31.12.1994 

Pars pro toto

Warum die Partei nicht mehr recht hat

Peter Klein

1 . Zweierlei Partei

»Die Partei hat immer recht«. In dieser Parole aus den frühen Jahren der DDR kündigte sich, so darf man heute wohl sagen, bereits das historische Ende der politischen Partei an. Ein Rechthaben, das gewissermaßen für sich dasteht, vor jedem bestimmten Streitfall, in dem es sich zu bewähren hätte, ist ja im höchsten Grade unwirklich und unglaubwürdig. In dieser Konstellation des »Rechthabens a priori«, wie man es nennen könnte, ist für eine andere Partei offensichtlich gar kein Platz mehr vorgesehen, und die entscheidende Grundlage für den uns inzwischen so vertraut gewordenen »Parteienwettbewerb« ist entfallen. Damit aber wird natürlich das Dementi der Partei überhaupt ausgesprochen. Schließlich könnte eine politische Partei nur unter der Voraussetzung immer rechthaben oder auch nur rechthaben wollen, daß sie sich zum Anwalt aller gesellschaftlichen Interessen, Stimmungen und Meinungen erklärt. Was auch immer das Volk will, welches Anliegen auch immer vorgetragen wird, die Partei ist die dafür zuständige Instanz, sie nimmt sich aller Sorgen und Probleme an, sie hilft, das Wohl des Volkes zu mehren und Schaden von ihm fernzuhalten – weil, so lautet die Botschaft, sie eigentlich das Volk selber ist. Aber dann ist sie eben nicht mehr Pars, sondern Totum, und was in dem sinnigen Spruch vom »Rechthaben« zum Vorschein kommt, das ist nichts anderes als der gute alte Allgemeinwille Rousseaus, jene ideologische Grundfigur, aus der sämtliche der modernen Staatswesen ihre Legitimation abzuleiten pflegen.

Daß das SED-Regime seinerzeit soviel Aufhebens von dieser Legitimationsideologie machte, als handele es sich dabei um eine ganz und gar neue und revolutionäre Errungenschaft, darf man getrost als ein Zeichen der Unsicherheit werten. Die »Partei Lenins und Stalins«, die man in allen äußeren Attributen nachzuahmen bemüht war, wußte sehr wohl, daß sie anderswo ihren Ursprung hatte. Unter den besonderen Bedingungen des »halbasiatischen« Rußlands mochte die Entwicklung des Bolschewismus zur Staatspartei ein Moment der Plausibilität und Berechtigung besessen haben. Im Kontrast zum Gottesgnadentum des Zaren konnte die politische Herrschaft einer Massenpartei zeitweise den Eindruck erwecken, als befinde sich hier »das Volk selbst« an der Macht, zumal man, den Rousseauismus »ökonomisch« vollendend, die Fabriken und Felder für »volkseigen« erklärt hatte. Aber für diese »identitäre Illusion« waren in dem kapitalistisch viel weiter entwickelten Deutschland, das ja soeben erst ein katastrophales Übermaß von »Volkseinheit« bzw. »Volksgemeinschaft« hinter sich gebracht hatte, 1949, im Gründungsjahr der DDR, ganz und gar keine Voraussetzungen mehr vorhanden. Wie immer, wenn ein geschichtliches Phänomen unbegriffen zum zeitlos gültigen »Modell« erklärt und auf einen gesellschaftlich ganz anders gearteten Boden verpflanzt wird, war das Resultat nicht sonderlich lebenskräftig. In dem arm, den die SED um ihr »immer schon Rechthaben« entfachen zu müssen glaubte, äußerte sich so gesehen das Bewußtsein von der eigenen inneren Unwahrheit.

Aus diesem unschönen Schauspiel zog die politische Partei des Westens die, wie es damals scheinen mußte, einzig logische Konsequenz. Der Teil, der sich für das Ganze erklärt, ist offensichtlich seine eigene Negation. Um dieser Negation zu entkommen, gab es für die wackeren Demokraten nur eines: das Rechthaben mußte negiert werden. Die Partei siegte, indem sie bescheiden wurde. Unter dem ideologischen Vorzeichen des Pluralismus wurden erhebende Bekenntnisse zur eigenen Beschränktheit abgelegt. Wie erfrischend war – nach der Verstocktheit und Verbiestertheit der vorangegangenen Epoche – die Entdeckung, daß man durchaus nicht immer rechtzuhaben brauchte! Wie angenehm moderat war der Tonfall, in dem die Politiker sich und der Öffentlichkeit versicherten, daß sie den Stein der Weisen nicht gefunden hätten, daß sie auch nur Menschen seien, und daß es in den menschlichen Angelegenheiten nun einmal keine vollkommenen Lösungen geben könne! Toleranz und gegenseitige Achtung wurden zur Norm, an welcher der Parteienkampf sich messen ließ.

Sicher, anfangs wurde der Verzicht aufs Rechthaben mit einer gewissen weltanschaulichen Strenge verfochten. Die KPD wurde 1956 verboten, weil sie sich als eine Ablegerin der totalitären SED dem Trend zur neuen Unvollkommenheit nicht gut anschließen konnte. Aber für diejenigen Parteien, die wirklich nur sie selbst sein wollten und die daher an der »Gemeinsamkeit der Demokraten« teilhatten, brachen, so darf man rückblickend wohl sagen, paradiesische Zeiten an. So nach und nach richtete sich die gesamte Gesellschaft nach dem Vorbild ihrer politischen Avantgarde aus. Die Partikularität wurde Trumpf. Der Konjunktiv beherrschte den Vordergrund. Auf allen Diskussionsveranstaltungen bemühte man sich um jenen kultivierten Umgangston, der Woche für Woche mit Werner Höfers »Internationalem Frühschoppen« in die Wohnzimmer gelangte. Wer eine Meinung hatte, gab sie höflicherweise nur noch zu bedenken, und höflich lächelnd nahm er diejenige seines Kontrahenten zur Kenntnis, von dem er sich gerne belehren ließ. Die Schriftsteller bevorzugten die Form der »Skizze« und des »Versuchs«, und als das beste Stilmittel überhaupt galt der Torso, der um so überzeugender wirkte, wenn man es – wie etwa Rolf Dieter Brinkmann oder Bernward Vesper – auch noch fertigbrachte, frühzeitig zu sterben. Jedenfalls mußte der Eindruck erweckt werden, daß das Wichtigste leider ungesagt geblieben war. Die Wahrheit galt nur etwas als geahnte und unter großen Qualen angedeutete – sofern man sie nicht gleich ins Nirgendwo oder, was dasselbe ist, ins unmittelbare Existieren verlegte. Nur dumpfe Plattköpfe konnten sich vermessen, einfach so indikativisch vor sich hin zu schwätzen. Weshalb ja auch Heinrich Böll mit seiner gegen Krieg, Massenmord und Raffgier gerichteten Botschaft schon wieder in den Ruf kam, ein mutiger und direkter Autor zu sein. Ohne Ironie darauf zu beharren, daß dergleichen Vorkommnisse mit dem moralischen Standard der katholischen Kirche eigentlich nicht zusammenstimmen, war sicher ein Wagnis, fast war es schon ein wenig tollkühn. Aber Heinrich Böll war ja auch volkstümlich, d.h. umsatzstark, und das ist immerhin auch etwas in einer Gesellschaft, die bereitwillig jedem das Seine läßt.

Vollends inflationär wurde das Parteiphänomen, als die Kinder der pluralistischen Gesellschaft in Gestalt der 68er die öffentliche Bühne betraten. Nach einer kurzen – übrigens in Parteiform absolvierten – Phase des moralischen Rigorismus hatten sie den tieferen Sinn ihrer Kritik an der Elterngeneration erfaßt. In der weitgehend saturierten Gesellschaft des westlichen Wohlfahrtsstaates waren die zahmen Rituale des älteren Pluralismus einfach langweilig geworden. Die Partikularität hatte sich eine zu große Selbstverständlichkeit erworben, als daß sie der abmildernden Konventionen noch bedurft hätte. Vor dem Aufeinanderprall entgegengesetzter Positionen brauchte sich niemand mehr zu fürchten. Und so war es denn – zumal in einem Jahrzehnt wachsender Exportüberschüsse – nur folgerichtig, daß uns die Neopluralisten eine Kultur des Konflikts verordneten. Keine falsche Rücksichtnahme, hieß die neue Devise. Wo kein Dissens und kein Streit, dort auch keine »lebendige Demokratie«. Der oppositionelle Anspruch der 68er Bewegung wurde zu einer Angelegenheit der rüden Umgangsformen, beispielhaft im Fernsehen vorgeführt von der autonomen, d.h. selbstgenügsamen Hausbesetzer-Szene. Der Punk wurde zur Mode, die Provokation gehörte zum guten Ton, und für die gesetzteren Semester gab es die Aufmüpfigkeit als »Regelverletzung«. Rettete sich Adorno seinerzeit noch vor der Straßenaktion, indem er auf sein Bäuchlein hinwies und auf die komische Figur, die er damit abgeben würde, so setzte die müsligestärkte Prominenz der achtziger Jahre ihre Ehre darein, sich vor Mutlangen zunächst einen kalten Hintern und dann eine Ordnungsstrafe zu holen.

Inzwischen ist, im Jahre 50 nach Popper, ein derartiger Zustand von gesellschaftlicher Offenheit erreicht, daß sich die Partikularität schon als solche im Rang eines Arguments befindet. Partikular zu sein, eine Besonderheit vorweisen zu können, ist nachgerade zum Ausweis der Existenzberechtigung geworden. So abseitig kann keine Marotte sein, daß ihr nicht eine ebenso wohlmeinende wie vergeßliche Öffentlichkeit das Prädikat »Gehenlassen« anheften würde. Ich unterscheide mich, also bin ich, so scheint das Credo jener Gesellschaft zu lauten, die von den Neopluralisten eine »zivile« genannt wird. Und spätestens bei dieser Formulierung drängt sich der Gedanke auf, daß wir es hier wieder einmal mit einem Phänomen der »inneren Unwahrheit« zu tun haben. Denn wenn der Unterschied Alles ist, dann hat offensichtlich wieder ein Umschlag des Pars ins Totum stattgefunden.

