31.12.1995 

Die globale Gesamtfabrik: Ein irres Unternehmen

Vom warenförmigen Gesellschaftsmoloch zur dezentral vernetzten Welt

aus: Krisis 15 (1995)

Norbert Trenkle

Zitation: Trenkle, Norbert: Die globale Gesamtfabrik: Ein irres Unternehmen. In: Krisis 15, Bad Honnef 1995, S.79 - 94. URL: www.krisis.org/1995/die-globale-gesamtfabrik-ein-irres-unternehmen/

1.

Daß das auf unablässige Expansion ausgelegte westlich-marktförmige Gesellschaftsmodell zunehmend die Grundlagen menschlichen Lebens untergräbt, ist längst kein Geheimnis mehr. Bis in die Spalten der Regenbogenpresse ist diese Einsicht mittlerweile vorgedrungen, und dies ist auch nicht weiter verwunderlich. Ob die beschleunigte Erwärmung des Weltklimas, die scheinbar unaufhaltsame Vergiftung der Meere und des Grundwassers, der jährliche Hungertod von Millionen von Menschen in den Ländern des Südens oder der rapide soziale Zerfall in den Zentren der Weltmarktvergesellschaftung nicht weniger als an ihren Rändern: Wo immer der Blick hinfällt, die Katastrophe ist fast schon zum Normalfall geworden.

Das Paradoxe an dieser Situation ist freilich, daß die warenproduzierende Weltgesellschaft gewissermaßen sehenden Auges in den Abgrund rast. Mehr als 20 Jahre ist es her, daß der erste Bericht des Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« die Öffentlichkeit aufgeschreckt hat, und seitdem ist das Wissen um die globalen ökologischen und sozio-ökonomischen Verkettungszusammenhänge um ein Vielfaches angewachsen. Dennoch aber wurden die grundlegenden Strukturen der selbstläufigen, blinden Wachstumsmaschinerie nicht nur nicht verändert, die Destruktionskräfte haben sich vielmehr noch potenziert. Wenn im täglichen Durchschnitt 100 Tier- und Pflanzenarten aussterben, 55 000 Hektar Tropenwald vernichtet und rund 100 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft geblasen werden, dann heißt dies nichts anderes, als daß die angeblich aufgeklärteste aller bisherigen Zivilisationen nicht dazu in der Lage ist, ihre fundamentalen Probleme auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen. Nützt also all das angehäufte Wissen um die drohenden Gefahren rein gar nichts? Haben die zunehmend resignativen Kommentare in der liberalen ebenso wie in der konservativen Presse recht, die achselzuckend feststellen, »die Menschheit« sei eben einfach zu »unvernünftig« und zu »uneinsichtig«, gar ein »Fehlgriff der Evolution«, und ihr selbstbereiteter Untergang daher leider nicht mehr abwendbar?

Dagegen gilt es zunächst einmal festzuhalten, daß der in Krisensituationen regelmäßig um sich greifende Kulturpessimismus, der wohlig schaudernd den Untergang beschwört, nur die andere Seite des rationalistischen Machbarkeitswahns ist. Seine scheinbar fundamentale Kritik im Gestus dessen, der Bescheid weiß, leider jedoch von der dummen Masse nicht gehört wird, ist daher auch selbst noch Apologetik der gegebenen gesellschaftlichen Grundstruktur, die nicht angetastet werden soll. Es entspricht dem Selbstverständnis der modernen Gesellschaft, sie sei auf die vernünftige Einsicht in die natürlichen und sozialen Zusammenhänge gegründet, und es ist daher auch nur konsequent, eine ganz offensichtlich völlig irrationale Entwicklung dahingehend zu interpretieren, mit der menschlichen Vernuft sei es eben nicht allzuweit her.

Tatsächlich aber sind es nicht irgendwelche ominösen allmenschlichen Schwächen oder Fehlveranlagungen, die es der modernen demokratisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft verwehren, ihren Stoffwechsel mit der Natur und ihre inneren Beziehungen bewußt und selbstreflexiv zu regeln; dieses Defizit rührt vielmehr aus ihrem innersten Strukturprinzip selbst her. Wie sonst wäre es zu deuten, daß sie sich auf Schritt und Tritt sogenannten Sachzwängen beugen muß, als handle es sich dabei um Naturgesetze, obwohl diese ganz eindeutig gesellschaftlich, also selbstproduziert sind? Wenn sich etwa Imperative wie »Arbeitsplätze schaffen« oder »den Standort sichern« gegen jedes Wissen um die Notwendigkeit, sparsam mit den vorhandenen natürlichen Ressourcen umzugehen, rücksichtslos Geltung verschaffen, dann blamiert sich die warenproduzierende Moderne vor ihrem eigenen aufgeklärten Selbstbild. Aufgeklärt mag sie mittlerweile über vieles sein – über sich selbst, über ihr eigenes Fundament, die Basisform von Ware und Geld nämlich, ist sie es nicht. Allenfalls bringt sie es noch dahin, die von dieser Form produzierten Zwangsgesetzlichkeiten äußerlich und technisch zu durchschauen, doch nicht, um diese dann als solche in Frage zu stellen, sondern vielmehr in der Illusion, sie manipulieren zu können. Daß diese immanenten Machbarkeitsillusionen der sogenannten Realpolitiker und Pragmatiker sich umso schlimmer blamieren, je mehr die allgemeine Krisenentwicklung fortschreitet, bestätigt auf ebenso eindrucksvolle wie erschreckende Weise das Marxsche Verdikt vom Fetischcharakter der warenförmigen Vergesellschaftung.

