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Ampel, Migration und Menschenrecht

von Ernst Lohoff

Was den Umgang mit den bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen und deren Angehörigen angeht, fanden Menschenrechtsorganisationen durchaus lobende Worte für den Koalitionsvertrag. So wertete Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des hessischen Flüchtlingsrates, den Plan, dass gut integrierte Jugendliche künftig nach drei Jahren Aufenthalt und bis zum 27. Lebensjahr ein Bleiberecht beantragen können, „als enorme Verbesserung‟. Und auch die in Aussicht stehenenden Änderungen beim Familiennachzug werden von Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl begrüßt. Die Ampelkoalition will nicht nur die von der Groko verfügten rigiden Einschränkungen wieder zurücknehmen; künftig sollen auch Minderjährige, die Aufnahme in Deutschland fanden, Geschwister nachholen können. Das gab es bis dato noch nicht.

Weit weniger erbaulich sind die Aussagen des Koalitionsvertrags zum Umgang mit neuen Flüchtlingen. Immerhin wird die Notwendigkeit staatlich finanzierter Seenotrettung betont. Als Menschenrechtspartei könnten die Grünen auch schwerlich der derzeitigen zynischen EU-Praxis zustimmen, massenhaft Menschen abschreckungshalber ertrinken zu lassen. Das würde den „Markenkern‟ der Grünen schwer beschädigen und für dessen Wahrung zeigen auch die beiden Koalitionspartner Verständnis. Ansonsten ändert sich aber wenig an der Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. So hält die Ampelkoalition hält an der Kasernierung von Asylbewerbern in Massenunterkünften fest. Und wie schon die Vorgängerregierung will sie sich darum bemühen, durch Migrationsabkommen mit Drittstaaten Flüchtlinge von der EU fernzuhalten. Außerdem ist im Koalitionsvertrag von einer „Rückführungsoffensive‟ die Rede.

Die Migrationspolitik der Ampel ist darauf ausgelegt, die Abschottung gegen illegalisierte Einwanderung mit einer Öffnung Deutschlands für legale Einwanderung zu verbinden. Der Übergang zu einer moderne, auf den hiesigen Arbeitskraftbedarf abgestimmte Einwanderungspolitik bildet dabei den programmatischen Kern der neuen Migrationspolitik. Das Bündnis aus SPD, FDP und Grünen steht für die Schleifung der rechtlichen und identitätspolitischen Hindernisse für den Import benötigter Arbeitskräfte. Das heißt freilich nicht, dass die Zeit der rassistischen Deutschtümelei und von dubiosen Leitkulturdebatten vorbei wäre. Unabhängig davon, welche praktische Politik die neue Regierung treibt, die Grünen symbolisieren nun einmal „Multikulti‟ und das allein löst bei Teilen der Wahlbevölkerung identitätspolitische Reflexe übelster Sorte aus. Die aber will neben der AFD offenbar auch die größte Oppositionspartei unbedingt bedienen. Die Antwort des Unionsfraktionschefs Ralph Brinkhaus auf die Frage des Deutschlandfunks, wie sich ein Jamaika-Vertrag von dem Koalitionsvertrag der Ampel unterschieden hätte, war in der Hinsicht leider aufschlussreich: „Wir hätten sicherlich nicht diese brutale Offenheit im Bereich Migration gehabt. Also was da drin steht, da haben wir ganz, ganz große Sorge, dass das ein Pull-Faktor für ganz, ganz viel illegale Migration sein wird.‟ Zu keinem anderen Thema fiel Brinkhaus’ Kritik am Koalitionsvertrag auch nur annäherend so vehement aus wie in Sachen Migration. An diesem Punkt sei der Koalitionsvertrag „sicherlich ganz, ganz, ganz weit links‟.

