des internationalen Reichtums sei, extrem und einseitig zu sein, insbesondere wenn man sich das Schauspiel der im Stil des 19. Jahrhunderts erfolgenden ursprünglichen Kapitalakkumulation im heutigen China anschaut oder die Kapitalisierung der zuvor nicht-kapitalisierten Industrien in Indien, um nur zwei Beispiele zu nennen. Drängt sich da nicht der Verdacht auf, dass das Bild einer „postindustriellen Gesellschaft“ sich aus der Perspektive von Metropolen-Intellektuellen ergibt, die – wegen der Auslagerung der Produktion, des Aufstiegs der Dienstleistunsindustrie und der völligen Finanzialisierung der Ökonomie schlichtweg jeden Kontakt mit dem industriellen Motor hinter allem, was sie sehen, verloren haben? Ist das nicht, mit anderen Worten, eine Frage des Eigeninteresses?

Ich weiß nicht, ob es immer eine Frage des Eigeninteresses ist. Es könnte eine halbe Illusion sein. Ich stimme Ihnen zu, dass es sich um eine sehr selektive Wahrnehmung handelt, aber ich glaube nicht, dass es eine bloße Illusion ist. Wenn man sagt, dass die krude körperliche Kraft immer die Grundlage des internationalen Reichtums sein werde, lenkt man die Aufmerksamkeit auf die herrschende brutale Ausbeutung. Man tut das allerdings auf eine Weise, welche die historische Dimension des Kapitalismus ausklammert und damit auch jegliche Diskussion der Bedingungen, unter denen Sozialismus möglich sein könnte. Man ersetzt dadurch zeitliche Überlegungen durch räumliche.
Nebenbei bemerkt, im Falle Chinas handelt es sich nicht einfach um eine Wiederholung von ursprünglicher Akkumulation im Stil des 19. Jahrhunderts. Wenn überhaupt, dann galt dies eher für die „kommunistische Akkumulation“. Nach meinem Verständnis stellt es sich so dar, dass die zentrale Bedeutung der Arbeitskraft in China in Marxschen Wertkategorien erklärt werden kann (eher als in solchen der Entwicklungstheorie). Ich habe einmal gelesen, dass nach China exportierte deutsche Fabriken dort neu konzipiert wurden, dergestalt dass an den Fließbändern häufig die Roboter entfernt und an ihre Stelle Menschen eingesetzt werden, weil diese erheblich billiger sind. Das bedeutet, den Schwerpunkt im Verhältnis von absolutem und relativem Mehrwert in Richtung des ersteren zu verschieben. In gewisser Weise entspricht das dem, was die Amerikaner ein Kosteneinsparungsprogramm nennen (obwohl diese Formulierung die eben von mir getroffene Unterscheidung verwischt).

Es ist somit eine Art Umkehrung des im Kapital beschriebenen Prozesses.

In gewissem Sinne ja. Aber Marx beschreibt auch, wie das Kapital alte Formen in einem neuen Kontext wiederbelebt. Es gibt nichts Lineares in der Entwicklung des Kapitals.

Ein Teil der Kritik, die Sie an dem üben, was Sie den „traditionellen Marxismus“ nennen, besteht darin, dass dessen Vorstellung von der Arbeit „transhistorisch“ sei. Sie argumentieren, dass er nicht imstande sei, die qualitative Transformation der Arbeit im Kapitalismus zu erklären, eine Transformation, die nichts weniger bedeutet als die „Herrschaft der Zeit über die Menschen“. Aber ist es nicht so, dass alle politische
Ökonomie vor der neoklassischen Revolution – und das schlösse Rousseau, Smith sowie die Marxschen Manuskripte von 1844 mit ein – uns eine anthropologische Interpretation der Arbeit präsentieren? In dieser Perspektive bleibt die Arbeit, unabhängig von den ökonomischen Verhältnissen, in jedem Zeitalter dieselbe. Stets gibt es die Notwendigkeit physischer Aktivität zur Umgestaltung der Natur nach kulturellen Vorgaben, um ein soziales Mehrprodukt zu erzeugen. Kurzum, müssen wir nicht unterscheiden zwischen „anthropologisch“ und „transhistorisch“? Die unvermeidliche Tatsache der menschlichen Arbeit als Konstante und Basis des menschlichen Lebens ist genau das, was den verschiedenen „Formen“ der Arbeit – inklusive jenen spezifischen, die der Kapitalismus hervorbringt – ermöglicht, ihren jeweiligen historischen Charakter zustande auszubilden.

