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Wer wird alles Millionär? Ursachen und Konsequenzen des aktuellen Teuerungsschubs

von Ernst Lohoff

veröffentlicht in der Zeitschrift OXI 2/22 (www.oxiblog.de [1])

Inflationäre Entwicklungen können ihre Ursachen entweder in der Welt der Güterproduktion haben oder in der monetären Sphäre. Beide Typen von Teuerung unterscheiden sich grundlegend. Von der Güterseite ausgehende Teuerungen bleiben in dreifacher Hinsicht begrenzt. Zum einen steigen die Preise nur für bestimmte Produktgruppen. Zum anderen bleibt die Teuerung meist ein zeitlich begrenztes Phänomen. Und schließlich sind dem Preisanstieg quantitativ Grenzen gesetzt. Bei Teuerungen, die von der monetären Seite ausgehen, fallen diese drei Limitierungen weg. Sie betreffen die Preise in sämtlichen Branchen, sind irreversibel und es existiert keine prinzipielle Obergrenze. Solche Teuerungsprozesse können das Ausmaß einer Hyperinflation annehmen.

In den 1970er Jahren wiesen alle kapitalistischen Kernstaaten hohe Inflationsraten auf. Dagegen setzte mit den Reaganomics eine lange Phase niedriger Inflationsraten ein. Diese fand 2021 ein abruptes Ende. Lag laut Statistischem Bundesamt das Niveau der Verbraucherpreise im Dezember 2020 noch um 0,3 Prozent niedriger als im Vergleichsmonat des Vorjahres, so meldete die gleiche Behörde ein Jahr später 5,3 Prozent Teuerung. In den USA stieg die Inflationsrate im gleichen Zeitraum von 1,2 auf 7,0 Prozent, der höchste Stand seit 1982.

Der aktuelle Inflationsschub wurde durch Verwerfungen aufseiten der Güterproduktion ausgelöst. Ein Indiz dafür ist die Schlüsselrolle, die einer kleinen Gruppe von Verbrauchsgütern zukommt. Das Anziehen der Inflation geht insbesondere auf sprunghaft gestiegene Energiekosten zurück. Im Gefolge des Wirtschaftseinbruchs und des damit sinkenden Energieverbrauchs war 2020 der Rohöl- und Gaspreis noch eingebrochen; mit der wirtschaftlichen Erholung schossen beide 2021 kräftig nach oben. Der Heizölpreis lag im Oktober doppelt so hoch wie ein Jahr zuvor. Benzin wurde um 35 Prozent teurer und Erdgas immerhin noch um 7,4 Prozent. Neben den Energiekosten war vor allem das Reißen von Lieferketten für den kräftigen Preisanstieg verantwortlich. Die Pandemie förderte zutage, wie extrem störanfällig die Fertigungsabläufe aufgrund der immer absurdere Formen annehmenden transnationalen Zergliederung von Produktionszusammenhängen geworden sind. Nach einer Umfrage des Münchner Ifo-Instituts klagten im Dezember rund 82 Prozent der deutschen Industrieunternehmen über Engpässe bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. Die Auftragsbücher der Unternehmen waren zwar voll, die Kapazitäten ließen sich aber nicht wie gewohnt nutzen.

Verschwände das Corona-Virus über Nacht, könnte sich die Lage allmählich wieder normalisieren und der inflationäre Druck ließe nach. Wahrscheinlich ist allerdings, dass sich die Lieferkettenprobleme zuspitzen. In China werden erste Fälle der Omikronvariante gemeldet und zu allem Überfluss stehen die Olympischen Winterspiele ins Haus. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, dass sich die Pekinger Führung gezwungen sieht, abermals die Wirtschaft ganzer Regionen herunterzufahren – mit verheerenden Folgen für die globale Logistik.

Den offiziell für die Sicherung der Preisstabilität zuständigen Institutionen, den Notenbanken, stehen heute vor allem zwei Instrumente zur Verfügung: Sie können die Leitzinsen erhöhen. Und sie können das »Quantitative Easing« zurückfahren, also den Aufkauf von Wertpapieren drosseln. Die Notenbanken sind aber weder in der Lage, gerissene Lieferketten zu flicken, noch können sie zusätzliches Gas und Erdöl in die Rohstoffmärkte einspeisen. Dass ihr Werkzeugkasten nicht zu den spezifischen, auf der »Angebotsseite« liegenden Ursachen des aktuellen Inflationsschubs passt, ist freilich beileibe nicht das einzige Problem der Währungshüter:innen. Die Geldpolitik hat zwar einen gewissen Einfluss auf die Nachfrage nach Gütermarktwaren, aber immer nur über den Umweg des Finanzsektors. Die Notenbanken gestalten die Bedingungen für die Bildung »fiktiven Kapitals« (Marx) auf den Geld- und Kapitalmärkten mit. Die Dynamik fiktiver Kapitalbildung wiederum induziert auch aufseiten der »Realwirtschaft« Wachstum.

