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Der Pump erfordert unendliche Schmiermittel

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle liefern eine unorthodoxe Krisenanalyse des Kapitalismus: Wer liegt eigentlich wem auf der Tasche?

Rezension von Holger Schatz, WOZ 26/2012

Seit dem Fall der Investment Bank Lehmann Brothers vor vier Jahren und den darauffolgenden Turbulenzen ist erstaunlich viel Bewegung in das zuvor doch recht statische Diskursfeld der Kapitalismusanalyse gekommen. Hatte nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz eine neoliberal auftrumpfendende Markteuphorie jahrelang die Debattenhegemonie inne, so erscheinen heute die Fürsprecher einer sozialen, vor allem aber regulierten Marktwirtschaft nicht mehr als die einsamen Rufer im Walde. Bis in die deutlich verunsicherte Zunft der Volkwirtschaftslehre hinein scheint sich dabei ein Konsens herauszubilden, dass die Zukunft des Kapitalismus nicht mehr auf entfesselten Finanzmärkten entschieden werden dürfe. „Wer erlöst uns vom Kapital?“ titelte die Zeit bereits vor Jahren, doch genau genommen fragt der neue Zeitgeist „Wer erlöst uns vom Finanzkapital?“.

Denn die Analyse, auf die man sich derzeit zu einigen scheint, sieht in den nachweislich sinkenden Investitionsquoten infolge der zunehmenden Abwanderung von Kapital aus der „Realwirtschaft“ in die Anlagesphären der Finanzmärkte die Ursache ökonomischer Zerfallserscheinungen.

Nach der Lektüre der soeben erschienenen Studie „Die große Entwertung“ erscheint diese Sicht im besten Falle als eine Beruhigungspille, die von schonungsloseren Infragestellungen entlastet, im schlimmsten Falle als eine gefährliche Ideologie, die auf der Suche nach personifizierbaren Ursachen Raffgier und damit Sündenböcke zu finden droht. Die Autoren Ernst Lohoff und Norbert Trenkle liefern darin überzeugende Argumente dafür „warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind“.

In gewisser Weise erfährt dabei das viel verschmähte „fiktive Kapital“, wie die beiden Redakteure der postmarxistischen Theoriezeitschrift Krisis spekulativ angelegtes Kapital bezeichnen, sogar eine Rehabilitation. Denn die Vorkapitalisierung  zukünftig stattfindender Wertschöpfung, auf welche der Kauf von Aktien, Anleihen, Kreditrückzahlungsverpflichtungen, Derivaten usw. zielt, wurde faktisch seit den 1970er Jahren immer mehr zum Motor einer ins Stocken geratenen Wirtschaftsweise, die zunehmend an einem ihrer zentralen Selbstwidersprüche krankt. Unter den spezifischen, von Marx als „verrückten Formen“ bezeichneten kapitalistischen Produktionsprämissen führt jede Steigerung der Produktivität, die eine Einspaarung von angewandter Arbeit nach sich zieht, über kurz oder lang zu einer Verminderung des Werts, der pro Produktionseinheit geschaffen werden kann. Das Ergebnis ist paradox: Mehr Güter in weniger Zeit bei schwindender Wertsubstanz des einzelnen Gutes. Am Beispiel des Niedergangs der Solarzellenproduktion lässt sich dies aktuell nachzeichnen. Nun kann freilich der relative Verlust durch eine absolute Mengenausweitung kompensiert werden. Genau dies gelingt den Autoren zufolge seit den 1970er Jahren jedoch immer weniger, weshalb eine – freilich politisch flankierte – Entfesselung der finanzindustriellen Produktion von Eigentumstiteln aller Art in die Breche springen konnte. Gezeigt wird dabei eindrücklich, dass und wie die Wandlung zu einem inversen Kapitalismus entgegen gängiger Annahmen einer Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft, diese in begrenztem Maße kurzfristig durchaus immer wieder befeuern kann.

Dieses Verschieben des Selbstwiderspruchs des Kapitalismus geschieht allerdings nicht nur um den Preis immer schneller platzender Spekulationsblasen. Die Mehrwertschöpfung auf Pump erfordert immer mehr Schmiermittel. In der Folge explodieren Staatsschulden während die Zentralbanken die überforderte private Finanzindustrie als Feuerwehr ablösen muss. Über die sozialen Folgen dieser  „Teilverstaatlichung der verbrannten kapitalistischen Zukunft“ lässt die Darstellung keinen Zweifel aufkommen. Doch wo die logische Grenze der Blasenökonomie liegen soll bleibt ebenso nebulös wie diese selbst.

Am Ende der fulminanten Darstellung keimt doch etwas Hoffnung auf. Intelligenz, Wissen, soziale Kooperationsbeziehungen, Herstellung von notwendigen Gütern mit immer weniger Aufwand. Alles vorhanden. Es müsste nur entfesselt, angeeignet und somit „entwertet“ werden. Wo also ist das Problem?

Ernst Lohoff / Norbert Trenkle (2012): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind, Münster Unrast-Verlag, 304 S., Broschur, 18 Euro

 


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