Ich möchte der Unterscheidung zwischen dem „Transhistorischen“ und dem „Anthropologischen“ zustimmen, sie aber auch ein wenig modifizieren. Ich denke, es ist unzweifelhaft, dass irgendeine Art der Interaktion zwischen Mensch und Natur die Voraussetzung des menschlichen Lebens ist. Jedoch glaube ich, dass man heute bezweifeln kann, ob dies notwendigerweise die körperliche Arbeit vieler Menschen sein muss. Es gibt da eine Textstelle – ich glaube in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie – wo Marx die Geschichte bis jetzt, einschließlich des Kapitalismus, als „prähistorisch“ klassifiziert. Meine Lesart dieser Stelle ist die, dass es mit Beginn der sog. Neolithischen Revolution eine enorme Ausweitung der menschlichen produktiven Fähigkeiten gegeben hat. Diese Expansion geschah freilich immer auf Kosten der Vielen. Alle sogenannten historischen Gesellschaftsformen beruhen auf der Existenz eines wachsenden Mehrprodukts, und dieses Mehrprodukt wurde stets von den Vielen geschaffen.

Sogar vor dem Sündenfall, wie er in der Genesis beschrieben ist? Das heißt, sogar vor der Entstehung von Ackerbaugemeinschaften und Städten?

Nein, ich sagte ja „nach der Neolithischen Revolution“. Das ist nach meinem Wissen nicht der Fall bei Jägern und Sammlern. Generell bezieht sich der Begriff „historisch“ nur auf post-neolithische Gesellschaften. Deren Entwicklung mag für die Menschheit als ganze ein riesiger Schritt gewesen sein, aber sicher hatte er für einen großenTeil der Menschen negative Folgen. Das Problem bei den historischen Gesellschaften ist nicht nur, dass eine Oberklasse diejenigen unterdrückt, die den Überschuss produzieren, und sie auf deren Kosten lebt, sondern dass das Wohl des Ganzen im Gegensatz zum Wohl der Einzelnen (oder zumindest der meisten Menschen) steht. Das Wachstum und die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte mögen einer Oberklasse nützen oder von dieser an sich gerissen werden; das eigentliche Problem aber ist, dass die Mühsal der Vielen die Voraussetzung des Reichtums und der Kultur des Ganzen ist.
Ich glaube, dass für Marx der Kapitalismus die letzte Form der Vorgeschichte gewesen sein könnte, weil dieser die Voraussetzungen für eine fortwährende Produktion eines Mehrprodukts schafft, die nicht auf der Arbeit der Vielen beruht. Das verbindet sich mit dem, was Sie über die Theorien sowohl der geistigen Arbeit als auch der post-industriellen Gesellschaft sagten. Das Problem dieser beiden miteinander zusammenhängenden Ansätze ist, dass sie vom Kapitalismus abstrahieren. Ihre Betrachtungsweise ist schlicht auf den Aspekt der technischen Entwicklung beschränkt, und deshalb vermögen sie nicht den tatsächlichen, diesen Aspekt überformenden Prozess zu begreifen.
Die Erklärungskraft von Marx’ Ansatz liegt hingegen darin, dass er sowohl die fortwährende Unterdrückung als auch ihre zunehmende Nicht-Notwendigkeit für die Gesellschaft als ein Ganzes erkennt. Er analysiert die reale Unterdrückung der Menschen unter Bedingungen, wo diese nicht mehr notwendig ist. Das macht die Unterdrückung umso schlimmer.