Der Streit um die Flüchtlingspolitik ist zudem mit einem weit brisanteren Konflikt verwoben, der die Ampelkoalition auseinandertreiben könnte und vor allem die Grünen dazu zwingen dürfte, Farbe zu bekennen. Die Menschenrechtspartei übernimmt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt mit die Regierungsverantwortung, in der der Westen sich im Umgang mit der übrigen Welt völlig rat- und orientierungslos zeigt und gegenüber den autoritären Regimen in Russland und China in die Defensive geraten ist. Der überstürzte Abzug aus Afghanistan war nur der Schlusspunkt einer Serie von Niederlagen und Pyrrhussiegen, die spätestens mit dem Irakkrieg von 2003 begann und deren bislang dunkelstes Kapitel die Niederschlagung des Arabischen Frühlings und der syrische Bürgerkrieg waren. Wenn trotz der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Übermacht des Westens so viele Weltregionen sich inzwischen entweder in den Händen von Warlords oder von autoritär-kleptokratischen Regimen befinden, dann zeigt das schlagend an, was von der alten Doktrin, eine globalisierte Marktwirtschaft fördere die Demokratisierung der Welt und die Achtung der Menschenrechte, zu halten ist. Offensichtlich ist das Gegenteil richtig.

Realpolitik‟ kann sich mit dem Zustand arrangieren, dass Marktwirtschaft für weite Teile der Welt Mafiotisierung und Friedhofsruhe bedeuten. Sie verabschiedet sich de facto vom westlichen Sendungsbewusstsein, auch wenn sie nach innen nach wie vor von „westlichen Werten‟ schwadronieren mag. Machthaber wie Putin, die mit für die Flucht von Millionen von Menschen aus Syrien verantwortlich sind und einen Präventivkrieg gegen die Opposition im eigenen Land führen, bleiben die natürlichen Dialogpartner. Demokratische Legitimationsfragen hin, Wahlbetrug her: Geschäft ist Geschäft und die Interessen der Claiminhaber und der nach Rohstoffen gierenden kapitalistischen Kernstaaten lassen sich schließlich durchaus unter einen Hut bringen. Die Grünen befinden sich dagegen in der Zwickmühle. Sie können das Problem der Menschenrechte nicht als Luxusfrage behandeln und den universellen Anspruch einfach entsorgen; dass sie die Warengesellschaft mit ihren Standortinteressen als natürliches Bezugssystems politischen Handelns als unhintergehbar voraussetzen, macht sie aber zum Teil der herrschenden Weltunordnung, die für Abermillionen offene Repression und Entmündigung bedeutet. Selbst Bärenkräfte nützen wenig, wenn man ein Handtuch aufheben will, auf dem man mit beiden Beinen steht.

Das wissen die Machthaber, die den Westen herausfordern, ganz genau und darauf beruht ihr wachsendes Selbstbewusstsein. Was ist leichter, als den Westen, der das Asylrecht hochhält, aber keine Flüchtlinge aufnehmen will, vorzuführen, wie das Lukaschenko derzeit an der polnisch-belorussischen Grenze tut? Von den Sanktionen der EU hart getroffen und auf der Ebene der Interessenkonkurrenz heillos unterlegen, sucht sein Regime deren wunden Punkt. Die Bereitschaft der EU-Staaten für die Verteidigung der Menschenrechte einen Preis zu zahlen, hält sich in sehr engen Grenzen und ist darüber hinaus in den verschiedenen Ländern und politischen Lagern höchst unterschiedlich ausgeprägt ist. Genau darauf setzt Lukaschenko und vor allem sein Lehnsherr in Moskau.

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass in dieser Situation im mächtigsten EU-Land ein Regierungswechsel stattfindet und ausgerechnet die Partei das Außenministerium übernimmt, die wie keine andere das moralische Gewissen verkörpert. Wenn Putin ausgerechnet jetzt die russische Justiz anweist, mit Memorial, der größten und ältesten Menschenrechtsorganisation Russlands, den Garaus zu machen, dann dürfte das nicht nur innenpolitische Gründe. Das ist auch ein Signal an Berlin und die neue Hausherrin im Außenministerium, Annalena Baerbock. Sie soll in die Zwickmühle gebracht werden, noch bevor sie überhaupt ihr Amt antritt.


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