Noch im Bewußtsein ihres systemischen Charakters, dem äußersten immanent erreichbaren Punkt von Selbstreflexion, übt sich diese Gesellschaft in der blinden Exekution ihrer eigenen Zwangsgesetze und stellt sich damit (eine Wahrheit, die sie natürlich nicht gerne hört) in eine Reihe mit jenen gesellschaftlich-kulturellen Formationen, die sie im Laufe der letzten 500 Jahre ausradiert hat und denen sie sich kraft ihrer Vernunft haushoch überlegen fühlte. Wenn der indianische Häuptling beim rituellen Geschenketausch, dem Potlatsch zu Ehren seines Gastes und dessen Vorfahren Kupferplatten im Meer versenkte, hektoliterweise wertvolles Öl verbrannte und Sklaven opferte, dann kam er gar nicht erst auf den Gedanken, die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens auch nur anzuzweifeln. Die marktwirtschaftlich verfaßte Moderne dagegen hat diese Bewußtlosigkeit ihrem eigenen Handeln gegenüber noch potenziert. Sie ist ohne weiteres zu der paradoxen Leistung imstande, die Jahresproduktion von Autos, Agrarchemikalien und Stahlträgern auch dann noch kontiunierlich zu steigern, wenn sie längst um die Unsinnigkeit dieses Tuns weiß, und sich obendrein auch noch darüber zu wundern, daß sie es tut, ohne aber darauf zu kommen, warum sie denn wider besseres Wissen handelt.

Freilich weist die massenhafte Existenz dieses »besseren Wissens« auch auf einen Fortschritt des warenförmigen Bewußtseins gegenüber dem Bewußtsein früherer fetischistischer Konstellationen hin. Prinzipiell ist es nämlich dazu in der Lage, den eigenen Konstitutionszusammenhang zumindest partiell in Frage zu stellen, und allein diese Fähigkeit berechtigt zu einer gewissen Hoffnung, daß die Gefahr einer weltweiten Vernichtung menschlichen Lebens so sehr sie real ist, doch keinesfalls unausweichlich sein muß. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Kritik am rastlosen abstrakten Wachstum um des Wachstums willen gerade auch von Naturwissenschaftlern in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren immer lauter artikuliert wurde. Nicht nur sind die damit einhergehenden Zerstörungen immer unübersehbarer geworden, zugleich ist auch im Zuge der »dritten industriellen Revolution« und der Globalisierung der Produktions-, Waren-, Finanz- und Informationsströme das Wissen um übergreifende Zusammenhänge immer weiter angewachsen. Dies ging einher mit einer veränderten Stellung der Technik- und Naturwissenschaften innerhalb der warenförmigen Reproduktion. Zum einen hat sich in den Betrieben selbst mit zunehmender Automatisierung und Informatisierung der Produktion der Schwerpunkt von der unmittelbaren Arbeit am Produkt hin zu den F+E-Bereichen verschoben. Zum andern haben, fast wichtiger noch, aufs gesellschaftliche Ganze gesehen die vor- und nachgelagerten Bereiche der Produktion von der Forschung und der Ausbildung über die Logistik und den Verkehr bis hin zur medizinischen Versorgung und zur behelfsmäßigen Reparatur von Umweltschäden enorm an Gewicht gewonnen.

Das hierfür notwendige »systemische« Wissen weist zumindest partiell über den borniert-partikularen Standpunkt betriebswirtschaftlicher Rationalität hinaus. Es ist aber diese Rationalität, von der die vom Ware-Geld-System hervorgebrachte globale Vernetzungsstruktur (entgegen allen Einsichten in übergreifende stoffliche Zusammenhänge) weiterhin bestimmt wird. Ob bestimmte Fertigungskomponenten im Allgäu oder in Algerien, in South Carolina oder in Seoul produziert werden, richtet sich bekanntlich nicht danach, ob diese in der betreffenden Region benötigt werden, ob es ökologisch sinnvoll ist, sie zehntausende von Kilometern an ihren Bestimmungsort zu transportieren, dafür ganze Landschaften mit Betonpisten zuzupflastern und Tonnen von Rohöl zu verpulvern, sondern einzig und allein nach dem betrieblichen Rentabilitätskalkül. Schlagend deutlich wird dies am vielzitierten Beispiel jenes unschuldigen Erdbeerjoghurts, dessen Bestandteile nicht weniger als 9000 Straßenkilometer zurücklegen müssen, bis sie sich schließlich in Stuttgart zum Objekt der Käuferbegierde zusammenfügen dürfen (vgl. etwa zeitmagazin, 29.1.93). Daß die Joghurtkulturen aus Norddeutschland kommen, die Verpackungsfolie aus Frankreich stammt und die Erbeeren aus Polen herangeschafft werden (mit Zwischenstopp in Aachen, wo das Mus entsteht), um nur einige der Komponenten aufzuzählen, liegt natürlich nicht daran, daß die Schwaben allesamt lieber in der Sonne lägen als ihre Frühstücksspeise selbst herzustellen. Betriebswirtschaftlich interessiert nur – und kann nur interessieren – ob sich die überregionale Arbeitsteilung unter dem Strich in Mark und Pfennig »rechnet« oder nicht.