In der Tat. Die Partei, die sich zu sich selbst rein affirmativ verhält, deren Ambitionen sich aufs bloße Dasein beschränken, die von vornherein nur eine Stimme im Chor sein will und sonst nichts, sie verhält sich natürlich auch affirmativ zu allen anderen Parteien. Nicht Kampf, sondern friedlicher Wettbewerb ist angesagt, und dieser zielt natürlich nicht mehr aufs Ganze, das etwa herzustellen oder umzustürzen wäre, sondern er ist eine Daseinsbedingung dieses Ganzen, das sich vermittels der Partikularität nachgerade als solches konstituiert. In bezug auf dieses Ganze hat sich die Partei somit von einem dynamischen zu einem statischen Element gewandelt. Indem sie sich selbst affirmiert, affirmiert sie auch dieses Ganze, und die Formel »Pars pro toto« läßt sich jetzt so übersetzen, daß es auf die besondere Qualität der Partei nicht mehr ankommt, weil jede Partei gleichermaßen für das Ganze steht. Die Unterschiede heben sich darin auf, daß sie ebenso gleichgeltend wie gleichgültig geworden sind. Kennst du eine Partei, kennst du alle Parteien.

Offensichtlich haben wir es hier mit einer Art Endzustand zu tun. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man einen Blick in die Geschichte wirft. Die heutige Selbstgenügsamkeit der Partei ist ja keineswegs von Anfang an vorhanden gewesen. Es gab einmal eine Zeit, da verfolgte die politische Partei wirkliche Ziele, die außerhalb von ihr gelegen waren. Indem sie diese Ziele als ihren Daseinszweck, als ihre »historische Aufgabe« ansah, konnte sie ihre eigene Existenz nicht einfach positiv bestimmen als ein »normales Faktum« des politischen Lebens. Im Gegenteil. Im wesentlichen auf ihr historisches Ziel bezogen, mußte sie sich als ein Notphänomen betrachten und sich insofern zur eigenen Existenz negativ verhalten. Am Ziel angelangt, würde sich ihre Existenz erfüllt haben, sie würde sich in dem dann erreichten »höheren gesellschaftlichen Zustand« auflösen können. Diese Zeit haben wir hinter uns gelassen, erstaunlicherweise aber nicht die Partei. Zumindest wenn man die ursprüngliche Konstellation zugrundelegt, sollte dieser Befund eigentlich ein Anlaß zum Fragen sein: Die »Ziele« wurden aufgegeben, und gleichzeitig ist die Partei zu einem fest installierten Bestandteil unseres politischen Systems geworden. Zwei »Tatsachen«, die unter historischem Blickwinkel betrachtet nicht so recht zusammenpassen, die die Existenz des Parteiphänomens eigentlich recht prekär erscheinen lassen, die aber von den Tatsachenmenschen üblicherweise hübsch säuberlich eine jede für sich betrachtet werden.

Die einen konstatieren es mit Befriedigung, daß das »Ende der Utopie« eingetreten ist. Sie sind erleichtert darüber, daß die Partei nun endlich das »Elend des Historismus« hinter sich gelassen und jene »Vernunft« angenommen hat, die sie die »pragmatische« nennen. Die Ideologen der großen menschheitsbeglückenden »Entwürfe« sind verschwunden oder befinden sich doch wenigstens in erheblicher Verwirrung; oder sie lassen sich, wo sie noch auftreten, unschwer als ein Phänomen der ökonomischen Rückständigkeit bestimmen. Ginge es nach den Pragmatikern, so hätte die Geschichte im »westlichen Modell« des Parteienpluralismus endlich ihre Ruhe gefunden. Aber leider, im gleichen Augenblick gibt es andere Tatsachenmenschen, die betrachten das Schmuckstück dieses »Modells«, die Partei, und finden es auch schon verächtlich. So schreibt etwa Claus Koch: »Es galt als besondere Fortschrittlichkeit der Bundesrepublik, daß alle regierungsfähigen oder System-Parteien sich seit den sechziger Jahren nicht nur entideologisierten, sondern auch immer mehr entsoziologisierten. Nun, da sich alle, unbelastet von Traditionen und Identitäten, an alle Wähler-Interessenten wenden, können sie nichts mehr integrieren, für nichts mehr kämpfen, sind sie unfähig zur Repräsentation. Weil alle Parteien wenig mehr vertreten als ihre eigene, unspezifisch gewordene Organisation, wird der Parteienpluralismus gegenstandslos, zur Hohlform«. Was die Parteien »verächtlich« mache, sei aber noch nicht einmal diese »Inhaltslosigkeit«. Das »zynische Wählerpublikum« habe sich daran gewöhnt, »daß sich die Parteien vor allem als Maklerorganisationen mit Allzweckeignung anbieten«. Niemand, der noch das Verlangen hätte, »sich mit einer Partei zu identifizieren«. »Grund zur Verachtung gibt jedoch das eigenartige Zwangsverhalten, das sich aus dieser Inhaltslosigkeit ergibt. Es ist doch nur noch ein schon das Pathologische streifender Krampf, wenn die Angehörigen dieser völlig homogenen Klasse öffentlich eine prinzipielle Gegnerschaft aus dem einzigen Grunde vorführen müssen, daß sie irgendwann einmal verschiedenen Organisationen beigetreten sind, um dort völlig gleichartige Karrieren zu machen. Der letzte soziale Ort, an dem das Feind Verhältnis noch simuliert werden muß, ist das Parteienwesen, der inhaltslose Konflikt der Organisationen als Organisationen und sonst nichts. Das kann auf einen erwachsenen Menschen … nur grotesk wirken. Und er wird auf Irrelevanz schließen. Nur parasitierende Schichten, die von den Sachen selbst abgedrängt sind, können sich so überflüssig verhalten«(1).

Ja, was nun? Sollen wir die Partei dafür loben, daß sie sich die Flausen früherer Jahrzehnte aus dem Kopf geschlagen hat? Sollen wir ihr gar eine Bestandsgarantie ausstellen zur Belohnung für friedliches Konfliktmanagement und Fundamentalismusverzicht? Oder sollen wir sie verachten, weil sie keinen Anreiz zur Identifikation mehr bietet und doch so tut – und übrigens auch tun muß: nach wie vor werden Wahlen abgehalten – als ob? Beide Positionen bleiben am selben Phänomen hängen, und beide auf die für das Phänomen spezifische Weise: parteimäßig, mit der alten unvermittelten Frage des »Dafür-« oder »Dagegenseins« im Hinterkopf. Und damit haben sie natürlich teil an der inneren Unwahrheit dieses Phänomens. Dergleichen Unvereinbarkeiten mögen früher einmal den Stoff für langwährende, bittere Fehden abgegeben haben, heute sind sie irrelevant geworden. Zumindest werden sich die Kontrahenten nicht schlagen für diese Streitfrage, und die Vermutung liegt sogar nahe, daß sie bei der herrlichen »Ausdifferenziertheit« unseres »politischen Systems« ihren Widerspruch nicht einmal wahrzunehmen vermögen, sollte er sich selbst in ein und demselben Kopf abspielen. Die Ignoranz ist bekanntlich das höchste Stadium der Toleranz(2), oder anders: Die partikulare Sichtweise herrscht heute so total, daß selbst nahe beieinander liegende Aspekte des gleichen Phänomens wie zwei verschiedene, voneinander unabhängige Gegenstände behandelt werden können.

Entsprechend eindimensional und unverbindlich sind die betreffenden Aussagen. Ob es für die politische Partei heute noch eine totalitäre Option oder »Versuchung« gibt oder nicht, hängt jedenfalls nicht von der Anzahl der Plädoyers ab, mit denen die Anwälte der »politischen Offenheit« uns darum bitten, diese »nicht mutwillig preiszugeben«(3). Ebensowenig werden die Philippiken eines Claus Koch oder anderer Freunde der »Politikfähigkeit« (etwa Karl-Heinz Bohrers) der Partei neue Attraktivität einhauchen. Eine Prognose können wir der Partei nur dadurch stellen, daß wir auf jenes gesellschaftliche Totum rekurrieren, zu dessen ununterscheidbarem Bestandteil sie heute geworden ist. Auf dem Weg der bloß subjektiven Vernunft, des »Wollens« oder »Nicht Wollens« einer Sache, ist gerade deshalb kein Weiterkommen, weil sie genau als diese subjektive Vernunft inzwischen die objektive Funktionsbedingung der »Sache« selber darstellt, nämlich des gegebenen gesellschaftlichen Totums.

Thomas Meyer hält es womöglich für bedeutsam, wenn er feststellt, daß es »keine Fakten gibt, die als letztinstanzliche Richter über Theorien entscheiden könnten. Denn Fakten sind, was sie sind, stets nur im Rahmen von Theorien«.(4) Dieser Satz, der nur von fernher an Kant erinnert(5), fällt aber sogleich seinem eigenen Relativismus zum Opfer. Er ist auch nur »eine« theoretische Äußerung unter den vielen gleichberechtigten »Theorien, Überlieferungen und Deutungen«, die es nach Meyers Unterstellung anscheinend gibt und demokratischerweise geben muß. Dies zum einen. Und zum zweiten: Was hindert uns, dieses Einerlei der Theorie selber noch zu den erklärungsbedürftigen Fakten zu zählen? Und wäre dieses Faktum nicht bereits ein verläßliches Kennzeichen des gegebenen gesellschaftlichen Zustands selbst, der den »Theorien, Überlieferungen und Deutungen« ihr folgenloses Nebeneinander gestattet bzw. ermöglicht? Und haben wir in diesem Faktum nicht bereits ein »letztinstanzliches Urteil« vorliegen, das damit über alle »Theorien« gesprochen wird, die auf dieses ihr gemeinsames Apriori nicht reflektieren?