Indem sie mit geldpolitischen Maßnahmen die finanzindustrielle Dynamik bremsen, können die Zentralbanken die kreditabhängige Nachfrage nach Gütermarktwaren dämpfen. Allerdings sind die direkten Wirkungen dieser Bremsmaßnahmen auf das Finanzmarktgeschehen weit gefährlicher als der aktuelle Inflationsschub – pikanterweise auch für die Geldwertstabilität. Die Zentralbanken haben nicht aus Jux und Tollerei aus teilweise negativen Leitzinsen einen Dauerzustand gemacht. Sie mussten aus der »unkonventionellen Geldpolitik« das neue Normal machen, weil ernsthaftere Zinskorrekturen den nächsten Finanzmarktcrash auszulösen drohen.

Unter Pandemiebedingungen hängt das Überleben der Finanzmärkte mehr denn je von der Stützung durch die Notenbanken ab. Logischerweise hat etwa die FED angesichts von Corona im Frühjahr 2020 die Leitzinsen sofort wieder auf null gesenkt und den Aufkauf von Staatspapieren nach oben geschraubt. Die Kritiker der Nullzinspolitik verweisen vor allem darauf, dass diese mit einer sprunghaften Ausdehnung der Geldmenge einhergehe. Und in der Tat: Vor allem das Wachstum der Geldmenge M1, die Bargeld und schnell verfügbare Sichteinlagen wie Tagesgelder umfasst, hat sich in den Zeiten der Pandemie kräftig beschleunigt. In der Zeit vor Corona war M1 im Schnitt um 8 Prozent gewachsen, mit Corona schnellte die Rate zwischenzeitlich auf 16 Prozent hoch. Ein weit dramatischeres Bild liefern die USA: Bis zur Pandemie legte M1 etwa um 6 Prozent im Jahr zu, zuletzt um satte 71 Prozent.

Auch wenn viele Ökonomen das Gegenteil behaupten, eine dem Wachstum des BIP enteilende Geldmengenzunahme ist nicht per se inflationsträchtig. Das letzte halbe Jahrhundert demonstriert das. In den USA beispielsweise hat sich zwischen 1980 und 2020 die Geldmenge M3 – diese umfasst neben Bargeld, Bankeinlagen und Bankschuldverschreibungen auch Geldmarktpapiere bis zwei Jahre Laufzeit – verdreizehnfacht und wuchs doppelt so schnell wie das BIP. Damit ging die Schere zwischen Geldmengen- und Wirtschaftswachstum wesentlich weiter auf als in der vorangegangenen Dekade. Nach der gängigen quantitätstheoretischen Doktrin hätte das zu deutlich steigenden Inflationsraten führen müssen. In Wirklichkeit ging die Reise genau in die entgegengesetzte Richtung. Und auch die Entwicklung seit der großen Finanzmarktkrise spricht eine eindeutige Sprache. Im Euroraum lag M1 2008 noch bei knapp 4 Billionen Euro, am Vorabend der Pandemie überschritt diese Geldmenge erstmals die Marke von 9 Billionen. Trotzdem gab die Inflationsrate gegenüber dem eh bereits niedrigen Niveau der Nullerjahre noch einmal nach.

Paradox erscheint diese Entwicklung indes nur, wenn man den Grundfehler der herrschenden Geldvorstellung übernimmt und »Geldschöpfung« auf eine Stufe mit dem Drucken von Geld stellt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um höchst unterschiedliche Vorgänge. Ob Geschäftsbanken Giralgeld »schöpfen« oder die Währungshüter »Zentralbankgeld«, in beiden Fällen werden keineswegs bloße Geldzeichen in Umlauf gebracht, vielmehr bildet sich fiktives Kapital. In der Beziehung von Schuldner und Gläubiger entsteht, wenn auch nur für die Laufzeit des Kredits, qua Kapitalisierung künftiger Einkünfte gesellschaftliches Zusatzkapital. Eine bloße Geldzeichenvermehrung würde die Verbraucherpreise nach oben treiben, weil sie in der Welt der Gütermarktwaren ausschließlich als Zusatznachfrage wirksam würde. Fiktives Kapital dagegen kann auch Ausgangspunkt für realwirtschaftliche Investitionen sein und in diesem Fall steigen sowohl die Nachfrage wie das Angebot. Aus diesem Grund geht dann von der monetären Seite erst einmal kein inflationärer Druck aus. Der baut sich erst auf, wenn die Finanzmärkte ins Trudeln kommen und die fiktive Kapitalschöpfung kontrahiert und es auch den Zentralbanken nicht mehr gelingt, diese wieder in Gang zu setzen.