Aus der Sicht des Einzelunternehmens erscheint die Methode der radikalen Zerlegung betrieblicher Funktionen und ihrer weiträumigen Verteilung, anders ausgedrückt: der Verringerung der eigenen Fertigungstiefe und der Abwälzung von Produktionsschritten auf die Zulieferer, als »Dezentralisierung« – und das klingt fast so, als handle es sich dabei um eine durchaus natur- und menschenfreundliche Einrichtung nach dem Prinzip »small is beautiful«. Doch aufs gesellschaftliche Ganze gesehen ist dies nichts anderes als die Durchsetzung einer ganz spezifischen Form von Zentralisierung: nämlich der Zurichtung der gesamten Welt zu einem einzigen Funktionsraum der betriebswirtschaftlichen Verwertungsproduktion.

Gewiß waren die traditionellen Formen von Dezentralität und Lokalität selbst auf ihre spezifische Weise immer auch borniert und keineswegs Modelle einer bewußten, selbstreflexiven Gesellschaftlichkeit. Doch das abstrakte Einheitsprinzip des Geldes verhält sich in seiner Bornierung nur spiegelverkehrt dazu. Die Verbetriebswirtschaftlichung des gesamten Raumes ist gleichbedeutend mit dessen virtueller Vernichtung in der entsinnlichenden Abstraktifizierung, mit der Aufhebung der regionalen und lokalen Besonderheiten, mit der Herstellung einer homogenisierten Fläche, die sich nach bloßen Entfernungen mißt. Das gar nicht so heimliche Ideal der warenproduzierenden Moderne wäre eine Welt, in der Raum und Zeit auf eine Dimension zusammengeschnurrt sind und jede beliebige Bewegung ähnlich mühelos und rasch vollzogen werden kann, wie im elektronischen Datennetz, wo ein paar Mausklicks genügen, um vom Kostenrechnungsprogramm in den Jurassic-Park und von dort in die Mailbox des Weißen Hauses zu springen. So wenig sich das Geld aber jemals wirklich vom profanen Stoff und von der sinnlichen Raum-Zeit-Erfahrung emanzipieren kann, so sehr folgt es doch hartnäckig seinem metaphysischen Drang zur reinen Formwerdung, koste es was es wolle; ganz nach dem Motto: Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie sich nicht fügen mag.

2.

Nun wäre gegen die bloße Überbrückung von Entfernungen mit Hilfe von elektronischen Kommunikations- und Informationsströmen nichts Grundsätzliches einzuwenden. Denn auch wenn die neuen Technologien sich nicht einfach neutral gegenüber der gesellschaftlichen Verkehrsform verhalten, die sie hervorgebracht hat, so enthalten sie doch bisher noch weitgehend ungenutzte Potenzen zur Organisierung einer vernetzten, jedoch weitgehend dezentralisierten Weltgesellschaft. Technisch gesehen wäre es bekanntlich längst möglich, einen großen, wenn nicht den größten Teil der notwendigen Gebrauchsgüter unter Bedingungen höchster Produktivität dort herzustellen, wo diese auch benötigt werden, etwa in kleinen, auf lokale und regionale Bedarfsdeckung ausgelegten Multi-Funktions-Fabriken. Der wichtigste »Rohstoff« für die Produktion ist längst das Wissen, und dieses läßt sich mit einem Minimum an Ressourcenverbrauch beliebig reproduzieren und rund um die Welt schicken.

Unter den Bedingungen des Ware-Geld-Systems werden die Potentiale der neuen Technologien aber keinesfalls dafür eingesetzt, die überregionalen stofflichen Verflechtungen zu entzerren, sondern vielmehr im Gegenteil dafür, in Form des global sourcing die Zentralisierung weiter voranzutreiben. Das Wolfsburger Volkswagenwerk etwa bezog bis Ende 1992 80 Prozent seiner Zulieferteile aus dem Land Niedersachsen; insgesamt arbeitete es mit rund 1500 Lieferanten zusammen. VW-Chef Piech will nun zusammen mit seinem berühmt-berüchtigten Einkaufsmanager Lopez erstens diese Anzahl auf ein Zehntel zusammenstreichen, und zweitens den Bezugsradius erheblich erweitern (vgl. Wirtschaftswoche, 4.2.93). Damit wird nicht nur das internationale (Lohn-)Kosten-Gefälle besser ausgenutzt – über die Forcierung des globalen Konkurrenzkampfes können außerdem die Zulieferer brutal gegeneinander ausgespielt und auf diese Weise »wie die Zitronen ausgequetscht« werden (Wirtschaftswoche, 11.6.93). Die Zulieferer reagieren ihrerseits mit Rationalisierungsmaßnahmen, verringern selbst ihre Fertigungstiefe und geben den Druck an die Unterlieferanten weiter, die »deutsche Qualität« zu »ausländischen Preisen« anbieten sollen (ebd.). Die letzten in der Kette dieser Wertschöpfungskaskade sind die Kleinstbetriebe und Klitschen in den Ländern der Dritten Welt und des neu erschlossenen Ostens, die unter extremen Ausbeutungsbedingungen, die der frühkapitalistischen Heimindustrie vergleichbar sind, dem Gesamtsystem zuarbeiten.