Das erklärt vielleicht noch mehr, warum Sie in den sog. real existierenden Sozialismen nicht viel Ermutigendes finden. Man kann alle möglichen Unterscheidungen zwischen diesen und dem Kapitalismus treffen, wenn man den Blick einzig auf die Marktbeziehungen lenkt, aber nicht mehr so viele, wenn man von der Arbeit der Vielen und deren Leiden spricht.

Richtig.

Wenn die Kritik nicht über die Denkkategorien im Kapitalismus hinausgelangen kann, weil, wie wir gesagt haben, die herrschende Logik diese subsumiert, wenn die Kritik über entfremdete und verdinglichte Beziehungen zur Welt nicht hinauszureichen vermag, außer dadurch, dass sie die Widersprüche innerhalb des Systems selbst aufdeckt, seine negative Realität sozusagen, können wir dann wenigstens klären, was für Widersprüche das sind?

Lassen Sie mich einen Schritt zurückgehen. Es hängt davon ab, wie man die kapitalistisch geformten Denkkategorien versteht. Wenn der Kapitalismus nur als etwas Negatives gesehen wird – als ein unterdrückerisches, ausbeuterisches System, das Qualität in Quantität verwandelt (was in der Tat, da stimme ich zu, einen wichtigen Aspekt des Kapitalismus beschreibt) – dann muss man notwendigerweise auf ein „Außen“ als Grundlage der Kritik rekurrieren. Nach meiner Auffassung jedoch muss der Kapitalismus als die gesellschaftliche und kulturelle Ordnung verstanden werden, in der wir leben, eine Ordnung, die nicht als ein rein Negatives verstanden werden kann, sondern die gekennzeichnet ist durch eine komplexe Interaktion von positiven und negativen Momenten, welche sämtlich historisch konstituiert sind. Man sollte den Begriff des Kapitalismus also als eine begrifflich stringentere Art und Weise verstehen, das Phänomen der Moderne zu analysieren: als eine gesellschaftlich-kulturelle Form des Lebens, die eine ganze Reihe von Ideen und Werten hervorgebracht hat (so z.B. der Idee der Gleichheit), die in verschiedener Hinsicht emanzipatorisch waren.
Ich halte es begrifflich nicht für sinnvoll, Kritik als etwas zu denken, das außerhalb ihres sozialen und historischen Kontextes steht. Kritik jeglicher Art muss immanent begründet werden. Marx war sich dessen schon in der Deutschen Ideologie bewusst, als er den Idealismus der Junghegelianer kritisierte. Er schmäht sie nicht nur als fehlgeleitet, sondern argumentiert, dass eine angemessene Theorie in der Lage sein sollte zu erklären, warum ihnen, den Jundhegelianern, ihr Idealismus einleuchtend erschien. Aus dem gleichen Grund sollte eine gute Theorie imstande sein, die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit zu erklären. Eine Theorie kann nicht auf der einen Seite verkünden, dass die Menschen sozial, historisch und kulturell geformt seien, und auf der anderen Seite implizit sich selbst als eine Ausnahme ihrer eigenen Grundannahmen betrachten.
Sie haben Recht mit Ihrem Vorschlag, dass es die Vorstellung des Widerspruchs ist, die es einer solchen kritischen Theorie ermöglicht, eine Art Durkheimschen Funktionalismus zu vermeiden. „Widerspruch“ ist nicht einfach ein objektivistischer Begriff in der Art wie etwa die maoistische Vorstellung vom Verhältnis zwischen Erster und Dritter Welt oder die Idee eines finalen ökonomischen Zusammenbruchs. Vielmehr scheint er mir in einer Analyse der sich vertiefenden Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, angelegt zu sein
Wie ich jedoch bereits angedeutet, wird diese Kluft nicht angemessen begriffen als eine Kluft zwischen der industriellen Produktion auf der einen sowie dem Markt und dem Privateigentum auf der anderen Seite. Sie sollte viel eher begriffen werden als eine Kluft zwischen der gesellschaftlichen Arbeit, so wie sie gegenwärtig beschaffen ist, und der gesellschaftlichen Arbeit, wie sie beschaffen sein könnte. Diese Möglichkeit jedoch kann unter dem Kapitalismus niemals verwirklicht werden.