Es hilft also alles nichts, die Pars stößt uns aufs Totum. Um die Pars zu verstehen, müssen wir jenes Totum mit in den Blick nehmen, auf das sie früher einmal gerichtet war. Und wir tun wahrscheinlich gut daran, diesen Bewegungsimpuls im historischen Sinne aufzufassen. Auch die Anhänger des Partikularismus bestreiten ja nicht, daß in dieser Beziehung eine Entwicklung stattgefunden hat. Nur eben, daß sie diesen »Prozeß der Modernisierung« oder der »Säkularisation« – oder wie sie ihn sonst noch nennen mögen: etwa den »Zerfall der Gewißheit« – allzu gerne ins Subjektive umbiegen und ihn behandeln wie die Akkumulation sei es von subjektiven Einsichten, sei es von subjektiven Verfehlungen. Demgegenüber beharre ich darauf, daß wir in der Pars bereits unmittelbar das gesellschaftliche Totum selber vor Augen haben, und daß unser »Endzustand« deshalb nicht allein im Hinblick auf die Partei und ihre Einsichten oder Versäumnisse, sondern im Hinblick auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung bestimmt werden muß, in der das Phänomen der politischen Partei eine Rolle gespielt hat. Dabei sollte, um diesem Mißverständnis noch vorzubeugen, die »gesellschaftliche Entwicklung« übrigens nicht so verstanden werden, als ob eine bereits vorhandene Substanz namens »Gesellschaft« bloß einem äußeren Gestaltwandel unterworfen gewesen wäre. Gemeint ist vielmehr die »Herstellung« dieser Substanz selber, jener Prozeß der menschlichen Vergesellschaftung also, der in den vergangenen zweihundert Jahren seine entscheidende Etappe hinter sich gebracht haben dürfte.

Unser »Pars pro toto« hätte damit eine dritte Bedeutung erhalten, nämlich die eines zielgerichteten Prozesses. Für das Ganze wäre demnach die Partei in dem Sinne eingetreten, daß es als solches überhaupt erst entstehe: als jenes Totum Gesellschaft, das man bei seiner heutigen Beschaffenheit wohl umstandslos Weltgesellschaft nennen kann. Die politische Partei wäre somit zu bestimmen – vielleicht nicht gerade als der Motor oder gar als die Ursache des zurückliegenden Vergesellschaftungsprozesses, aber doch als ein wichtiges Moment davon. Und, so lautet meine These weiter, sie ist an dem Ort, den sie sich früher einmal als ein äußeres Ziel gegenüberstehen hatte, auch tatsächlich angekommen. Unmittelbar als sie selbst ist sie (bzw. die Partikularität, der Subjektivismus oder Relativismus überhaupt) zum Funktionselement des gegebenen Totums geworden. Was es zu erklären gilt, ist, daß ihr dieser Erfolg nicht so recht zu Bewußtsein kommen will, daß ihr der Zugang zu diesem Totum nicht etwa bloß praktisch, sondern gerade auch theoretisch verschüttet worden ist. Im gleichen Augenblick, da das Ziel erreicht ist, wird es auch schon für eine Unmöglichkeit erklärt.

2. Gibt es das gesellschaftliche Totum nur als Ideologie?

Es gibt »kein solches Ding wie ein eindeutig bestimmtes Gemeinwohl«, schreibt etwa – als einer der ersten Neoliberalen – Joseph Schumpeter(6). Auch sein theoretischer Enkel Thomas Meyer weiß, »daß es entgegen den Annahmen des frühliberalen Repräsentationsdenkens ebenso wie entgegen frühen sozialistischen Ansprüchen auf wissenschaftliche Interessendefinitionen ein a priori feststellbares Gemeinwohl nicht geben kann«(7). Desgleichen Friedrich Jonas: Die »Vertretung der Interessen (erfolgt) heute ohne eine gemeinsame Grundlage, an der sich ihre Legitimität ermessen ließe. … Nach unendlichen Enttäuschungen verzichtet man darauf, eine unmittelbare Gewißheit von der Wahrheit zu haben. Die Versöhnung im Endlichen ist jetzt das Ziel«(8).

Drei Stimmen, willkürlich herausgegriffen aus einem Chor, der im Verlauf der vergangenen vier Jahrzehnte einen beeindruckenden Umfang angenommen hat. Von Hannah Arendt bis zu den erst kürzlich bekehrten Anhängern der »Zivilgesellschaft«: Soviel Einheit war nie. Und wer wäre ich, mich gegen diese geschlossene Phalanx von lauter »Offenheit« stellen zu wollen. Eine einzige Stimme mag vernachlässigbar sein, massenhaft vorgetragen verlangt der Gedanke vom »Verlust der Gewißheit«, daß man ihn ernst nehme. Freilich, indem ich das tue und mir den Verzicht auf ein verbindlich definiertes »Allgemeininteresse« oder »Allgemeinwohl« zu eigen mache, gelange ich dennoch und gerade dadurch zu einem objektiv konstatierbaren Tatbestand, der mir von höchster Gewißheit zu sein scheint. Wir haben es offenbar mit einem Vergesellschaftungszustand zu tun, der in seinem weltweit dimensionierten Zusammenhang einerseits unübersehbar existiert und andererseits – zum Behufe dieser seiner Existenz – einer die Subjekte verpflichtenden Ideologie des Zusammenhangs und der Einheit sehr gut entraten kann. Und dieses Faktum der »gesellschaftlichen Einheit« bringt sich obendrein auch noch ganz unmittelbar in dem zugehörigen Bewußtsein zur Geltung, das es in seiner durchgängig zur Schau gestellten Definitionsbescheidenheit zu einer historisch noch nie dagewesenen Einhelligkeit gebracht hat. Wenn man jemals das gesellschaftliche Sein mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein hat identifizieren dürfen, dann ist dies heute der Fall. Paradox ist nur, daß sich diese Identität außerhalb gerade desjenigen Bewußtseins befindet, das sie in der unverblümtesten Weise zur Erscheinung bringt.

Daß es trotzdem möglich ist, diese Identität wahrzunehmen, verdankt sich zunächst einmal einem ganz einfachen »Trick«, nämlich einem Wechsel, den wir in der theoretischen Fragestellung vornehmen. Wir fragen nicht mehr nach dem »Sollen«, sondern nach dem »Sein« der Gesellschaft, gehen also in einem gewissen Sinne, den man sich aber nicht unbedingt von der Kantischen Philosophie vorschreiben lassen sollte, von der »praktischen« zur »theoretischen Vernunft« über(9). Es sind die modernen Demokraten selber, die uns diesen Übergang nahelegen. Man kann sie ja, unserer historischen Herangehensweise entsprechend, als die letzten Ausläufer oder Endmoränen der »praktischen Vernunft« ansehen, jenes voluntaristischen Denkens also, das die Wirklichkeit allemal zu hecken und zu modeln sucht. Wenn nun dieses Denken an seinen »Modellen« endlich irre geworden ist nach den bekannten »unendlichen Enttäuschungen«, wenn es an die »Projekte« und »Prinzipien«, die es in der Vergangenheit immer zu »verwirklichen« trachtete, inzwischen selber nicht mehr glaubt, wenn es nur noch aus lauter Zweifel und Verzagtheit besteht, warum also nicht diesen Ansatz zur Selbstkritik ernstnehmen und ihn konsequent zuende führen?

Daß es den Pluralisten so schwerfällt, das von ihnen selbst begonnene Werk auch selbst zu vollenden, liegt an dem Gegner, auf den sie fixiert sind. Es ist die vom Totalitarismus bzw. Fundamentalismus beanspruchte »politische Subjektivität«, von der sie gewissermaßen infiziert sind. Gerade weil sie sich nur und ausschließlich zu dieser »Subjektivität« verhalten, müssen sie trotz aller Ablehnung in ihr befangen bleiben. Sie bekämpfen die totalitäre und übrigens auch vernunftrechtliche Vorstellung von einem »homogenen Allgemeininteresse« (S. 95)(10), sie lehnen es ab, im »Volk« oder in der »Arbeiterklasse« die Verkörperung einer »vorgegebenen Vernunft« (S. 103) oder auch nur eine »kollektive Identität« (S. 117) zu sehen – aber in der theoretischen Auffassung von diesen Kategorien unterscheiden sie sich nicht von den seinerzeitigen Protagonisten. Genauso wie diese (und vielleicht noch platter) verstehen sie unter der »politischen Willensvereinheitlichung« (S. 155) einen empirischen Vorgang, also etwa die staatliche Verordnung einer Gemeinschaftsideologie, und sonst nichts. Das heißt, sie nehmen all die ideologischen Namen, unter denen die totalitäre Partei einmal angetreten war, um die »Gesellschaft (gewaltsam) unter einen ideologisch determinierten Geschichtsverlauf« (S. 94) zu zwingen, für bare Münze: machen sie also unmittelbar für den Weg verantwortlich, den dieser »Geschichtsverlauf« praktisch genommen hat – weshalb sie sie zwar ablehnen, aber eben nicht erklären können. Für dasjenige, was die totalitäre Epoche tatsächlich gewesen ist, was sie tatsächlich bewirkt hat: mindestens doch den weltweiten Durchbruch der pluralistischen Massendemokratie, fehlt ihnen der Blick. Sie bleiben auf der Ebene des seinerzeitigen »Sollens« stehen, wo es doch darauf ankäme, das zugehörige (und darin erscheinende) »Sein« an den Tag zu bringen.

Das theoretische Resultat ist entsprechend kümmerlich, nämlich – hegelisch gesprochen – eine dürre, unvermittelte Negation: Wo beim Totalitarismus bzw. überhaupt in der vernunftrechtlichen Tradition ein »Ja« steht, steht bei ihnen ein »Nein«. In den früheren Zeiten glaubte man an die Existenz eines objektiven, »gedanklich nachvollziehbaren« (S. 103) Allgemeininteresses, die Pluralisten glauben nicht mehr daran. Und damit erübrigt sich dann auch alles weitere Fragen; zum Beispiel danach, ob denn das Allgemeininteresse womöglich anders, wenn nicht als die empirische Übereinstimmung der Meinungen, Interessen und Glaubenssätze zu denken sei? Während wir auf diese Weise einen positiven Gegenstand erhalten – einen, der uns über die empiristische Auffassung der »Einheit« hinaustreibt -, bringen sie sich, empiristisch verrannt, um jeglichen Gegenstand: Die sozialen Konflikte »können also nicht in eine reale Einheit der Gesellschaft einmünden« (S. 108). Als ob sich eine subjektivistische Auffassung dieser »Einheit« (im Sinn der empirischen Gleichheit aller Bewußtseinsinhalte) von selbst verstehe.