Dagegen kann sich die vielbeschworene hochtechnisierte Kleinserien-Fertigung allenfalls in bestimmten Marktnischen durchsetzen oder dient dazu, die Massenproduktion zu flexibilisieren (größere »Variantenvielfalt« eines Produkts), von der sich das Marktsystem seiner inneren Logik nach aber nie und nimmer lösen kann; schon allein deshalb nicht, weil die wachsende Kapitalintensität in den Kernbereichen der Produktion dazu zwingt, den Produktausstoß pro Zeiteinheit zu erhöhen, und zugleich die hochautomatisierten Aggregate möglichst rund um die Uhr ausgelastet werden müssen(1). Die Massenproduktion verschwindet also nicht, wie dies einige völlig vom gesellschaftlichen Formzusammenhang abstrahierende »Futurologen« und Soziologen(2) verkünden, sondern sie wird vielmehr zu einem einzigen globalen System integriert. Die gesamte Welt wird in eine gigantische Fabrik verwandelt.

Damit verschwinden allerdings keineswegs die regionalen Disparitäten. Zwar werden einige neue Länder und Gebiete, wie etwa Teile Südostasiens und Lateinamerikas, partiell an die abstrakte Vernutzungs- und Wachstumsdynamik angebunden, doch gemessen sowohl in Quadratmetern der Erdoberfläche wie erst recht in Bevölkerungszahlen handelt es sich dabei um einen sehr selektiven Prozeß. Die wenigen infrastrukturell wie sozial hoffnungslos überlasteten urbanen Megazentren wuchern weiter, während der größte Teil der Welt zum bloßen Hinterland degradiert wird, dessen Bewohner, ebenso wie die der wachsenden städtischen Slums, von jeglichem kompensatorischen Konsum und von sozialstaatlichen Leistungen praktisch abgeschnitten werden und bloß die negativen Folgen der Universalisierung des Geldes in Form von Umweltkatastrophen, Hunger und Krieg zu spüren bekommen.

Trotz gewisser Gewichtsverschiebungen bleiben jedenfalls die Länder der Triade (Europa, USA und Japan), auf deren Märkte gerade die sogenannten Newcomer existentiell angewiesen sind, die Gravitationszentren der Weltmarktvergesellschaftung. Während zwar auch hier im Zuge der Auslagerung von Produktionssegmenten und der strukturellen Weltmarktkrise die Elendssektoren unübersehbar anwachsen und ganze Landstriche deindustrialisiert und abgeschrieben werden, geht doch genau dies einher mit einer weiteren Verdichtung der überregionalen Handels-, Transport-, Finanz- und Kommunikationsströme. So lagen beispielsweise die jährlichen Zuwachsraten der Weltexporte, die seit 1970 von rund 300 Mrd. US-Dollar jährlich auf gegenwärtig etwa 3 700 Mrd. Dollar angeschwollen sind, mit 5 bis 6 Prozent um das Zweifache über denen des Welt-Bruttosozialprodukts(3). Und da nichts für eine grundsätzliche Umkehr dieses Trends spricht, wird auch in Zukunft die Infrastruktur der Vernetzung, insbesondere natürlich die Verkehrs-Infrastruktur, immer wichtiger für das Gesamtsystem der Warenproduktion werden. »Das Güterverkehrsaufkommen (die Summe aller transportierten Güter, gemessen in Tonnen) ist in den vergangenen fünf Jahren um vierzig Prozent gestiegen; die Güterverkehrsleistung (die die beförderten Tonnen und Kilometer ins Verhältnis setzt) um sogar 85 Prozent. Soll heißen: Es wird zwar auch mehr transportiert als je zuvor, aber vor allem über größere Distanzen. Und dieser Trend hält an. >Bis zum Jahr 2005 wird sich nach eher vorsichtigen Schätzungen die LKW-Kilometerleistung noch mindestens verdoppeln<, sagt der Kasseler Verkehrsplaner Professor Helmut Holzapfel« (zeitmagazin, 29.1.93). Im gleichen Maße aber, wie die Gleichschaltung des Raumes fortschreitet und insbesondere in den Zentren des Weltmarkts die Orte immer austauschbarer werden, erweitert sich natürlich auch der Radius des kompensatorischen Freizeitkonsums erheblich. Wo alle Straßen, die »ins Grüne« führen sollen, in Autobahndreiecken münden, da muß der Trip nach Kenia oder Sri Lanka her, zumal im Vergleich dazu ein Urlaub an der vergifteten Nordsee oder im säuregeschädigten Bayerischen Wald finanziell gesehen fast schon als exotischer Luxus gelten muß.