Wir sprachen zuvor über die Theorien der geistigen Arbeit und des Post-Modernismus als Theorien, die in gewiser Hinsicht eine mögliche Zukunft auf der Basis gegenwärtiger Entwicklungen entwerfen, Entwicklungen, die sie implizit als linear verstehen, wobei jedoch nicht begriffen wird, was der Verwirklichung dieser Zukunft eigentlich entgegensteht. Ich denke, man kann auch manche soziale Bewegungen dahingehend untersuchen, dass sie eine Ahnung zum Ausdruck bringen, nämlich dass das Bestehende nicht notwendig so sein muss, wie es ist.
Mit anderen Worten, der Begriff des Widerspruchs ist nicht nur entscheidend für die theoretische Selbstreflexivität, sondern auch für die kritische Analyse entstehender sozialer Bewegungen, und ermöglicht eine Einschätzung dieser Bewegungen. Meiner Meinung nach war z.B. die Idee der Nicht-Notwendigkeit der herrschenden Gegebenheiten außerordentlich wichtig bei den sog. Neuen Sozialen Bewegungen eine Generation zuvor. Ich denke auch, dass man den Fundamentalismus als entgegengesetzte Reaktion betrachten kann, und zwar als Reaktion auf die Wahrnehmung eines Niedergangs, nachdem die alte Weltordnung vor einer Generation an ihre Grenzen gestoßen war.
Das ist noch sehr grob ausgedrückt, aber ich bin durchaus der Meinung, dass man den Versuch unternehmen sollte, oppositionelles Bewusstsein auf der Grundlage zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, zu analysieren und manche reaktionären Formationen aus Ausdruck eines Bedrohungsgefühls ansehen, als Reaktionen, die sich an das klammern, was ist (oder was sie dafür halten), und zwar auf ganz andere Weise, als wenn das Gegebene einfach als selbstverständlich hingenommen wird. Diesem Bewusstsein fehlt die behagliche Selbstverständlichkeit dessen, was wir Traditionalismus nennen könnten.
Zwar habe ich nicht ausführlich über die verschiedenen Formen des religiösen Fundamentalismus geschrieben, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind und starken Zulauf bekommen haben, z.B. in den USA, im Nahen Osten und Indien, aber ich habe über eine reaktionäre Entwicklung geschrieben, die nach meiner Ansicht Probleme für die Linke aufwirft, nämlich über den Antisemitismus. (Meine Arbeiten über den Antisemitismus sind in Deutschland viel besser bekannt als in den
USA.)
Dieses Thema zu behandeln ist heute vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Antiglobalisierungspolitik besonders wichtig. Dies ist zugegebenermaßen eine schwierige Sache angesichts des Ausmaßes, in dem der Vorwurf des Antisemitismus von der israelischen Regierung und ihren Unterstützern benutzt worden ist, um alle ernsthafte Kritik an der Politik Israels und deren Handeln pauschal zu diskreditieren. Auf der anderen Seite sollte jedoch die Kritik an Israel nicht dazu benutzt werden, die gegenwärtige Ausbreitung des tatsächlichen Antisemitismus zu verschleiern und schon gar nicht zu legitimieren.
Der Antisemitismus unterscheidet sich von anderen essenzialistischen Diskursformen wie z.B. dem Rassismus aufgrund seines scheinbar antihegemonialen, antiglobalen Charakters. Kern des Antisemitismus ist das Konstrukt von den Juden als den Drahtziehern einer mächtigen, geheimen, internationalen Verschwörung. Ich sehe darin eine fetischistische Form des Antikapitalismus. Der Antisemitismus missdeutet die abstrakte Herrschaft des Kapitals – welche die Menschen geheimnisvollen abstrakten Mächten unterwirft, die sie nicht durchschauen und noch weniger kontrollieren können – als die Herrschaft des „internationalen Judentums“. Das Problem, das dies für die heutige Linke aufwirft, ist, würde ich sagen, dass diese Ideologie, obwohl sie von Grund auf reaktionär ist, gleichzeitig als antihegemonial zu erscheinen vermag. Aus diesem Grund hat Bebel, einer der führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie, den Antisemitismus als den „Sozialismus der dummen Kerls“ bezeichnet. Heute könnte man diese Charakterisierung erweitern: Der Antisemitismus ist der Anti-Imperialismus der dummen Kerls geworden. Er ist ein Aufbegehren gegen die vom Kapital geschaffene Geschichte, umgedeutet als jüdische Verschwörung. Man kann dies als ein markantes Unterscheidungsmerkmal des reaktionären vom progressiven Antikapitalismus verstehen.

