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Die Leistungsdiktatur (Rezension)

Rezension von Hermann Engster

Peter Samol: Die Leistungsdiktatur. Wie der Konkurrenzdruck unser Leben zur Hölle macht. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2021, 234 S., 16,80 € [1]

Der Titel ist formuliert gleich der Überschrift zu einer Erzählung, und das Possessivum „uns“ nimmt Leserin und Leser sogleich in diese hinein – tua res agitur. Als Erzählung über uns selbst ist Samols Text angelegt: nicht als deduktive Explikation von der abstrakten Höhe der Theorie, sondern induktiv vom Schicksal des gegenwärtigen Menschen ausgehend. Wie der barocke Schelmenroman Simplicius Simplicissimus des Christoffel von Grimmelshausen, der die Fährnisse seines Helden in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges erzählt, schildert Samol das Lebensschicksal des heutigen Menschen von dessen Kindheit bis zum (endlich) erreichten Ruhestand. Er tut dies, orientiert an den Kategorien der fortentwickelten Marx’schen Theorie, hier der Wertkritik, mit scharfem analytischem Instrumentarium und einer Realitätsfülle, die dem Simplicissimus an Farbigkeit in nichts nachsteht. Trotz der Brutalitäten des Dreißigjährigen Krieges gibt es bei Grimmelshausen manches zu lachen, bei Samol freilich nichts, und will es angesichts der abstrusen Beispiele sich einmal einstellen, bleibt es einem gleich im Halse stecken.

Erscheinen die Gräuel jenes Krieges noch als Ausnahmen vom damaligen gewohnten Leben, so sind die hier geschilderten Absurditäten nichts andres als unsre Normalität selbst. Die Vier Apokalyptischen Reiter der Moderne – Konkurrenzdruck, Profitmaximierung, Effizienzsteigerung, Selbstoptimierung – jagen den Menschen vor sich her. Kaum geboren, mutiert dieser zur Ware Arbeitskraft, die sich unentwegt selbst optimieren muss, propagandistisch verklärt mit der Phrase vom „lebenslangen Lernen“, um sich als marktgerechten Leistungsträger feilzubieten und im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf sich durchzusetzen. Konkurrenz, wenden manche ein, habe es schon immer gegeben, aber sie verwechseln sie mit Rivalität. Die gab es durchaus, in der Antike, im Mittelalter. So heißt es in Homers Ilias als Maxime der Aristokratie: Immer der Beste zu sein und voranzustreben den andern (VI. Gesang, V. 208). Konkurrenz hingegen ist ein Phänomen der Neuzeit, das mit der Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise einhergeht und eine ihrer entscheidenden Triebkräfte ist. Konkurrenz ist, anders als Rivalität, eliminatorisch: Sie zielt nicht nur darauf ab, den andern zu übertreffen, sondern ihn vom Markt zu verdrängen.

Samol entfaltet diesen Prozess entlang den individuellen Lebensetappen: Kita, Schule, Ausbildung, Bewerbungsprozedur, Praktikum, Zeitarbeit, Minijob, Evaluierung als high performer oder low performer und dem ganzen Parcours der Menschendressur samt, wegen Hürdenreißens, Einweisung in die Erziehungsanstalten des Sozialstaats zwecks Neuzurichtung für den Markt. Jungen Eltern, die das lesen, möchte dabei der Angstschweiß ausbrechen. Der Rezensent, geborgen im ökonomisch gesicherten Rentnerdasein, verspürt eine kolossale Erleichterung darüber, diesen Zumutungen nicht mehr ausgesetzt zu sein.

Man braucht das Buch nicht von Anfang an zu lesen, sondern kann da, wo es für einen interessant erscheint, einsetzen. Am Schluss gibt Samol eine knappe eingängige Darlegung seiner theoretischen Grundlage. All dies ist in einem höchst angenehm zu lesenden, weil klaren und flotten Stil geschrieben. – Der Göttinger Rezensent schließt mit einer Empfehlung seines Lokalheiligen Georg Christoph Lichtenberg: „Wer zwei Paar Hosen hat, versetze eines und kaufe dieses Buch.“

 


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