Rechnet man nur einmal die bei einer radikalen Verringerung des Transportvolumens anfallenden gigantischen Ressourceneinsparungen und die entsprechende Reduzierung des weltweiten Schadstoffaustoßes (von sonstigen qualitativen Aspekten einmal abgesehen) auf, dann mutet es völlig grotesk an, daß eine Gesellschaft, die sich zugute hält, streng nach den Prinzipien von Rationalität und Effizienz organisiert zu sein, keinerlei Anstalten macht, diese Entwicklungsrichtung einzuschlagen. Das ganze Geheimnis ist natürlich der partikular-bornierte Charakter der gültigen Rationalität. Jeder einzelne Produktions- und Transportprozeß mag für sich genommen mehr oder weniger effizient organisiert sein, doch in der Summe ergibt sich ein höchst irrationales Resultat.

Es liegt im Wesen der Sache, daß in die partikularen Kalküle immer nur jene Faktoren eingehen, die sich erstens überhaupt abstrakt quantifizieren, also in Geld ausdrücken lassen, und die zweitens den einzelnen gegenüber direkt als Kosten erscheinen. Da es nun prinzipiell unmöglich ist, die Komplexität des sozialen und natürlichen Zusammenhangs in Mark und Pfennig zu übersetzen und dann »verursachungsgerecht« auf die einzelnen betriebswirtschaftlichen Einheiten abzuwälzen, entspricht es der grundsätzlichen Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft, daß die Infrastruktur eines Landes vom Staat errichtet und unterhalten wird, obwohl deren Nutzung (hauptsächlich) privaten Charakter hat. Natürlich werden die staatlichen Leistungen im idealen Fall über Steuern finanziert (wenn auch realiter immer stärker über die öffentliche Verschuldung, was selbst schon ein Krisenphänomen ist), doch diese Kostenumlage auf die Allgemeinheit erfolgt nicht oder nur sehr bedingt nach der tatsächlichen individuellen Inanspruchnahme. Zum einen wäre diese Zurechnung, wie gesagt, technisch kaum möglich, zum andern aber widerspräche eine konsequente Anwendung des Verursacherprinzips der staatlichen Aufgabe, einen weitgehend homogenen nationalen Verwertungsraum herzustellen.

Wenn die Infrastruktur eines Staates jedoch jedem individuellen Handeln und allen partikularen Kostenkalkülen immer schon vorausgesetzt ist, dann ist es nur folgerichtig, wenn die einzelnen sie behandeln wie eine Naturressource, die zur freien Verfügung steht. Betriebswirtschaftlich gesehen ist also eine Externalisierung von Kosten über die zunehmende Verlagerung der Fabrik auf die Straße höchst rational. Zwar beschleunigt die konsequente Anwendung dieser Strategie nicht nur die Zerstörung der menschlichen und natürlichen Umwelt, sondern findet ihre Grenzen auch an sich selbst, denn die systematische Überlastung der Verkehrs-Infrastruktur produziert letztlich empfindliche Störungen im Funktionsgefüge der Verwertungsmaschinerie. Die permanenten Staus auf den bundesdeutschen Autobahnen sind bekanntlich keinesfalls bloß ein Ärgernis für gestreßte Italien-Urlauber, sie wirken zunehmend auch dysfunktional für Konzepte wie die Just-in-time Produktion.

Doch trotz der wachsenden Reibungsverluste rechnet sich die Kostenexternalisierung für die einzelnen betriebswirtschaftlichen Vernutzungseinheiten immer noch, auch wenn sie zu gewissen Anpassungsmaßnahmen gezwungen sein mögen; etwa nach dem Vorbild jener japanischen Unternehmen, die wieder Pufferlager anlegen, um Verzögerungen bei der zeitnahen Anlieferung zu überbrücken, ihr abgestuftes Zuliefersystem als solches aber selbstverständlich nicht in Frage stellen. Eine wirkliche Strukturveränderung wird schon allein durch die internationale Konkurrenzsituation verhindert, wie die Debatte um den »Standort Deutschland« es, trotz aller ideologischen Überfrachtungen, noch einmal deutlich ins Gedächtnis gerufen hat. So sind zum Beispiel die ökologisch gesehen ohnehin schon viel zu niedrigen Kosten für LKW Transporte durch die politische und ökonomische Öffnung Osteuropas noch einmal drastisch gedrückt worden. Und dies wirkte sich natürlich sofort zuungunsten des Güter-Bahnverkehrs aus, wie die Wirtschaftswoche vom 9.4.93 zu berichten weiß: »Leidtragende des Preisverfalls auf den Straßen ist auch die Bahn und vor allem der – in zahllosen Fensterreden von Bonner und Brüsseler Verkehrsexperten als umweltfreundlich gepriesene – sogenannte kombinierte Verkehr. Immer mehr Unternehmen nehmen ihre Transporte runter von der Schiene auf die eh schon überlasteten Straßen. … Allein in den beiden ersten Monaten des Jahres (1993; Anm. N.T.) haben die Geschäfte beim kombinierten Güterverkehr um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr abgenommen. Trend: Abwärts«. Deutsche-Bahn Chef Dürr sieht kaum noch eine Chance, im brutalen Preiskampf mithalten zu können: »Von 1989 bis 1991, berichtet Dürr, sei die Zahl der aus Bulgarien, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Ungarn, der ehemaligen Sowjetunion und der früheren CSFR eingefahrenen Fahrzeuge um fast 300 Prozent auf 640 000 gestiegen. Allein die Entlohnung der Fahrer – monatlich 400 Mark in Osteuropa, 4000 Mark im Westen – ermöglicht konkurrenzlose Billigtransporte« (Die Zeit, 23.4.93).