Das äußerste, was wir an positiver Information über den gegebenen Gesellschaftszustand erhalten(11), sind die diversen Hinweise auf die – »Gewaltlosigkeit verbürgenden« – »formalen Bedingungen« und »Regeln« (S. 137) des Konfliktaustrags, mit deren Hilfe die »Zivilgesellschaft« sich zu einer zwar »nicht realen«, wohl aber »symbolischen Einheit« immer wieder neu integriere. Es ist dies ein altes Muster, nach dem alle Argumentationen dieser Art gestrickt sind. Die Demokratie, so wird uns gesagt, beruhe nicht auf einer von allen Gesellschaftsmitgliedern a priori anerkannten Wahrheit, sie sei keine Angelegenheit von »Harmonie und Eintracht«, sondern lediglich ein System von »technischen Verfahrensregeln«(12), mit dem die unweigerlich auftretenden gesellschaftlichen Konflikte friedlich ausgetragen werden könnten, ohne daß dadurch der gesellschaftliche Zusammenhang selbst in Frage gestellt würde. Bereits Schumpeter argumentiert so. Auch er hebt an mit dem obligatorischen Fußtritt gegen den von ihm empiristisch aufgefaßten »Gemeinwillen« Rousseaus, um am Ende bei den »Spielregeln«, bei dem erforderlichen »Maß an Toleranz gegenüber anderen Ansichten« und bei der »Treue zu den Strukturprinzipien der bestehenden Gesellschaft« zu landen(13).

Nicht der gemeinsame Inhalt, sondern die gemeinsame Form ist es, auf welcher die Demokratie beruht. So lautet das Credo all der pluralen Demokraten. Und zum Funktionieren dieser Form halten sie etwas für erforderlich, das ihnen das blanke Nichts zu sein scheint, ein Minimum von Voraussetzung, das nun wirklich keinerlei ideologischen Ballast mehr enthalte, und das jedem Menschen qua dieses seines Menschseins unmittelbar zumutbar und einsichtig sein müßte: die »wechselseitige Anerkennung der Mitglieder der Zivilgesellschaft als freie und gleiche Individuen« (S. 103). Nicht, daß ich dieser formalen Definition widersprechen würde, nur eben: ich nehme sie immer schon im »Seins«-Modus wahr, und dabei entsteht nun mal – nach zweihundert Jahren »Verwirklichungsgeschichte« – der Eindruck, daß Freiheit und Gleichheit sehr wohl als etwas bestimmtes, als ein ganz spezifischer historischer Inhalt aufzufassen sind. Daß es ein »Band« geben muß, »vermittels dessen Demokratie und Kapitalismus in der Geschichte gleichzeitig auftraten«, ist selbst schon dem amerikanischen Außenministerium aufgefallen(14). Unsere Modell-Demokraten aber meinen, mit Freiheit und Gleichheit das äußerste an Unbestimmtheit, die Abwesenheit jedweder inhaltlichen Festlegung bezeichnet zu haben. Jedenfalls proklamieren sie in diesem Zusammenhang eine Gesellschaft – Verzeihung: das Modell einer Gesellschaft, die alle aus einem »metaphysischen Jenseits« (S. 103) hergeholten Bestimmungsgründe von sich getan hat, die, »von jeglicher Vormundschaft befreit« (ebd.), »ihre Geschichte« wirklich und wahrhaftig »selbst bestimmen kann« (S. 90): ohne »heteronome Ordnungsprinzipien« (ebd.), ohne die »transzendenten Sinn- und Verpflichtungssysteme« (S. 165) der Vergangenheit.

Der Absicht nach ist das nicht schlecht gedacht. Per »Menschenrechtserklärung« zu einer »pluralen Zivilgesellschaft«, die »von der Autorität der Macht unabhängig und autonom kommunikations- und handlungsfähig wird« (S. 102). Freilich, mit der »Autonomie« ist das so eine Sache. Auch der geworfene Stein kann sich nach dem berühmten Bild von Spinoza für autonom halten. In Unkenntnis des Werfers mag er die Illusion haben, daß seine Flugbahn lediglich aus dem Zusammenwirken der Natur und seines eigenen freien Willens resultiert. Die Autonomie oder Freiheit ist kein absoluter, sondern ein historisch relativer Begriff. Das menschliche Handeln findet bekanntlich immer in den Grenzen der Natur statt, und es kommt deshalb sehr darauf an, was eine Zeit für »natürlich« hält und was nicht. Solange die Sklaverei als eine Naturtatsache galt, war sie die Bedingung der Freiheit. Was eine Geschichtsepoche ihre »Freiheit« nennt, sagt uns also ebenso gut etwas darüber, in welchen institutionellen, von ihr für »natürlich« angesehenen Schranken sie sich bewegt. So gewendet, gibt uns auch die Autonomievorstellung der pluralen Demokraten zunächst einmal bloß darüber Auskunft, daß sie einen bestimmten Rahmen, nämlich denjenigen der »Menschenrechte«, nicht zu überschreiten gedenken. Da es der freie Wille ist, der im Zentrum aller Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen steht, markiert dieses Axiom also die Grenze, über die hinaus es für sie kein Weiterkommen gibt. Wenn der freie Wille auf der Ebene eines jeden einzelnen Individuums wirksam ist (»wechselseitige Anerkennung«), muß es ihnen daher so vorkommen, als sei das Ende aller Mystifikation erreicht(15).

Dieser Schein verschwindet, sobald wir den freien Willen selber noch historisch relativieren und ihn einer spezifischen, nämlich der auf der Warenproduktion beruhenden Gesellschaftsformation zuordnen. Der freie Wille wäre dann der subjektive Reflex von Produktionsverhältnissen, in denen die »Werteigenschaft« aller Dinge den fetischistischen Schein einer unhintergehbaren Objektivität angenommen hat: wertkonstituierte bzw. Warenbesitzer-Subjektivität. Wir hätten dann allerdings eine Gesellschaft, die am »Ort der Macht« eine Leerstelle besitzt (S. 116). Ein »politisches Subjekt«, das dauerhaft und »autoritativ« den »Volks- oder Allgemeinwillen« oder irgendeine andere »kollektive Identität« (Klasse, Rasse) verkörpern würde, wäre nicht mehr vorhanden. Der Gemeinwille wäre wirklich »gemein« geworden, entlassen in die Gesellschaft, aus dem Zustand der Zentralisation, wo er für die Individuen eine äußere Macht und ein äußeres Sollen war, übergegangen in den der Dispersion, wo er für jedes einzelne der gesellschaftlichen Individuen das Schibboleth seiner Freiheit ist. Aber dies wäre dann kein Beweis für die Autonomie der Gesellschaft, sondern nur ein Zeichen dafür, daß sie weitestgehend den »Sachzwängen« der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen ist. Erst wenn das Geld für alle individuellen Bedürfnisse das selbstverständlich vorausgesetzte Mittel geworden ist, ist es auf der Ebene der Gesamtgesellschaft ihr Zweck geworden. Erst jetzt funktioniert die Wertbewegung automatisch, und erst wenn sie automatisch funktioniert und also alle soziologistisch definierten »Kollektivsubjekte« à la »Kapitalistenklasse« hinter und unter sich gelassen hat, hat es die Fetischform des Werts zur Vollendung ihrer gesellschaftlichen Hegemonie gebracht. Und erst in diesem Moment kann überhaupt die Subjektform des freien Willens auf der Ebene jedes einzelnen Individuums angelangt sein: ein Zustand, der nichts anderes besagt, als daß die gesellschaftlichen Imperative jetzt nicht mehr im Namen einer übergeordneten Willenssubjektivität aufzutreten vermögen. Der freie Wille wäre ja keiner, wenn er sich einem anderen Willen zu fügen hätte. Es ist die petitio dieses seines principii, daß ihm nur dasjenige als notwendig einleuchtet, was die Form der Objektivität besitzt. Und genau diese Forderung wird – für ihn – von der kapitalistischen Tautologie der Wertverwertung erfüllt. Für die von der Wertform konstituierte Subjektivität erscheint der von der Wertbewegung ausgeübte Zwang als die objektive (»natürliche«) Bedingung ihres Handelns. Diese »Objektivität« und jene »Subjektivität« entsprechen einander, sie sind das Erscheinen des gleichen gesellschaftlichen Fetischverhältnisses als ihres gemeinsamen Wesens. Und Freiheit und Gleichheit, von der »inhaltlich« aufgefaßten Ideologie zur »formalen« Struktur geworden, würden nur anzeigen, inwieweit sich dieses Fetischverhältnis weltweit durchgesetzt hat. Sie würden nicht etwa das Ende, sondern den geschichtlichen Höhepunkt der Subjektillusion markieren(16).

Entsprechend kolossal muß auch das Traumtänzertum unserer Modell-Demokraten ausfallen, die ich von jetzt ab vielleicht schon als »die letzten« titulieren sollte. Weil sie buchstäblich gefangen sind in der Struktur von Freiheit und Gleichheit, weil diese Struktur es ist, die die Form ihres Denkens konstituiert, können sie sich dazu nicht äußerlich verhalten. Was für uns das Moment einer bestimmten Gesellschaftsformation ist, ein historisch abgrenzbarer und damit auch endlicher Gegenstand(17), das macht sich bei ihnen bemerkbar als ein systematischer blinder Fleck, der sich in alle ihre Wahrnehmungen hineinmischt. Die Gesellschaftsformation, deren bewußtloses Erscheinen sie sind, ist zugleich und notwendigerweise auch die ideologische Brille, die diese Gesellschaftsformation aus ihrem Bewußtsein ausblendet. Von der internationalen Schuldenkrise und dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Exportmärkte über die Instabilität der atomar gerüsteten GUS-Länder bis zu den diversen Aspekten der Umweltzerstörung: nichts von diesem kapitalistischen Krisenszenario vermag sie aus ihrer theoretischen Idylle zu reißen. »Im symbolischen Dispositiv der Demokratie ist die Geschichte der Gesellschaft … eine unbestimmte, unabschließbare und zukunftsoffene Geschichte« (S. 120). Einer Gesellschaft, die unter dem Knüppel des Werts vor keiner Wahnsinnstat gefeit ist, die sich buchstäblich festgefressen hat in den Zwängen des Weltmarkts, die keinerlei Entwicklungsperspektive mehr besitzt, bescheinigen sie allen Ernstes, »das Theater eines unbeherrschbaren Abenteuers geworden« zu sein (ebd.). Unbeherrschbar wohl, es braucht aber schon den Marlboro-Mut eines hirnlosen Spätyuppies, damit man sich angesichts einer schwarzen Wand das prickelnde Gefühl von Freiheit und Abenteuer einreden kann. Allein der Struktur wegen, in welcher sich die Zwänge der Wertbewegung mit noch nie zuvor erreichter Effektivität und Geschwindigkeit geltend machen, nehmen sie überhaupt keine Zwänge mehr wahr. Im gleichen Augenblick, da die gesellschaftlichen Individuen diesen Zwängen unvermittelt und ohne ideologische Verklärung oder Verbrämung ausgesetzt sind, werden sie für autonom erklärt.

