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Hartz IV-Reform: Viel Peitsche und wenig Zuckerbrot

von Peter Samol

Dieser Artikel erschien zuerst in leicht veränderter Form in der Jungle World Nr. 3/2021 vom 15.01.2021

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts schränkte im November 2019 die Möglichkeit ein, Hartz-IV-Bezieher durch Abzüge vom Regelsatz zu sanktionieren. Ausgehend von diesem Urteil wollen vier Landesarbeitsminister das Hartz-IV-System reformieren. In ihrem Entwurf ist unter anderem auch wieder die Möglichkeit einer hundertprozentigen Kürzung der Unterstützungszahlung vorgesehen

Eine qualitative Verbesserung sieht anders aus. Zum 1. Januar passte die Bundesregierung den Hartz-IV-Regelsatz ausgehend von einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe an. Er stieg für alleinstehende Erwachsene auf 446 Euro – 14 Euro mehr als zuvor. Für Jugendliche stieg der Betrag um 45 Euro, für Kinder um einen, für Kleinkinder um 33 Euro. Die alte Forderung der Sozialverbände, den Regelsatz auf mindestens 600 Euro anzuheben, wurde damit abermals ignoriert.

Auch wenn es sich um die bisher größte Anhebung des Regelsatzes für Erwachsene handelt, reicht das Geld immer noch nicht für ein soziales und menschenwürdiges Leben. Ein Viertel aller Leistungsbezieher kann sich davon nicht angemessen ernähren, ein knappes Fünftel die eigene Wohnung nicht ausreichend heizen, wie der Soziologe Oliver Nachtwey in seinem Buch »Die Abstiegsgesellschaft« feststellt. Daran dürften die spärlichen Erhöhungen nur wenig ändern. Außerdem werden viele Bedürfnisse gar nicht berücksichtigt. So werden etwa Aufwendungen für Mobilität, also Geld für Fahrkarten, genauso wenig einberechnet wie Geschenke für Kindergeburtstage.

In der Pandemie fehlen außerdem viele nichtstaatliche Hilfen. Im März gingen Medienberichten zufolge vielen Tafeln aufgrund von Hamsterkäufen die Lebensmittel aus. Dabei ist es bereits ein Skandal, dass Menschen überhaupt auf sie angewiesen sind. Ende der neunziger Jahre wurden sie eigentlich zu dem Zweck aufgebaut, obdachlose und drogenabhängige Menschen niedrigschwellig zu versorgen. Nach der Einführung des umgangssprachlich Hartz IV genannten Arbeitslosengelds II (ALG II) im Jahr 2005 griffen dann aber auch immer mehr Langzeitarbeitslose auf die Lebensmittel der Tafel zurück.

Obwohl der Satz ohnehin schon viel zu niedrig ist, besteht darüber hinaus die Möglichkeit, ihn zu kürzen, wenn Leistungsbezieher ihren Mitwirkungs-, Melde- oder Verhaltenspflichten nicht nachkommen. Es ist noch nicht allzu lange her, da konnte er sogar komplett gestrichen werden, selbst wenn das für die Betroffenen Hunger und Wohnungslosigkeit zur Folge hatte. Diese Praxis wurde erst durch ein höchstrichterliches Urteil vom 5. November 2019 stark eingeschränkt. Damals kam der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts einstimmig zu dem Schluss, dass Sanktionen in Höhe von über 30 Prozent des Regelsatzes unter bestimmten Voraussetzungen verfassungswidrig seien. Es mussten aber sage und schreibe 15 Jahre vergehen, bis das höchste Gericht zu dieser Erkenntnis kam. Das Bundesarbeitsministerium unter der Leitung von Minister Hubertus Heil (SPD) wies am Tag darauf alle Jobcenter an, keine Sanktionen mehr auszusprechen, die 30 Prozent überschreiten.

Das Bundesverfassungsgericht stellte seinerzeit fest, dass das Existenzminimum zu schützen sei. Allerdings blieb es inkonsequent, und zwar nicht nur, weil es weiterhin Kürzungen bis zu 30 Prozent erlaubte. Auch Kürzungen, die über die 30 Prozent hinausgehen und sogar eine Totalsanktionierung sind in Einzelfällen weiterhin möglich. Ein solcher Fall kann eintreten, wenn ein Leistungsbezieher eine angebotene »zumutbare Arbeit« ohne »wichtigen Grund« und »willentlich« ablehnt. »Zumutbare Arbeit« ist in der gängigen Praxis der für die Hartz-IV-Empfänger zuständigen Jobcenter jede Arbeit, die nicht den gesetzlichen, tariflichen oder arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen zuwiderläuft und der keine persönlichen Gründen entgegenstehen. Darunter zählen unter anderem fehlende körperliche und geistige Eignung sowie die Betreuung eines Kindes oder die Pflege Angehöriger. Im Zweifelsfall müssen die Betreffenden selbst nachweisen, dass die Stelle, die sie antreten sollen, ihnen nicht zumutbar ist. »Der Gesetzgeber wäre also bei einer Neufassung der Sanktionsregelungen nicht grundsätzlich daran gehindert, über 30 Prozent hinausgehende Sanktionen vorzusehen«, folgerte der Richter Claus-Peter Bienert seinerzeit aus dem Urteil. Lediglich die derzeitige »starre Abfolge ›30, 60, 100 Prozent‹« sei verfassungsrechtlich unzulässig, schrieb er damals.