Natürlich drückt sich die chronische Überbelastung der öffentlichen Infrastruktur wie alles in der totalen Welt des Geldes auch monetär aus: als Problem der Finanzierbarkeit. Die Schere zwischen den wachsenden Kosten einerseits und der Ebbe in den öffentlichen Kassen andererseits öffnet sich immer weiter. Allein die Erhaltung der deutschen Kommunal- und Landstraßen wird, laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, bis zum Jahr 2010 mindestens 231 Milliarden D-Mark verschlingen. Wie dieser Betrag aufgebracht werden soll, ist völlig ungeklärt (vgl. Die Zeit, 20.11.92). Der Vorschlag, den Straßenbau privat zu finanzieren, ist jedenfalls kaum mehr als ein durchsichtiger Taschenspielertrick; die Staatsverschuldung würde auf diese Weise nur weiter in Schattenhaushalte

verschoben, indem der Staat, statt die Kosten direkt zu übernehmen, sich zur späteren Zahlung von Leasinggebühren verpflichtet. Auch dem Versuch, die Kosten verstärkt auf die Benutzer abzuwälzen, etwa über die Anhebung der Mineralölsteuer, sind schon allein aus politischen Gründen enge Grenzen gesetzt. Nicht zufällig hat die auf »Regierungsfähigkeit« sich trimmende SPD unter Rudolf Scharping mit Rücksicht auf die urdeutsche Autofahrerseele vorsorglich diese Forderung aus ihrem Programm wieder entfernt.

Dennoch können die einzelnen Staaten nicht einfach mit der verwertungsgerechten Zurichtung ihres Territoriums aufhören, denn dies würde mit den »Standortbedingungen« auch ihre internationale Konkurrenzfähigkeit in Frage stellen. Die Folgen eines radikalen Zurückfahrens staatlicher Infrastrukturpolitik zeigt schlagend das Beispiel Großbritannien, wo nicht nur die Bahn, sondern auch ein Großteil des Straßennetzes mittlerweile fast dem Standard eines Dritte-Welt-Landes entspricht. Eine Fahrt mit der Londoner U-Bahn gleicht einem Horrotrip. Auf wichtigen Strecken gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern, wobei die Züge dort – wohl einmalig für eine U-Bahn – auf Sicht fahren, weil das Signalsystem völlig marode ist und deshalb ständig schwere Zusammenstöße drohen.

Wenn die neoliberale Privatisierungspolitik trotz ihrer katastrophalen Ergebnisse allerorten nachgeahmt wird, dann kann dies nur als Indiz für die Schwere der Krise gewertet werden, in die das Ware-Geld-System hineingeraten ist. Denn wenn nur noch jene Teile der Infrastruktur erhalten und modernisiert werden, die als unmittelbar »rentabel« gelten, wie etwa Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen wichtigen Metropolen, ganze Landstriche aber de facto abgekoppelt werden, dann führt dies nicht nur dazu, daß die Vernetzungsstruktur im technischen Sinne prekär wird. Zugleich verschärfen sich dadurch auch die ohnehin wachsenden Spannungen innerhalb der Nationalstaaten, bis hin zu deren Auseinanderbrechen (in Großbritanien etwa radikalisieren sich die separatistischen Tendenzen in Wales und Schottland). Diese Tendenz untergräbt dann ihrerseits die Funktionsfähigkeit der globalisierten Verwertungsmaschinerie, denn die Existenz von befriedeten Großräumen ist deren conditio sine qua non, wie sich gerade heute nach dem Zusammenbruch des Kasernensozialismus in Osteuropa auf erschütternde Art und Weise zeigt. Wo durch Bürgerkriege ganze Regionen unpassierbar werden, Mafiabanden Schutzgelder und Passierzölle erpressen oder wie vielerorts die Wegelagerei wieder zum Normalfall wird, da ist das Risiko eines Transports nicht mehr kalkulierbar. Wohl kaum können Autoarmaturen oder Jeanshosen unter dem gleichen militärischen Begleitschutz durch diese Zonen geschleust werden wie heute die Nahrungsmitteltransporte nach Sarajewo oder Tuzla.

3.

So sehr sich aber die hyperzentralisierte und ressourcenverschlingende Vernetzungsstruktur selbst ad absurdum führt, so wenig darf damit gerechnet werden, daß sie unter den herrschenden Vergesellschaftungsbedingungen grundsätzlich umgebaut werden könnte. Es macht die Bewußtlosigkeit der Wert-Vergesellschaftung aus, daß sie auch dort noch fortfährt, ihre selbstproduzierten Sachzwänge blind zu exekutieren, wo deren Widersinnigkeit längst offen zutage liegt. Daher setzt die konsequente Entflechtung der überregionalen Ressourcenflüsse und die Reduzierung der bis ins Extrem getriebenen Ausdifferenzierung produktiver Funktionen auf ein stofflich vernünftiges Maß letztlich die Aufhebung des betriebswirtschaftlichen Verwertungszwanges voraus. Nur im bewußten Widerstand gegen die Schwerkraft der warenförmigen zweiten Natur können die produktiven Potenzen, die der kapitalistische Verwissenschaftlichungsprozeß zweifelsohne auch hervorgebracht hat, kritisch angeeignet und entfaltet werden. Freilich ist die Ware-Geld-Logik den Ergebnissen der gesellschaftlichen Wissensproduktion keinesfalls äußerlich geblieben, etwa im Sinne einer bloßen Instrumentalisierung von an sich neutraler Erkenntnis durch den objektivierten Zwang zur Profitmacherei; und deshalb wird es wesentlich auch darum gehen müssen, grundsätzlich neue Sichtweisen auf Natur und Gesellschaft zu eröffnen. Dennoch gibt es durchaus einen reichen Fundus an Erkenntnissen und Erfahrungen, die teilweise gegen die Verwertungslogik oder in ihrem Schatten gewonnen wurden und die für die Organisierung einer dezentral vernetzten Weltgesellschaft genutzt werden könnten.