Sie sagten, dass die Unzulänglichkeiten in Lukács’ Werk über die Verdinglichung Einfallstore für Heidegger geöffnet hätten. In dessen Werk Sein und Zeit, so sagten Sie, gehe Lukács gleich einem Gespenst um, und Heidegger mache große Anstrengungen, um einen Ausweg aus Lukács’ Problematik zu finden. Das hat mich neugierig gemacht. Von welchen Einfallstoren sprechen Sie?

Ich habe das noch nicht völlig durchgearbeitet, aber ich hatte mich dabei auf die ontologische Dimension in Lukács’ Denken bezogen. Es brauchte eine ganze Weile, bis ich die Wichtigkeit dieser Dimension in Lukács’ Ansatz in ihrem vollen Umfang erkannte. Ich hatte ihn so verstanden, dass er Marxens Kategorien als Kategorien der Konstitution des Menschen ansah. Als ich mir den Text wieder vornahm und ihn mehrere Male las, kam ich zu dem Schluss, dass dies nicht notwendigerweise der Fall sei und dass in Wirklichkeit Lukács die Warenform nahezu vollständig unter dem Gdesichtspunkt ihrer Wertdimension betrachtet und dass er dabei die Dimension des Gebrauchswerts zu ontologisieren scheint. Diese Vorstellung, dass unter der gesellschaftlichen Ebene eine ontologische existiere, hat für Heidegger, wie mir scheint, die Tür geöffnet. Früher habe ich den Gegensatz zwischen Lukács und Heidegger wahrgenommen als den Gegensatz zwischen einer gesellschaftlich- und historisch-spezifischen Theorie und dem Versuch, sie vermittelst der Ontologie zu negieren. Heute bin ich zunehmend der Auffassung, dass Lukács’ Anschauung sowohl historisch spezifische als auch ontologische Dimensionen enthält und dass die ontologische Dimension in Lukács’ Denken die Tür für Heidegger und seine reaktionäre Ontologie geöffnet hat.

Das ist interessant, denn man würde nach der Lektüre von Lukács annehmen, dass er vor allem an Erkenntnistheorie interessiert war und dass Heideggers Wendung zur Ontologie ein Bemühen war, die dynamische Betonung des Subjekts in der Begegnung mit dem Objekt zu verändern, sie zu fixieren, festzumachen und stillzustellen, wie es ja tatsächlich eine der Konsequenzen der Wendung zur Ontologie ist. Denn in Heideggers Denken erzeugt die Betrachtung des Seins ein Rätsel, und das Telos seiner Untersuchung ist das Rätsel selbst.

Ich stimme dem zu, und ganz sicher will ich nicht andeuten, dass Lukács und Heidegger im Grunde eins seien. Im Rückblick jedoch glaube ich, dass Lukács, weil er doch nicht so ausschließlich gesellschaftlich und historisch orientiert war, wie ich ihn ursprünglich gelesen hatte, Heidegger gestattete, seine eigene Ontologie einzuschmuggeln.

Wenn Sie über das ontologische Element bei Lukács reden, dann meinen Sie, dass seine Auffassung der Wertform des Kapitals ontologisch ist.