3. Fata Morgana oder: Der Weg der Partei im allgemeinen

Genug davon. Wir haben noch ein weiteres Resultat zu verzeichnen, unser Partei-Thema betreffend. Durch den wertanalytischen Zugriff auf Freiheit und Gleichheit ist das gesellschaftliche Totum wieder sichtbar geworden. Dies zum einen. Sichtbar geworden ist aber auch, daß dazu eine Änderung des Seh-Modus erforderlich war. Man kann es einen methodischen Standpunkt- oder einen Paradigmenwechsel nennen: vom Allgemeinwillen, verstanden als ein bestimmter, vernünftiger, einsichtiger etc. Bewußtseinsinhalt, hin zum Allgemeinwillen als zu einer homogenen gesellschaftlichen Struktur, die vor allem bestimmten Inhalt immer schon die Form des entsprechenden Bewußtseins konstituiert. Die Vergesellschaftung der Menschen läßt sie nämlich entgegen all den Legenden vom »unveränderlichen alten Adam« nicht, wie sie einmal waren, sie kann kein dem Denken, Fühlen und Meinen äußerlicher Vorgang bleiben. Sie ist daher nicht anders als unter Einschluß der jeweiligen »Subjektform« zu verstehen. Nicht nur der »Gegenstand«, sondern auch das Bewußtsein, das nach ihm fragt, muß sich im Fortgang des Vergesellschaftungsprozesses verändern. Weil natürlich – Hegel hat es längst gewußt – Denken (gesellschaftlich) und Sein (gesellschaftlich) im Rahmen ihres gesellschaftlichen Totums (das freilich zum Entstehen sowohl wie zum Gedachtwerden seine angemessene Zeit benötigte) immer schon identisch sind.

In dieser allgemeinen Überlegung zum Erfordernis des theoretischen »Paradigmenwechsels« scheint mir bereits die Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem Ende der Zielbewußtheit oder Zielgerichtetheit der politischen Partei zu liegen. Wir können uns jetzt eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie ihr historischer Weg – von der Zielgerichtetheit zur Ziellosigkeit, könnte man ihn überschreiben – korrekterweise zu denken ist. Offensichtlich ist er nach dem »Modell« der Fata Morgana gebaut. Die Fata Morgana ist bekanntlich eine atmosphärische Erscheinung, die dem Reisenden ein Bild vorspiegelt, das durchaus eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat, nur eben in grob verzerrter Dimension. Ist der Reisende an dem Ort angelangt, an dem sich nach seinem ursprünglichen Eindruck die Oase eigentlich befinden müßte, ist das schöne Bild verschwunden.

In vieler Hinsicht paßt diese Metapher auf die Geschichte der politischen Partei. Am Anfang ist ein äußeres Ziel vorhanden, das die Richtung der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung angibt, und es ist auch eine Bewegung oder vielleicht besser, weil mehr auf die politische Subjektivität abhebend: eine Bewegtheit in diese Richtung hin vorhanden. Die Vernünftigkeit von Freiheit und Gleichheit steht den Protagonisten der bürgerlichen Epoche als ein lebenspralles, unwiderstehliches Bild vor Augen. Man denke an die berühmte barbusige Dame namens »Freiheit« in dem Gemälde von Delacroix. Im Namen von Freiheit und Gleichheit wird zielgerichtet, eindeutig und ohne Skrupel gehandelt: wird der König geköpft, kommt die Aristokratie an die Laterne, werden die Kulaken ausgerottet, werden die Leiden von Krieg und Bürgerkrieg geduldig ertragen. Wenn in dieser Epoche – mit Höhepunkten natürlich, die zeitlich von Land zu Land differieren – die politische Bewußtseinsform des Sollens und Wollens im Vordergrund stand, der Tatmensch, der Aktivist, der Voluntarist, so spiegelte sich darin das entsprechend bewegte Sein. Freiheit und Gleichheit (die Tautologie der Wertverwertung) waren auf dem Weg, sich durchzusetzen.

Aber am Ende des Weges ist das schöne Bild zerplatzt wie eine Seifenblase. Statt barbusige Dame: Luhmann, Systemtheorie. Und die hochgestimmten Politstrategen (die sich 1968 mit allen möglichen Jahreszahlen schmückten, nur nicht mit der von 1968) haben es plötzlich mit erbitterten »Partnerinnen« zu tun, die sich weder für symbolische noch für andere Zwecke instrumentalisieren lassen. Freiheit und Gleichheit können kein gesellschaftliches Sein haben, ohne zugleich auch das gesellschaftliche Bewußtsein zu tangieren. Was uns soeben noch als ein äußeres Ziel gegenüberstand, das ist, zur Wirklichkeit geworden, eine gesellschaftliche Struktur, die nicht zuletzt auch das moderne Ich-Bewußtsein konstituiert, unser Bewußtsein. Die ganze überlieferte Konstellation hat sich damit umgewälzt. Die Prinzipien, zu deren Verwirklichung die Politik einmal angetreten war, sie befinden sich mit einem Mal im Rücken – und eben nicht bloß im Rücken der Politik, sondern im Rücken aller per Wert vergesellschafteten Individuen überhaupt.

Über Jahrhunderte hinweg hatte der Dualismus von Subjekt und Objekt Zeit gehabt, sich auszubilden. Die politischen Institutionen, die während dieser Epoche entstanden sind, wurden mit der größten Selbstverständlichkeit unter der Zugrundelegung dieses Dualismus gedacht: als »Instrumente« oder als einander ausbalancierende Gewichte und Gegengewichte von »Machtsubjekten«, die etwas wollten, die ein Ziel verfolgten. Ganze Bibliotheken wurden mit politischer Philosophie angefüllt – immer unter der mehr oder weniger stillschweigenden Voraussetzung, daß hier ein »Subjekt« sich befindet, das jenes »Objekt« dort notwendiger-, natürlicher- und vernünftigerweise anstreben, erreichen und verwirklichen sollte. Und jetzt, nachdem alle politischen Institutionen sich ihrem dualistischen Herkommen gemäß ausdifferenziert haben, nachdem jedes Kind diesen Dualismus beherrscht, nachdem er sich zum tief eingeschliffenen Denkreflex verfestigt hat, jetzt ausgerechnet ist das, was eben noch ein heiß umstrittenes Objekt war, ein sichtbares Gegenüber, wie es schien, zum Apriori geworden: als Ziel abhanden gekommen, weil es bei allen von den modernen Subjekten etwa ins Auge gefaßten Zielen immer schon vorher da ist: ihr freier Wille in der keineswegs freien Form des Werts, jene allerdürftigste Bestimmung von Individualität, auf die die verheißungsvollen Konzepte der Philosophie, ihrem universalistischen Anspruch gemäß, hinauslaufen mußten. Aus allen anderen Verbindlichkeiten außer derjenigen des Geldes entlassen, ist die moderne Subjektivität nichts anderes mehr als der Zurechnungspunkt eines freien und als solchen dann natürlich für alle Individuen auch gleichen Willens.

Wenn wir uns die mit Freiheit und Gleichheit verbundene Sinnestäuschung näher ansehen, werden wir finden, daß sie in einem engen, meines Erachtens sogar notwendigen Zusammenhang mit eben dieser Kategorie des freien Willens steht. Eine dualistische Konstellation ergibt sich zwangsläufig, sobald wir etwas wollen. Wenn wir uns zum Willen nicht reflexiv, sondern sozusagen exekutiv verhalten, also im eigentlichen Sinne uns zu ihm überhaupt nicht verhalten, sondern statt dessen uns wollend verhalten, unseren Willen schlicht und einfach betätigen, deckungsgleich mit ihm sind, dann verdichtet sich dasjenige, worauf er gerichtet ist, ganz von selbst zu einem abgrenzbaren Etwas, das mit allen Attributen der Gegenständlichkeit oder Dinghaftigkeit ausgestattet ist. Dazu gehört nicht zuletzt, daß der betreffende Gegenstand sich außerhalb von uns befindet, daß wir mit ihm nicht identisch sind – wir das Subjekt, er das Objekt. Die Bewegung, die dieser Konstellation entspricht, folgt einer logischen Figur, die ich mit Kant als die Figur des »hypothetischen Imperativs« bezeichnen möchte. Gelegentlich spricht Kant von einem »Imperativ der Geschicklichkeit«, und man könnte auch zur noch weiteren Verdeutlichung »Wenn-dann-Imperativ« oder »Zweck-Mittel-Imperativ« dazu sagen. Wenn du einen Schrank haben willst, so sagt mir dieser Imperativ, dann mußt du unter den gegebenen Umständen etwa in den Wald gehen, einen Baum fällen, Bretter schneiden und sie nach bestimmten Regeln bearbeiten usw. usf. Unter bestimmten anderen Umständen werde ich etwa ins Möbelgeschäft gehen, mir einen Schrank aussuchen und ihn anschließend bezahlen müssen. Gleichviel, kennzeichnend für diese Art von Imperativ ist sein endlicher Charakter. Die Bewegung endet in dem Augenblick, in dem das Ziel erreicht, der Zweck erfüllt ist.

Vertrackt nun, wenn wir unseren Willen auf ein Etwas richten, das in dieser Dinghaftigkeit nicht so ohne weiteres aufgeht. Auf einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand etwa, der jenen gesellschaftlichen Wesen, die wir, bei ihm angekommen, logischerweise sein werden, nicht äußerlich sein kann. Und vollends vertrackt, wenn, wie es bei der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft der Fall ist, dieser Zustand in allen seinen Institutionen ausgerechnet die Subjektform des freien Willens als sein zentrales Strukturelement zugrundeliegen hat. Der Wille zielt immer von sich weg auf ein Etwas hin, aber dort, wo ihm der ideale oder vernünftige Gesellschaftszustand erreicht zu sein scheint, befindet sich im wesentlichen – er selbst.