Beim heutigen Stand des Wissens würde es alles andere als eine Rückkehr zur endlosen Schufterei bedeuten, den Hauptteil der Reproduktionsfunktionen im lokalen und regionalen Rahmen zu organisieren, was im übrigen ja nicht ausschließt, bestimmte Vormaterialien und Spezialprodukte auch weiterhin in größerem Maßstab herzustellen, wo dies der Sache nach sinnvoll ist. Nicht nur sind die kleinen, flexiblen und universell einsetzbaren Fertigungstechnologien durchaus höchst effizient im technischen Sinne(4); schon allein wenn der für die Aufrechterhaltung der warenförmig zugerichteten Infrastruktur notwendige Aufwand entfällt, wird neben einer Unmenge bisher sinnlos verpulverter Ressourcen zugleich auch ein riesiger Zeitfonds frei. Stellt man nur einmal in Rechnung, daß in der BRD ungefähr jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto abhängt, werden die Dimensionen ansatzweise deutlich. Im übrigen wird eine bewußt sich selbst regulierende Weltgesellschaft mit Sicherheit kein statisches, unveränderliches Gebilde sein. Wo kein universelles Prinzip mehr über alle Lebensbereiche regiert, da kann sich erstens Vielfalt im besten Sinne des Wortes entwickeln und da lassen sich zweitens die Strukturen im gleichen Maße umbauen und anpassen, wie sich auch der Wissens- und Erfahrungsstand über natürliche und stoffliche Zusammenhänge verändert und wie sich die individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse entwickeln. Keine bewußtlos vorausgesetzten Sachzwänge würden dann beispielsweise verhindern, daß aus dem Wissen über mögliche negative Folgen bestimmter Technologien oder Produktionsmethoden direkte Konsequenzen gezogen werden können.

Vieles ist in die angedeutete Richtung gerade in den letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren schon vorgedacht und teilweise praktisch erprobt worden, ob in neuen Stadtplanungs- und Verkehrskonzepten, im Bereich des ökologisch angepaßten Landbaus oder bei der Entwicklung dezentralisierter Produktions- und Energieversorgungsmodelle. All diese Ansätze stehen jedoch in der Regel isoliert für sich und haben allenfalls den Charakter von »Experimenten«. Ihre verallgemeinerte Durchsetzung ist regelmäßig an den Zwängen der Warenlogik gescheitert; entweder weil sie, wie z.B. die Solarenergie, zwar technisch ausgereift, betriebswirtschaftlich aber nur begrenzt rentabel sind, oder weil sie, wie etwa gegen den Autowahn entwickelte Verkehrskonzepte, mit den warenförmig individualistischen Bewußtseins-, Lebens- und Wohnformen kaum in Einklang gebracht werden konnten. Doch gerade weil diese und ähnliche Versuche sich als nur schwer kompatibel mit der herrschenden Rationalität erwiesen haben, könnten sie vor dem Hintergrund der fundamentalen Weltmarktkrise eine ganz neue Brisanz erlangen.

Denn im gleichen Maße, wie immer größere Teile der Weltbevölkerung ins Elend absacken, weil die verschiedenen Gelderwerbsquellen versiegen und die staatlichen Sozialleistungen zusammengestrichen werden, muß es auch darum gehen, im Widerstand dagegen eigenständige Reproduktionsstrukturen aufzubauen, die mehr sind als bloße entstaatlichte Armutsverwaltung. Vor allem in den Ländern der Weltmarktperipherie, aber auch in den besonders betroffenen Krisenregionen der Zentren gibt es bereits seit Jahren massenhaft Ansätze, die in diese Richtung weisen. Allerdings bewegen sie sich in der Regel auf extremem Elendsniveau, gehen einher mit unsäglicher Plackerei und haben schon deshalb einen nur sehr begrenzten Spielraum. Es käme nun darauf an, in einer Gesamtstrategie organisierter Krisengegenwehr diese Ansätze mit dem massenhaft vorhandenen Wissen über die stofflich vernünftige Organisierung reproduktiver Kreisläufe und der in den vielfältigen Projekten erworbenen Kompetenz kurzzuschließen. Eine solche Strategie drängt sich schon deshalb förmlich auf, weil ja auch die Träger dieses Wissens und dieser Kompetenz kaum weniger von den Folgen der Krise betroffen sein werden (und teilweise schon sind) als der Großteil der Weltbevölkerung. Wo auf der einen Seite massenhaft stoffliche Ressourcen und menschliche Fähigkeiten »stillgelegt« werden, weil die Verwertungsmaschinerie keine Verwendung mehr dafür hat, und auf der anderen Seite ganze Reproduktionsbereiche wegbrechen, weil sie nicht mehr »finanzierbar« sind, was liegt da näher, als eigene, selbstorganisierte Strukturen aufzubauen. Ein Schlaglicht in diese Richtung wirft ein Projekt in der Krisenstadt Detroit, in dem Obdachlose mit Unterstützung des Philosophieprofessors Frithjof Bergmann eigene Häuser aus High-Tech-Materialien und Fertigteilen gebaut haben, mit Dachgärten, auf denen Obst, Gemüse, Blumen und sogar Bäume wachsen. High-tech self-providing nennt Bergmann dieses Konzept, das er in einigen weiteren Projekten (u.a. auch in Ostdeutschland) fortführen und weiterentwickeln will (vgl. Die Zeit, 18.3.94).