In diesem Fall hätten die Zentralbanken keine andere Wahl. Sie müssten ohne diesen Umweg Geld in Umlauf bringen und sobald das geschieht, werden die Albträume der »Inflationsphobiker« (Bofinger) wahr. Das kapitalistische Weltsystem steuert unweigerlich auf diesen Umschlagpunkt zu, an dem nicht nur massenhaft Kapital entwertet wird, sondern gleichzeitig auch das Geldmedium dahinschmilzt wie ein Schneemann in der Julisonne. Dass seit dem Krisenschub von 2008 die Geldmenge M1 beschleunigt wächst, bedeutet für sich genommen genauso wenig Inflation wie in den Jahrzehnten zuvor das schnelle Wachstum des von den Geschäftsbanken geschöpften Giralgeldes. Sie zeigt indes an, wie hyperprekär das System fiktiver Kapitalschöpfung geworden ist. Die Mittel, um die Finanzmarktdynamik noch einmal in Gang zu setzen, sind schon verbraucht. Als Retter des verrückten kapitalistischen Betriebs muss es für die Zentralbanken deshalb die oberste Priorität haben, den Eintritt des Unvermeidlichen so lange wie irgend möglich hinauszuschieben und damit auch den Zeitpunkt, an dem die wirkliche Grundlage der jahrzehntelangen weitgehenden Preisstabilität wegbricht.

Vor diesen Hintergrund verbietet es sich den Währungshüter:innen, nennenswerte Leitzinserhöhungen ins Auge zu fassen. Einen ungünstigeren Zeitpunkt als die Corona-Krise könnten sich die Notenbanken für den Abschied von der finanzmarktkommunistischen Beschenkungswirtschaft schwerlich aussuchen. Dummerweise haben sie sich durch die Art und Weise, mit der sie in den letzten zehn Jahren ihre »unkonventionelle Geldpolitik« begründet haben, in eine undankbare Situation manövriert. Mehr als eine Dekade wurde diese mit dem Ziel der Deflationsbekämpfung gerechtfertigt. Nur wenn die Leitzinsen so niedrig sind, dass die Preise moderat steigen, so das als 2-Prozent-Ziel bekannt gewordene Mantra, ließe sich die Gefahr einer Deflationsspirale bannen. Angesichts des inflationären Schubs von 2021 fällt den Notenbanken diese Argumentation aber jetzt auf die Füße.

Eine ganze Zeit lang haben sich die Währungshüter mit der Behauptung über die Runden gerettet, eine Veränderung der Geldpolitik erübrige sich, weil die Inflation ganz von alleine in wenigen Monaten wieder verschwinden werde. Dieses Narrativ aber lässt sich nicht mehr durchhalten. Selbst Luis de Guindos räumt inzwischen ein: »Unsere Inflation ist hartnäckiger und nicht so vorübergehend, wie wir erwartet hatten.« Dennoch hält die EZB, deren Vizechef Guindos ist, an ihrem Nullzinskurs bis dato konsequent fest.

In Großbritannien und den USA dagegen simuliert man zumindest Inflationsbekämpfung. Nachdem die Bank of England als erste wichtige Notenbank kurz vor Weihnachten den Leitzins von 0,1 Prozent auf 0,25 Prozent angehoben hat, sieht sich auch die US-amerikanische FED in Zugzwang. Sie kündigte an, ihr Aufkaufprogramm für Staatsanleihen, das coronabedingt zuletzt auf 120 Milliarden Dollar monatlich ausgeweitet worden war, ab Januar um 30 Milliarden zu reduzieren, und stellt darüber hinaus für 2022 drei Zinsschritte von je 0,25 Prozent in Aussicht. Auch wenn dieser Plan umgesetzt würde, bliebe der Leitzins dieses Jahr in den USA deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau und die Führung der FED hofft, dass die Finanzmärkte die kosmetische Korrektur schon verkraften. Dass sich so der Preisauftrieb nicht dämpfen lässt, dürfte der Führung der FED klar sein. Genauso klar ist ihre aber wohl auch, was für einen ökonomischen Tsunami eine wirkliche Zinswende auslösen würde. An dessen Ende stünde nicht nur Massenarmut, viele Arme wären pikanterweise vermutlich auch noch Dollar- und Euro-Millionäre.


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