Für das im Verlauf der bürgerlichen Entwicklung ausgebildete Bewegungsempfinden kann sich diese Ankunft nur als Desaster bemerkbar machen. Auf der Ebene der Haupt- und Staatsaktionen, des »allgemeinen Willens« also, ist uns die Bewegtheit abhanden gekommen, aber auf der Ebene der »Gesellschaft« hat das Wollen einen exorbitanten Zulauf erhalten. Der freie Wille ist gleichmäßig bei jedem einzelnen der modernen Individuen angekommen, und wie es die Logik dieser Subjektform will, stehen ihr in der bunten Fülle der Warenwelt auch die zugehörigen Dinge überreichlich zur Verfügung. Und auf sie hin ist die neue Bewegtheit ausgerichtet. Es ist ein konfuses, ungeordnetes Bewegtsein entstanden, das vom Standpunkt der herrschenden Subjektform aus keinerlei Sinn und Richtung mehr zu erkennen gibt. Restlos absorbiert von endlichen Zielen, ist es bei deren unübersehbarer Vielfalt gleichwohl ziellos geworden und auf Dauer gestellt. In der Gestalt des »rasenden Stillstands« (Paul Virilio) scheinen wir einen Zustand erreicht zu haben, bei dem die Unendlichkeit selbst ins Diesseits eingebrochen ist. Warum das so sein muß, zeigt ein Blick auf die dem Kapitalismus eigene Verdinglichungspotenz.

Daß der entfaltete Kapitalismus selber kein Ding ist, aber den Reichtum durchgängig als einen von Dingen produziert, ist bekannt. Es handelt sich aber nicht nur darum. Vielmehr wird im Kapitalismus auch die Form der Dinglichkeit bzw. Gegenständlichkeit als solche produziert, zusammen mit und komplementär zu der entsprechenden Subjektform(18). In der spätkapitalistischen Gesellschaft tendieren alle Lebensäußerungen, selbst noch die Gefühle, dahin, als kalkulierbare Rechengrößen von bestimmtem Gewicht und Umfang angesehen und behandelt zu werden. Und da die Dinge mit den Personen nicht identisch sein können, ist eine Konstellation entstanden, bei der das Streben und Trachten zur Daueraufgabe der Ware-Geld-Individuen geworden ist. In der Dingform ist aller Inhalt, alle Qualität, immer schon als ein Außen und Gegenüber bestimmt, als etwas, das den Individuen nicht a priori gehört, als Nicht-Ich gleichsam, dessen das Ich vermittels der Wertform, also unter Aufbietung seines freien Warenbesitzerwillens, erst noch habhaft werden muß. Und in diesem Sinne befinden sich die modernen Individuen ständig auf dem Weg. Ständig sind sie damit beschäftigt, jenem Mangel abzuhelfen, als welcher sie von Freiheit und Gleichheit konstituiert wurden. Was das bewußte Wollen anlangt, sind die Individuen restlos nach außen orientiert, immer in Unruhe, immer in Hektik, rastlos bestrebt, anderswohin zu gelangen, zu den Dingen, dorthin, wo es unvergleichlich viel schöner sein muß. Bei der »Leerstelle a priori«, die das moderne Ich darstellt, ist dieser Impuls nur allzu verständlich. Es reicht daher nicht, wenn wir die Ware-Geld-Individuen als Punkte bezeichnen, sie sind ebensoviele Ausgangspunkte, und sie sind es kategorisch: in ihrem praktischen Verhalten verdächtig nahe herangerückt an jene »sich gänzlich von selbst bestimmende Kausalität«, an jenes »Vermögen absoluter Spontaneität«, das Kant allem Wollen als sein reines, apriorisch zu denkendes Prinzip zugrundeliegen sieht(19).

Freilich ist Kant ein unfreiwilliger Zeuge für diese Befindlichkeit des modernen Individuums. Seinem historischen Ort entsprechend dachte er das Prinzip des freien Willens weniger als ein Sein, denn als ein Sollen: als jene »Freiheit im strengsten, d.i. transzendentalen Verstande«, die er in seinem berühmten kategorischen Imperativ allen vernünftigen, d.h. willensfähigen Wesen als ihre moralische Pflicht vorhielt. Im Interesse seiner eigenen Freiheit muß sich jeder Inhaber eines freien Willens vernünftigerweise diesen selbst zur Richtschnur nehmen, das heißt, die Freiheit muß zur Norm, zum Gesetz erhoben werden. Das Gesetz, die Form der Allgemeinheit, ist für Kant der Inbegriff der Vernunft. Da nun aber die Freiheit ihrem Begriff nach »gänzlich unabhängig (ist) von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität« (S. 138) – es handelt sich gleichsam um die »Idee der Unbedingtheit schlechthin« -, kann sie, als Gesetz formuliert, nur in der gänzlich leeren »Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt« münden(20).

Inzwischen hat sich diese »allgemeine gesetzgebende Form« (ebd.) der gesellschaftlichen Wirklichkeit bemächtigt, und es ist offensichtlich das Schicksal der bürgerlichen Epoche, daß ihr die Ideale, die sie anfangs für einen reichen philosophischen Inhalt hielt, im Prozeß der Realisierung zum glatten Gegenteil geraten müssen. Am Ende herrscht die grausame Armut der Abstraktion, und das Gefühl der Enttäuschung und der verlorenen Illusionen kennzeichnet die gesellschaftliche Atmosphäre. In diesem Sinne hat der Kantsche kategorische Imperativ gründlich zugeschlagen. Indem er sich zur gesellschaftlichen Struktur freier und gleicher Individuen verwirklichte, mußte auch die zugehörige Idealität zum allgemeinen Vorurteil werden. Alle Institutionen des modernen Rechtsstaates sind zugeschnitten auf die vereinzelte, als verträgeschließende Willensmonade und sonst nichts unterstellte Rechtsperson. Und alle vom Geld gehetzten Menschen haben gelernt, daß sie im Zeichen ihres freien Willens mit der anonymen Zumutung fertig werden müssen, »selbstverantwortliche« und »autonome« Individuen zu sein. Das Ideal von Freiheit und Gleichheit ist gesellschaftlich etabliert, das Gefühl, daß ihm nichts Irdisches genügt, am wenigsten die eigene Person, ebenso.

Aber selbst hier, bei der Bestimmung dessen, was ihnen fehlt, unterliegen die Individuen einer Sinnestäuschung. Es ist schon richtig, wenn sie unzufrieden sind, sie haben allen Grund dazu, sie sind tatsächlich Mangelwesen. Was sie arm macht, ist aber nicht der Mangel an Autonomie oder an Selbstbewußtsein oder wie die Modediagnosen sonst noch zu lauten pflegen, sondern es ist die gesellschaftliche Form, in welcher sie von dieser Autonomie und von diesem Selbstbewußtsein längst schon zuviel haben. Aus alter Gewohnheit wird immer noch Kant in Anspruch genommen, und des Jammerns über das Defizit an demokratischer Freiheit und Gleichheit ist kein Ende. Was die Menschen aber wirklich umtreibt, dürfen wir nicht erwarten, von der herrschenden Ideologie mitgeteilt zu erhalten, in der sie darüber radebrechen. Das immer noch weitere Sollen der Form ist zu einem leeren Geklapper geworden, veranstaltet von berufsmäßigen Klageweibern, die daran selbst nicht mehr glauben. Unter der Hand hat sich ein ganz anderer Imperativ eingeschlichen, nicht minder kategorisch als der von Kant formulierte, und er ist mit der Form der von Freiheit und Gleichheit erzeugten Individualität selbst gesetzt: ein ewiges Verlangen und sich Verzehren nach dem Inhalt, das als ewig nicht zu befriedigendes die modernen Individuen permanent in Bewegung hält.

Alles Hetzen und Hasten hilft ihnen aber nichts, sie können bei den »Erscheinungen der Sinnenwelt«, auf welche ihr Wollen etwa gerichtet ist, niemals ankommen. In der Dingform läßt sich der Reichtum nur als ein Ansammeln von äußeren Attributen erwerben, die »autonomen Individuen«, solange sie als immer schon vorher fertige und handlungsfähige Subjekte unterstellt werden, bleiben davon unberührt. Subjekt und Objekt, von der gleichen Wertform konstituiert, sind kategorisch voneinander getrennt. Ihre Vereinigung, der sinnliche Genuß, findet anderswo statt. Das abstrakte Individuum, immer auf dem Sprung, seine Chance zu nutzen, besitzt einfach nicht die für den Genuß nötige Ruhe und Zeit. Das Geltenlassen der Gegenwart ist von ihm schlechterdings nicht zu »leisten«. Die stoffliche Seite der Realität kann von der offiziell etablierten Struktur nicht erfaßt werden, sie ist dafür gleichsam nicht zuständig. Und das bleibt keine theoretische Aussage(21) – unter der Diktatur der Wertform stellt sich das Gefühl der Leere und Unausgefülltheit auch faktisch ein(22). Weshalb der späte Kapitalismus die ironische Konsequenz hervorgebracht hat, das »Genießen-Können« selber noch in den Rang einer wettbewerbsfähigen Disziplin zu erheben. Ihr angemaßter Universalismus treibt die Wertform dazu, die strukturelle Askese, die sie darstellt, auch noch selbst beheben zu wollen. Und es steht natürlich außer jedem Zweifel, daß der industriell hergestellte Kult des Hedonismus, der sich neuerdings breitgemacht hat, an der ursächlichen Qual nichts zu lindern vermag. Mit dem Anwachsen des äußeren Reichtums scheint das Gefühl der Leere im Gegenteil nur immer noch mehr um sich zu greifen. Je mehr sich die Welt in der Dingform präsentiert, desto größer der Verdruß, der sich diesseits davon befindet, bei den ach so selbständigen und unabhängigen Individuen. Sie rasen und rennen und strengen sich an, und ernten doch nichts weiter als die dementsprechende Erschöpfung. Immer noch mehr Dinge des »guten Lebens« gilt es zu beschaffen, und gleichzeitig wächst das schwarze Loch des Zweifels, der ihnen zuraunt: vergeblich.