Freilich werden auf die Dauer und insbesondere im Zuge einer weiteren Krisenverschärfung die verschiedenen Selbsthilfeprojekte, wie auch immer sie organisiert sein mögen, nicht einfach isoliert nebeneinander existieren können. Tragfähige nicht-warenförmige Strukturen können nur entstehen, wenn ein globales Netz lokal und regional orientierter Reproduktionseinheiten aufgebaut wird, die sich gegenseitig unterstützen, Erfahrungen, Erkenntnisse und Produktionswissen austauschen und last but not least mit der Zeit ein entscheidendes Gegengewicht gegen die sich zunehmend desintegrierenden Instanzen von Markt und Staat bilden. Denn es wäre wohl eine falsche Vorstellung, die neu entstehenden Strukturen von Gegen-Reproduktion könnten sich friedlich neben der krisenhaft weiterlaufenden Logik von Warenproduktion und Politik etablieren. Selbst wenn immer mehr wertvolle Ressourcen (wie Gebäude, Fabriken oder landwirtschaftliche Flächen) einfach stillgelegt werden, weil sie nach den Kriterien des Marktes nicht mehr »rentabel« sind, so werden diese doch meist nicht einfach widerstandslos denjenigen überlassen werden, die sie bedürfnisgerecht umfunktionieren bzw. Instandsetzen könnten. Sie werden massiv eingeklagt und erkämpft werden müssen. Zugleich wird ein Ausstieg aus der Marktlogik aber auch einen konsequenten Widerstand gegen den natürlich auch in der Krise ungezügelt weiterlaufenden ökologischen Raubbau (etwa in Gestalt des Auto- und LKW Verkehrs) einschließen müssen. Argumente wie das vom »Erhalt der Arbeitsplätze« oder von der »Sicherung der Konkurrenzfähigkeit« verlören in einem solchen Kontext endgültig ihre ohnehin wahnwitzige Rationalität.

Die neuen Konfliktlinien zeichnen sich gerade erst undeutlich ab. Sie könnten aber die gesellschaftliche Auseinandersetzung der nächsten Jahre und Jahrzehnte entscheidend bestimmen.

Fußnoten

1) Ein Bericht in der Wirtschaftswoche vom 16.4.93 beschreibt diese betriebswirtschaftlichen Zwänge: »Wenn auch Roboter die spektakulärsten Bauteile im Bereich Automatisierung sind: Ohne angepaßte, sinnvoll organisierte Peripherie sind sie unsinnig, steigern gar noch die Kosten. Zu dieser Peripherie gehören Flurförderfahrzeuge und andere innerbetriebliche Materialtransportsysteme, Bearbeitungsmaschinen, Hochregallager und nicht zuletzt die Anbindung des Verwaltungsbereichs. Ein solches Konzept erlaubt eine Produktion auf Bestellung und hat den Vorteil, daß auch auf eine teure Lagerhaltung verzichtet werden kann«. Allerdings, so wäre zu ergänzen, muß die riesige Masse an investiertem Kapital auch optimal ausgelastet werden, so wie in der Siemens-Fabrik in Amberg: »Auf der 150 Meter langen Fertigungsstraße werden in bunter Folge unterschiedlich leistungsfähige Steuerungen gebaut, die am Ende gleich versandfertig verpackt werden. Jedes System, dessen Aufbau beginnt, hat bereits einen Abnehmer. So benötigt das Werk lediglich Vorräte für einen Werktag« (ebd.).

2) So etwa Alvin Toffler in »Die dritte Welle« (1980) oder Michael J. Piore/Charles F. Sabel in »Das Ende der Massenproduktion« (Berlin 1985)

3) Im übrigen konzentrierten sich über achtzig Prozent des Welthandels und ein ebenso hoher Anteil der ausländischen Direktinvestitionen auf die OECD-Länder, wobei die Kluft zwischen diesen und der Dritten Welt seit den siebziger Jahren beständig größer geworden ist (vgl. im Überblick Human Development Report 1993, New York/Oxford 1993).

4) Was allerdings kein Appell dafür sein soll, zwanghaft alle Tätigkeiten möglichst weitgehend zu automatisieren, unter Negierung aller in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Stoff potentiell auch enthaltenen Momente von Befriedigung.