Nein, ich denke schon, dass für ihn der Wert historisch spezifisch ist; aber er liegt sozusagen wie ein Furnier über dem Gebrauchswert. Der Gebrauchswert, so wie Lukács ihn versteht, ist ontologisch – oder jedenfalls erscheint es mir so.

Und das Wort ontologisch, wenn wir es einmal übersetzen wollen, hat es hier, wie Heideggerianer es nennen würden, die Bedeutung von ontisch – einer rohen Existenz gleich einem Stein, ohne jede Beziehung?

Ich meine etwas anderes. Es scheint mir, als habe Lukács eine Vorstellung vom Gebrauchswert als einer qualitativen Dimension des Lebens, einer Dimension, die dem Leben inhärent ist, und dass die quantitative Dimension des Kapitalismus diese qualitative Dimension des Lebens verzerrt und verdunkelt habe – würde man die abstrakten Formen des Kapitalismus beseitigen, könnte die qualitative Dimension des Lebens wiederhergestellt werden. Ich glaube jedoch, der Kapitalismus enthält eine viel kompliziertere Dialektik von Qualität und Quantität. Sowohl Tauschwert als auch Gebrauchswert haben quantitative und qualitative Aspekte, und beide verfügen über emanzipatorische und nicht-emanzipatorische Momente. Darüber hinaus sind, wie bereits erwähnt, im Kapitalismus beide ineinander verflochten – die Dynamik, die den Kapitalismus kennzeichnet, wurzelt in der Dialektik dieser Momente. Die Abschaffung des Kapitalismus führt zu einer Abschaffung des Werts – nicht jedoch auf der Basis einer zugrunde liegenden qualitativen Dimension, sondern auf der Grundlage einer Möglichkeit, die historisch durch die Interaktion der beiden Dimensionen der gesellschaftlichen Formen des Kapitalismus erzeugt wird.

Sie sagen, dass die Kategorien des Kapitals bei Lukács (Tauschwert, Mehrwert, Verdinglichung, Fetischismus etc.) eine Art Furnier, eine Oberfläche bilden, wohingegen Ihr Argument ist, dass diese Kategorien selber eine Praxis darstellen. Im gegenwärtigen Augenblick klingt das wie die Behauptungen von Leuten wie Paolo Virno und Antonio Negri, die von der Revolution als einer Autopóiesis sprechen (im Orig.: autopoietic, dt. ein sich selbst erzeugender Prozess, Selbsterzeugung). Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass Ihre Anforderungen an eine wahrhaft postkapitalistische Ordnung stringenter sind als die anderer, die nämlich glauben, dass die Revolution bereits stattgefunden habe: dass wahrer Internationalismus schon existiere und dass die Unterdrückten von unten her ihren Willen den Führenden schon aufgezwungen hätten.

Nun, das ist bequem.

Genau. Jedenfalls, wie würden Sie Ihre vorhin dargelegte Auffassung von der Auffassung der Autopóiesis unterscheiden?