Im Problem der Sinnlichkeit und ihrem kategorischen Unbefriedigt-Sein besitzt die kapitalistische Tautologie der Wertverwertung offensichtlich die ihr gemäße Entsprechung auf der Ebene des einzelnen Individuums. Dem Mehr des Werts, das die Ware-Geld-Individuen gleichsam als ein »äußerer« Imperativ beherrscht, springt eine Bedürfnisstruktur dieser gleichen Individuen zur Seite, die jenen Imperativ »innerlich« ergänzt. Beide Male lautet der Befehl: Bewegt Euch! Ist das Verwerten des Werts aber eher eine immanente Bewegung, weil sich hier die Form zunächst einmal selber genug ist und nur ihr eigenes Mehr zum Ziel hat, so besitzt der Bewegungsimpuls der abstrakten Willenssubjektivität von vornherein ein transzendentes Moment. Hier steht die Form unmittelbar als solche zur Debatte, als notorische Inhaltslosigkeit erzeugt sie das Begehren und seine Enttäuschung gleichermaßen – ein fruchtbarer Boden für ontologische Spekulationen über die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens(23).

Der traditionelle Sozialismus und überhaupt die rationale, fortschrittsgläubige Seite des bürgerlichen Denkens pflegte sich von den Selbstzweifeln des modernen Individuums nicht behelligen zu lassen. Geprägt vom protestantisch-nüchternen Geist der »Sachlichkeit« war der aufklärerische Impuls auf »handgreifliche Ergebnisse« gerichtet. Den Gefühlen »nachzugeben« galt als Schwäche, sich in Träumen zu »verlieren« als Zeitverschwendung. Und zumal die alte Arbeiterbewegung, die sich bei ihren Bestrebungen am Bild des physischen Hungers orientierte, berechtigterweise übrigens, sah im Akt der »individualistischen Selbstbespiegelung« ein Ärgernis. Halb mit Grauen, halb mit Verachtung kehrte sie einem Problem den Rücken, das ihr nur aus dem Überdruß satter Spießer oder aus den kranken Gelüsten dekadenter, von keinem Sinnenkitzel mehr zu belebender Bohemiens zu entspringen schien.

Gleichwohl war der »Blick nach innen« der einzige, der in der hinter uns liegenden Epoche über die Wertabstraktion hinauszureichen vermochte – freilich, ohne ihr deswegen entkommen zu können. Auch wieder ungetrübt vom Bewußtsein der eigenen gesellschaftlichen Form, prallte er unvermittelt auf dasjenige, was ihm als sein »ganz Anderes« erscheinen mußte: auf eine vermeintlich archaische »Natur«, die man in ihrer triebgefährlichen Urtümlichkeit wohl zu Recht als eine Karikatur bezeichnen darf. Die Sinnlichkeit war im Visier, aber bloß als Prinzip, als eine »Sinnlichkeit überhaupt«, die sich in abstrakter Entgegensetzung zur »Gesellschaft überhaupt« befand. Nietzsche fing an, von seiner »bluttriefenden blonden Bestie« zu schwärmen, und Freud nickte anerkennend, weil er sah, daß es da in der Tat etwas zu domestizieren gegeben hatte. Die bürgerliche Zivilisation ist die menschliche Zivilisation schlechthin – und so präsentiert uns denn die Psychoanalyse eine Aporie, die da lautet: Mensch oder Tier. Entweder sind es die gesellschaftlichen »Konventionen«, die uns – qua »Verinnerlichung« – Gewalt antun, oder es sind – qua gegenseitigen Niedermetzelns – die Triebe. Dann, so sagt der gesittete Bürger, doch lieber das erste – und wieder einmal laufen alle Schmerzbekämpfungsprogramme aufs Bewußtmachen und Bewußtwerden dessen hinaus, was unabänderlich ist. Der Trost der Philosophie wurde abgelöst von demjenigen der Therapie. Der bürgerliche Rationalismus, bis dato ein Männerklub, wandte sich seiner eigenen Schattenseite zu, dem (weiblich besetzten) Reich der abgespaltenen Sinnlichkeit, und mit der bewährten methodischen Gründlichkeit begab er sich auch hier ans Kolonisieren: der Frauenanteil in der Therapieszene liegt auch heute noch bei siebzig bis achtzig Prozent.

Aber wie dem auch sei, den kleinen Abstecher ins Feld der weiland »Kulturkritik« hatte ja nicht die Psychoanalyse, sondern unsere Partei und ihre mißliche Situation veranlaßt. Wir waren dabei, die Ätiologie jener historischen Reisekrankheit zu klären, die wir momentan durchmachen – als eine KRISIS, deren Ausgang noch durchaus ungewiß ist. Die Reise begann, so können wir jetzt vielleicht sagen, unter dem Vorzeichen des hypothetischen Imperativs und sie endete bei jenem »Immer schon« einer apriorischen Struktur, das vom kategorischen Imperativ Kants beschrieben wird. Der politische Wille war auf das Sein eines idealen Zustands gerichtet, und die Bewegung dahin folgte dem Muster des Dualismus von Subjekt und Objekt. Unwillkürlich (und den Warnungen der Philosophen zum Trotz) wurde das Ziel in der Form eines äußeren Dinges gedacht. Die diversen Avantgarden der bürgerlichen Gesellschaft hatten jeweils Ideale, Modelle und Konzepte vor Augen, und sie waren darauf aus, sie zu verwirklichen. Aber am Ziel angekommen, ist nicht etwa ein dingliches Objekt erreicht, sondern die Dingform ist universell geworden. Eine gesellschaftliche Struktur ist entstanden, die das Bewegtsein kategorisch gebietet. Die politische Partei ist am Ende ihrer Mission angelangt, aber eben dieses Ende ist mit dem durch die Partei zur Herrschaft gekommenen Bewußtsein, dem »Verwirklichungsdenken«, wie ich es nenne, nicht zu erfassen. Das Ende der Reise sieht im Gegenteil wie ein ununterbrochenes Anfangen aus(24). Die Menschheit ist von einer Epoche in die andere gelangt, und sie hat wieder einmal das Kunststück fertiggebracht, diesem säkularen Ereignis den Rücken zuzukehren. Dem Mond nicht unähnlich hat sie ihrem eigenen Vergesellschaftungsprozeß nur immer die gleiche Seite der dualistischen Bewußtseinsform zugewandt. Indem aber das ontologische Sein der Philosophen sich entpuppte zum Sein einer universellen gesellschaftlichen Form, der des Werts, machte das »Objekt« der in der Nachfolge des Aristoteles um sich greifenden »Subjektivität« eine unmerkliche, aber gleichwohl fundamentale Umwälzung durch: vom Gegenstand, über den nachgedacht wurde, verwandelte es sich in die gesellschaftlich herrschende Form des Nachdenkens, Wahrnehmens und Handelns selbst.

Jedenfalls ist es kein Wunder, daß jetzt das große Augenreiben anfängt, und erst recht ist es kein Wunder, daß insbesondere die politische Partei damit befaßt ist. Von Geburt an die Erfüllungsgehilfin der Philosophie, ist sie auf die Gebärde des Wegweisens gewissermaßen genetisch festgelegt. Aber es gibt für sie nichts mehr zu weisen. Alle Institutionen sind auf ihr Dasein zugeschnitten, aber wofür sie selbst einmal da war, das »Ziel«, es ist nicht mehr da. Es befindet sich zwar als der bekannte rituelle Singsang von Freiheit und Gleichheit in aller Munde, aber gerade wegen dieser phrasenhaften Allgegenwart läßt sich keine bestimmte Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung daraus ablesen. In der Weise, daß es von der alten dualistischen Bewußtseinsform erfaßt oder identifiziert werden könnte, ist es nicht mehr vorhanden. Man versteht jetzt das gewissermaßen »Wüstenhafte«, das blind Herumtapsende im Verhalten der politischen Klasse(25). Sie wird darin ihrer alten gesellschaftlichen Vorbild- bzw. Abbildfunktion durchaus gerecht. Die Epoche der Partei (und der Politik überhaupt) ist zuende, aber aus alter Gewohnheit und weil die betreffenden Institutionen noch vorhanden sind, gestikuliert man noch weiter in der bekannten Art.

Es ist wie in einem schlechten Theaterstück. Gähnende Langeweile breitet sich aus, ein Zuschauer nach dem anderen schaltet ab, verläßt den Saal, die Atmosphäre ist grauenhaft, aber »die da oben« – arme Kerle im Grunde genommen, allesamt alt und krank und dem Alkohol ergeben – müssen ihre Rolle bis zum bitteren Ende weiterspielen. Zu guter Letzt schafft man sie ins Krankenhaus oder in irgendeine chilenische Botschaft, und in der weniger glimpflichen Version zieht man ihre Leichen unter den Trümmern des einstmals hohen, dann aber – eher aus Versehen, denn aus Leidenschaft – abgefackelten Hauses hervor.

Fußnoten

(1) Claus Koch, Vakuum Europa, in: ZEIT Nr. 39, 19.9.91.

(2) Die volkstümliche Version dieses Tatbestands ist das Sprichwort: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

(3) Thomas Meyer, Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 33.

(4) ebd., S. 31.

(5) Es wird damit das von Kant so genannte »Ding-an-sich«-Problem angesprochen, wonach die Erkenntnis eines theoretischen Gegenstandes u.a. auch als Funktion des erkennenden »Subjekts«, der Beschaffenheit seines »Erkenntnisvermögens«, aufzufassen ist. Aber mit dieser Hinwendung zum »Subjekt« (zu den »reinen Formen der Anschauung a priori«) sowie zu den Kategorien des (formal-)logischen Denkens wird die theoretische Erkenntnis nicht beliebig bestimmt, es handelt sich dabei keineswegs um ein Plädoyer für den »Subjektivismus« oder »Relativismus«, wie man heute sagen würde. Es führt im Gegenteil der Weg von hier aus zum historisch-konkreten Begriff des Subjekts selber, damit aber auch zur Überwindung des Dualismus von Subjekt und Objekt, von »Theorie« und »Faktum«.

(6) Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1980 (5. Auflage), S. 399. Die amerikanische Originalausgabe ist 1942 erschienen.

(7) Meyer, a.a.O., S. 34.

(8) Friedrich Jonas, Sozialphilosophie der industriellen Arbeitswelt (1960), Stuttgart 1974, S. 135.