Aber bereits bei einem Abzug von 30 Prozent unterschreitet die Leistung das Existenzminimum – denn diesem soll ja bereits der volle Regelsatz entsprechen. Die Sanktionsmöglichkeiten sind der Disziplinierungsfunktion des Hartz-IV-Systems geschuldet. Schließlich sollen Hartz-IV-Empfänger dazu gezwungen werden, alles zu tun, um möglichst schnell wieder Arbeit zu finden.

Am Gesetz selbst wurde bislang nichts geändert. Im November 2020 drängten der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Grünen und die FDP auf eine Umsetzung des Urteils. Vier den Unionsparteien angehörende Arbeitsminister, nämlich die Bayerns, Nordrhein-Westfalens, Baden-Württembergs und Mecklenburg-Vorpommerns, fordern nun in einem Eckpunktepapier die Bundesregierung auf, die Sanktionen auf der Grundlage des Urteils neu zu regeln. Es soll im Gesetzestext selbst festgehalten werden, dass die Leistungen um nicht mehr als 30 Prozent gemindert werden dürfen; es soll eine Härtefallprüfung geben und Sanktionen sollen mit sofortiger Wirkung wegfallen, sobald die fehlende Mitwirkung erbracht wurde. Der Tenor des Papiers lautet: Das Prinzip »Fordern und Fördern« habe sich zwar insgesamt bewährt, es brauche aber mehr »positive Anreize«, um die Akzeptanz von Hartz IV in der Bevölkerung zu erhöhen. Außerdem sollen die »Leistung und Lebensleistung« der Arbeitsuchenden stärker als bisher berücksichtigt werden. Zurzeit muss man nämlich bis auf ein kleines Schonvermögen alle Ersparnisse aufbrauchen, bevor man Anspruch auf ALG II hat.

Nach Auffassung des nordrhein-westfälischen Arbeitsministers Karl-Josef Laumann (CDU) bedeutet eine Anerkennung der Lebensleistung, »dass die Menschen nicht jeden selbst verdienten Groschen, den sie über die Jahre abgezwackt haben, aufbrauchen müssen, bevor sie Anspruch auf staatliche Hilfe bekommen.« Das sei nicht gerecht und motiviere auch nicht, privat für den Ruhestand oder schlechte Zeiten vorzusorgen. Laumann schlägt ferner höhere Freibeträge für das Einkommen von Hartz-IV-Beziehern vor. Das würde sogenannten Aufstockern zugute kommen, also jenen, die ein Einkommen haben, das so niedrig ist, dass sie auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete, sind laut Laumann in der Bevölkerung Ängste vor einem schnellen Abrutschen in den Bezug von Hartz IV sehr verbreitet. Das alles trage zum schlechten Image der Grundsicherung bei.

Allerdings sprechen sich die vier Landesminister in ihrem Eckpunktepapier auch ausdrücklich für zusätzliche und härtere Strafen für jeden aus, der sich den Mitwirkungspflichten »beharrlich verweigert«. Darunter verstehen sie, »dass die leistungsberechtigte Person entweder durch wiederholte Verstöße, durch entsprechende Äußerungen gegenüber dem Jobcenter oder gegenüber Dritten oder auf andere Weise zu erkennen gibt, dass sie bewusst und nachhaltig nicht bereit ist, ihren Mitwirkungsverpflichtungen zu entsprechen«. Für diese Menschen sehen sie eine vollständige Kürzung der Leistungen vor. Und das, obwohl es doch »in einem Sozialstaat undenkbar, unzulässig und verfassungswidrig ist, soziale Hilfe komplett zu versagen und Bedürftige gegebenenfalls hungern zu lassen«, wie Henrik Müller von der Gewerkschaft Verdi seinerzeit anlässlich des Urteils festgestellt hat.

Wie Anfang Januar bekannt wurde, strebt auch der Bundesarbeitsminister eine umfassende Reform an. Einem Referentenentwurf zufolge sollen unter anderem in den ersten zwei Bezugsjahren Mietkosten vor einer Überprüfung verschont und Vermögen bis zu einer bestimmten Höhe nicht angerechnet werden.


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