Es scheint mir, dass die neo-operaistische Auffassung sich in unerwarteter Weise mit der von Lukács überschneidet. In beiden Fällen scheint die Praxis sich auf eine unmittelbarere gesellschaftliche Ebene zu beziehen als diejenige, die von den Kategorien erfasst wird. Diese Kategorien erfassen dann nicht wirklich die Formen des gesellschaftlichen Lebens selbst, sondern in erster Linie Erscheinungsformen eines von der Praxis gestalteten Lebens. Die Praxis scheint sich hier außerhalb der Kategorien zu befinden, wohingegen ich so argumentiere, dass die Kategorien selber die Formen der Praxis erfassen.
Was nun den Begriff der Autopóiesis betrifft, würde ich so argumentieren: Das, was im Kapitalismus als autós bestimmt werden kann, ist das Kapital selber. In seiner dialektischen Entfaltung, in welcher Geschichte und Logik sich in einer historisch spezifischen Konfiguration verschlingen, erwirbt das Kapital die Attribute dessen, was Marx ein „automatisches Subjekt“ nennt. Nietzsche drückt das meiner Ansicht nach in fetischisierter Form in seiner Figur des Demiurgen (im Orig.: demiourgos) aus, als Erzeuger eines fortwährenden Prozesses von Schöpfung und Zerstörung. Es ist das Kapital, dieses merkwürdige, sich selbst unaufhörlich fortzeugende und alles unterminierende Handeln, das meiner Ansicht nach zu Recht als autopoetisch bezeichnet werden kann.
Was besagt das nun für die Idee der menschlichen Handlungsmacht. Zum ersten entsteht Handlungsmacht nicht einfach aus dem Nichts heraus. Diese Vorstellung bleibt einem klassischen (bürgerlichen) Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit verhaftet (heutzutage häufiger gefasst als Dualismus von Handlung und Struktur). Der Begriff der Handlungsmacht selbst ist historisch verbunden mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, welche frühere, stärker eingebettete Formen zwischenmenschlicher Beziehungen samt den mit ihnen verbundenen Wertordnungen unterminiert hat. Die Ironie dabei ist, dass in dem Maß, in dem individuelles Handeln historisch entsteht, dies in einem Rahmen geschieht, der gleichzeitig historisches Handeln sehr stark einengt.
Zum zweiten müssen wir die Vorstellungen und Werte gesellschaftlicher Akteure als gesellschaftlich und historisch konstituiert betrachten. Eine große Anzahl subjektiver Formen ist mit verschiedenen Dimensionen und Momenten des Kapitalismus verbunden. Unter ihnen gibt es subjektive Formen, die über den Kapitalismus hinausweisen. Diese Formen sind weder völlig kontingent, noch sind sie schon im Vorhinein bestimmt. Weder bewegt sich das Kapital gleichsam automatisch über sich selbst hinaus, noch wird Subjektivität, die über das Kapital hinausweist, spontan erzeugt.
Es verhält sich vielmehr so, dass das Kapital die Bedingungen der Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits seiner selbst zu erzeugen vermag, aber die Dialektik des Kapitals ist keine transhistorische Dialektik der Geschichte. Das Kapital wird sich nicht selbst in etwas anderes verwandeln. Die Logik des Kapitals kann als autopoetisch angesehen werden, aber die Revolution ist genau das nicht. Die unaufhörliche, sich sogar beschleunigende und von den Futuristen so geliebte Bewegung ist die des Kapitals, aber Revolution bedeutet die Kontrolle dieser Bewegung. Sie beseitigt die Zwänge, welche das Kapital autopoetisch machen, und gibt so einer Gesellschaft Raum, die auf historischem Handeln (historical agency) gründet.
Mit seiner Metapher von der Revolution als dem Ziehen der Notbremse in einem führungslos dahinrasenden Zug brachte Benjamin eine ähnliche Vorstellung zum Ausdruck. Ich stimme dem Bild vom Kapitalismus als einem dahinrasenden Zug zu, obwohl ich meine, zur Revolution bedürfe es mehr als nur des Ziehens einer Notbremse.

Könnten wir das Gespräch damit beschließen, dass wir ein letztes Mal über die geistige Arbeit sprechen? Ausgehend davon, wie wir das Thema der Handlungsfähigkeit (agency) und der unpersönlichen und undurchdringlichen Kapitallogik behandelt haben – gibt es eine Chance, dass wir aus Ihnen eine Idee über die Rolle und Funktion des Intellektuellen herauslocken könnten? Was kann der Intellektuelle dazu beitragen, eine Bewegung vom Kapitalismus hin zu einem gerechteren System zu bewirken?