(9) Dieser Schritt scheint auf den ersten Blick einen gewissen positivistischen Appeal auf zuweisen – und er verdankt dem Positivismus in der Tat einiges, gleichwohl darf er damit nicht verwechselt werden. Das reziproke Verhältnis von Voluntarismus (»Sollen«) und Positivismus (»Sein«) darzustellen, ist eine eigene theoretische Aufgabe, die einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muß.

(10) Diese und die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf: Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt 1989 (edition Suhrkamp 1572).

(11) Sie wird ironischerweise immer noch im Sollens-Modus vorgetragen, mit dem altüberlieferten Gestus des Modellheckens und Konzeptanpreisens. Als gelte es, für die banale Tatsache der empirischen Interessengegensätze Propaganda zu machen und Anhänger zu gewinnen. Das, was »ist«, »soll« auch sein. Voluntarismus und Positivismus feiern Hochzeit. Selbst auch diese Ebene des Methodenstreits gibt nichts mehr her für einen Parteiengegensatz von irgendwelcher Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit Luhmann wirkt künstlich und gesucht, sie ist ein »Krampf«, wie Claus Koch sagen würde, nämlich ein ziemlich alberner Wettbewerb darum, wer es in Sachen »Offenheit und Kontingenz« (S. 154) am weitesten gebracht habe.

(12) Der Ausdruck findet sich etwa bei: Bernd Guggenberger/Claus Offe, Politik aus der Basis – Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie, in: Dieselben (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsregel, Opladen 1984 (Westdeutscher Verlag).

(13) Schumpeter, a.a.O., S. 468 u. S. 469.

(14) Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir?, München 1992 (Kindler). Fukuyama ist stellvertretender Direktor im Planungsstab des US-Außenministeriums. Sein Buch ist repräsentativ für die schon seit einigen Jahren zu beobachtende Renaissance des Historismus. Nachdem die Geschichte für die Demokratie gut ausgegangen zu sein scheint, darf nun auch der Totalitarismus seine Rolle darin spielen: als Entwicklungsetappe hin zum gelobten Land der Moderne, das dann freilich das Ende aller Geschichte markiert. Hier zeigt sich F. bei aller sonstigen Begriffslosigkeit durchaus als orthodoxer Hegelianer. Das im Text verwendete Zitat stammt aus: Claude Lefort/Marcel Gauchet, Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt 1990 (edition suhrkamp 1573), S. 90. Daß die »demokratische Herrschaftsform« nur als Moment des Kapitalismus erklärt werden kann, wird dort gerade verneint. Kein Wunder: der Kapitalismus läuft unter der traditionellen Floskel »Konfrontation antagonistischer Klassen«.

(15) Der schon erwähnte Fukuyama spricht in diesem Zusammenhang vom »Endpunkt der ideologischen Evolution des Menschen …, über den hinaus kein Fortschritt möglich ist« (a.a.O., S. 107). Dankenswerterweise legt er uns mit dieser offenherzigen Formulierung (»ideologische Evolution«) gleich selbst die Frage in den Mund, ob es denn nicht ein Weiterkommen über die Ideologie hinaus geben könnte?

(16) Selbstverständlich ist dies dann auch ein Wendepunkt. Kaum sind sie angelangt auf dem Abstraktionsniveau von Freiheit und Gleichheit, wissen die modernen Individuen auch schon nicht mehr, wer sie eigentlich sind. Die Ware-Geld-Subjektivität kann es gewissermaßen nur als zusammenbrechende geben.

(17) Sobald eine gesellschaftliche Form als solche gedacht werden kann, ist sie es schon nicht mehr. Das Denken, das sich diese Form zum Gegenstand setzt, hat sie ja bereits als seinen Inhalt. Es ist damit also nicht mehr unmittelbar, nicht mehr auf naive Weise identisch, sondern es befindet sich gewissermaßen außerhalb oder jenseits davon. Es repräsentiert somit – als immer schon gesellschaftliches begriffen – ein Vergesellschaftungsniveau, das in dieser Form nicht mehr aufgeht, das über sie hinausgewachsen ist (in diesem Sinne konnten die Gottesbeweise der Hochscholastik bereits als Frühformen des bürgerlichen Atheismus aufgefaßt werden). Im Rahmen der Philosophie haben uns Kant und Hegel diese Entwicklung bereits vorexerziert. Das Apriori der reinen, vom Denken angeblich nicht zu überschreitenden Form ist als solches bereits von Kant bedacht worden, freilich erst noch unter dem Titel der – unhistorisch aufgefaßten – Vernunft. Und Hegel hat in der Kritik dieses Apriorismus bereits gezeigt, daß die Form immer schon das allgemeinste des Inhalts selber ist – freilich erst noch unter dem Titel der »in sich reflektierten« bzw. »für sich gewordenen« Vernunft.

(18) »Wir verstehen unter >Gegenstand< alles >dasjenige<, dem ein Prädikator zugesprochen werden kann oder worauf man durch Eigennamen oder deiktische Handlungen (Kennzeichnungen) hinzeigen kann… . >Dieses hier kann also z.B. sein >diese Symphonie< oder >dieses Haus, >dieses Eiweißmolekül< oder >diese Theorie, >diese Religion< oder >dieses Wort. Wir haben keinerlei Anlaß, uns auf Beschränkungen einzulassen, die zusätzlich fordern, jedem Gegenstand müsse, damit er überhaupt ein Gegenstand ist, von vornherein …der Prädikator >sinnlich greifbar< oder sonst irgendein Prädikator zugesprochen werden« (Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, S. 42). Gegen das von Kant aufgeworfene Problem der Subjektform (reine Form der Erkenntnis a priori) gewendet, heißt es: »Um also einzusehen, daß es unsinnig ist, über die >Dinge an sich< zu spekulieren, bedürfen wir lediglich einer aufmerksamen Besinnung auf dasjenige, was wir tun, wenn wir miteinander-oder auch >denkend< mit uns selber-reden« (ebd., S. 44).

(19) Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Weischedel-Werkausgabe Bd. VII, S. 163. Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich hierauf.

(20) Im Gegensatz zu den von der »theoretischen Vernunft« formulierten Gesetzen – Hebelgesetz, Gesetz der Schwerkraft, der Fliehkraft, der Reibung etc. -, die aus der Beobachtung von Naturphänomenen abstrahiert worden sind.

(21) Daß Subjekt und Objekt erst auf der Ebene ihres gemeinsamen Konstitutionsprinzips miteinander identisch sind, wußte schon Hegel. Nur eben, daß er dieses »Identische« unter dem Titel der »Vernunft« bzw. des »Weltgeistes« nicht etwa zur Kritik, sondern zur Anbetung freigab. Immerhin war es konsequent von ihm, die einzig mögliche Sorte von Befriedigung, die mit dieser »Vernunft« verbunden sei, den sich zu ihr begrifflich emporarbeitenden Philosophen vorzubehalten. Unterhalb dieser Ebene des »absoluten Begriffs«, d.h. in der Realität der bürgerlichen Gesellschaft, »versöhnt« sich nämlich absolut gar nichts.

(22) Daß das abstrakte Individuum hohl und lebensuntüchtig ist, brachte – in massenhaftem Umfang – erst die moderne Frauenbewegung an den Tag. Gleichsam angestiftet vom geschlechtsneutralen Universalismus der demokratischen Gleichheitsforderung begaben sich die Frauen teils selber in die Männerwelt des marktgerechten Funktionierens, teils wurden sie es leid, die für die emotionalen Gestehungskosten dieser Welt allein Zuständigen zu sein. In jedem Fall brachten sie den familiären Rückhalt des Marktsubjekts zum Einsturz – damit aber auch die heimliche Bedingung, die diesem Subjekt früher einmal, als es noch ausschließlich von zwar aufgeklärten, dafür aber umso männlicheren Männern propagiert wurde, das anheimelnde Aussehen einer für alle Menschen gleichermaßen reizvollen Perspektive verliehen hatte. Im gleichen Augenblick, da mit dem abstrakten (d.h. warenförmigen) Individuum auch in jenem letzten Sinne ernstgemacht werden soll, daß es in seiner Freiheit und Gleichheit eine Parole zum Niederreißen der Geschlechterschranke wird, enthüllt sich seine praktische Unmöglichkeit. »Der Wert ist der Mann«, und seine Krise ist auch diejenige des männlich dominierten Geschlechterverhältnisses. Vgl. die diesem Thema gewidmeten Artikel in der Krisis Nr. 12.

(23) Als Thema tauchte das mit der abstrakten Willens-Subjektivität gesetzte Problem schon sehr bald auf, spätestens mit der Romantik. Es konnte damals aber aus verständlichen Gründen nur erst die Angelegenheit einer zahlenmäßig sehr kleinen Bevölkerungsgruppe sein. Die Philosophen (Kierkegaard, Schopenhauer), die seinerzeit damit anfingen, sich mit dieser Problematik zu befassen, wurden vom nachfolgenden Sozialismus sehr zu Recht als bürgerlich, d.h. aber nach meinem historischen Verständnis: als in der Fragestellung und im Problembewußtsein »zu weit« vorgeprescht, denunziert.

(24) Und es ist natürlich kein Zufall, daß von allen Lebensaltern allein das jugendliche in Ansehen steht. Wo die Spontaneität und die Beweglichkeit herrschen wie unbedingte Reflexe, besteht kein Bedarf für die bedächtige Weisheit des Alters. Jene »Reservate für Sorgfalt, Zärtlichkeit, Nachdenken«, von denen Sten Nadolnys Held John Franklin schon im letzten Jahrhundert nur träumen konnte – weniger denn je gibt es sie. Statt dessen ist es gang und gäbe, daß Sechzigjährige sich mit den äußeren Attributen »jugendlicher Spannkraft« schmücken. Eine Operation (das Wort auch mit der chirurgischen Konnotation zu nehmen, vgl. Spiegel Nr. 32 vom 3.8.92: »Der Schönheitswahn«) wie gesagt, die der Dingform keine Schwierigkeiten bereitet.

(25) Ich habe dabei das Titelbild des SPIEGEL Nr. 16 vom 13.4.92 vor Augen. Es zeigt drei Politikerfiguren (Genscher, Kohl, Engholm), wie sie, eine Blindekuh-Binde vor Augen, hilflos mit den Armen rudernd in dichtem Nebel umherstolpem.