Lassen Sie mich das in einer etwas weiter ausholenden Weise ausführen, denn der Ausdruck „geistige Arbeit“ ist dazu angetan, Dinge miteinander zu vermischen, die tatsächlich voneinander verschieden sind.
Ein großer Teil der intellektuellen Arbeit wird zurzeit proletarisiert und ist nicht deshalb befriedigender als die fordistische Fabrikarbeit, nur weil die Menschen ihr Hirn anstelle ihres Bizeps benutzen. Ich glaube, dass die meisten mit geistiger Arbeit befassten Menschen in Wirklichkeit mit einer sehr einseitigen, eindimensionalen Arbeit beschäftigt sind, einer Arbeit, die sehr beschränkt und unbefriedigend ist.
In Anbetracht dessen scheint mir die Rolle des kritischen Intellektuellen darin zu bestehen, dass er das, was da vor sich geht, zu erfassen versucht. Ungeachtet aller Differenzen, die ich mit David Harvey, Giovanni Arrighi oder Robert Brenner haben mag, so respektiere ich doch ihre Bemühungen, die Gegenwart historisch zu verstehen.
Nur wenn wir die Gegenwart als Geschichte verstehen, können wir eine Vorstellung davon gewinnen, welche politischen Projekte und Initiativen dazu beitragen können, eine Bewegung zu schaffen, die über den Kapitalismus hinausweist, und welche von ihnen Irrwege sind. Zumindest könnte die Arbeit des kritischen Analysierens ein negativer Wegweiser sein, ein Wegweiser, der uns zeigt: „Das führt zu nichts“, oder: „Das hier ist gefährlich“, oder: „Das sind einige der unvorhergesehenen Konsequenzen“, Konsequenzen einer, sagen wir, sehr eng gefassten Identitätspolitik, Konsequenzen, die sich sehr von dem unterscheiden, was die Menschen, die solche Identitätspolitik betreiben, ursprünglich beabsichtigt haben.
Auf der anderen Seite müssen kritische Intellektuelle, die sich mit dem Kapitalismus befassen, das Aufkommen neuer Sichtweisen der Welt ernst nehmen, nicht um auf diesen Zug aufzuspringen oder um sie nur deshalb zu übernehmen, weil sie neu sind, sondern vielmehr, um darin zumindest die Zeichen eines Wandels oder einen Ausdruck von Unzufriedenheit mit älteren Formen von Gesellschaftskritik und sozialen Bewegungen zu erkennen. (Zum Beispiel wurde die klassische Arbeiterbewegung nicht nur durch die Kapitalisten im Übergang zum Post-Fordismus geschwächt, sondern auch weil sie von einer großen Zahl von Menschen auf der Alltagsebene als unzureichend empfunden wurde.)
Heißt das, die Arbeit des kritischen Intellektuellen gleicht der des Sisyphus? Mag sein, aber ich glaube es nicht. Ich weiß, das ist keine besonders optimistische Art, unser Gespräch zu beenden, das mir sehr gefallen hat, aber ich bin auch nicht sicher, ob die Zeiten viel Anlass für Optimismus geben.

Ja, schon, aber wie können wir sicher sein, dass sie es nicht doch tun?

Anmerkung: Wir danken Silvia Lopez, Mark Loeffler und Neil Larsen für ihre unschätzbaren Kommentare sowie Gabe Shapiro für ihre Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts.

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Das Gespräch ist erschienen in: South Atlantic Quarterly 108:2, Spring 2009 bei Duke University Press. Man kann es im Original nachlesen unter postone_brennan_saq2009.pdf

Übersetzung: Hermann Engster
Der Übersetzer dankt Frank Engster und Norbert Trenkle für ihre Hilfe bei der Klärung terminologischer Fragen und insbesondere Christine Achinger für ihre sehr wertvollen Verbesserungsvorschläge zur Übersetzung.

Anmerkung zur Übersetzung: Postone und sein Gesprächspartner verwenden öfter den Terminus agency. Dieser umfasst ein breites Bedeutungsspektrum im Wortfeld Handeln/Handlung, und es ist oft schwierig, bei der Verwendung die jeweils gemeinte Bedeutung genau zu treffen; deshalb ist in solchen Fällen der englische Terminus in Klammern angefügt.

Die krisis dankt Moishe Postone und dem Verlag für die Erlaubnis zur Übersetzung und zur Veröffentlichung.

Copyright 2009, Duke University Press. Reprinted by permission of the publisher.


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