31.12.1998 

Zur Dialektik von Mangel und Überfluss

 

erschienen in: Krisis 21/22

Ernst Lohoff

Einleitendes

Der Mensch ist bekanntlich ein bedürftiges Wesen. Er kann nicht leben, ohne mit seinesgleichen wie mit der ihn umgebenden äußeren Natur in Beziehung zu treten. Die Aneignung von Natur ist dabei wesentlich an deren Umwandlung gebunden. Erst menschliche Aktivität kann dem vorgefundenen Naturstoff ein vielgliedriges und ausdifferenziertes Ensemble menschlicher Genußgegenstände abgewinnen. Gesellschaftliche Reproduktion schließt in diesem Sinne notwendig ein produktives Moment ein.

Dieses banale Faktum hat in der Warengesellschaft eine ganz spezifische, alles andere als selbstverständliche Bedeutung angenommen. Alle vorkapitalistischen Gesellschaften hatten eine bestimmte Art und ein gewisses Niveau der Gütererzeugung und Distribution zur Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft macht daraus den alles andere beherrschenden Inhalt von Gesellschaftlichkeit.(1) Während die Produktion der Dinge des alltäglichen Gebrauchs in vormodernen Ordnungen immer dem eigentlichen gesellschaftlichen Raum vorgelagert blieb, rückt sie in der Warengesellschaft in dessen Zentrum, und das in Ware verwandelte Erzeugnis wird zur Elementarform des sozialen Zusammenhangs, zum Paradoxon einer in den Dingen geronnenen Gesellschaftlichkeit.

Die privilegierte Stellung, die der Herstellung von Waren als Ursprung der gesellschaftlichen Objektivierung in der Moderne zukommt, hat auch in deren Selbstverständnis tiefe Spuren hinterlassen. Das warengesellschaftliche Bewußtsein behandelt maximierten Warenausstoß als Synonym für Reichtum schlechthin, gleichzeitig gilt ihm dessen Vermehrung als ultima ratio, an der sich der Sinn jeder Ordnung zu messen hat. Der systemimmanente Zwang, Mensch und Natur allenthalben zu Ressourcen betriebswirtschaftlicher Vernutzung umzufunktionieren und sie der Tendenz nach restlos als deren Rohmaterial in die tautologische Selbstbewegung des Werts einzuspeisen, wird zur besonderen Tugend umgemünzt. Vom Standpunkt des Einzelkapitals aus mag es fast ein Ärgernis sein, daß sich zwischen die Pole G und G’, die End- und Ausgangspunkt der Selbstvermehrung von Kapital markieren, allemal als vermittelnde Bewegung die Erzeugung und Distribution verkäuflicher Waren schiebt; der kapitalistischen Ideologie jedoch dienen die dabei in beständig wachsendem Umfang anfallenden Gebrauchswertschlacken, indem sie diese mit Wohlstand gleichsetzt, als zentrales Legitimationsargument. Seit jeher besingt der Liberalismus das blinde Spiel der einzelbetrieblichen Verwertung unverdrossen als segenspendend, weil es angeblich wie kein anderes System geeignet sei, möglichst viele mit möglichst vielem zu versorgen.

Die reale Entwicklung hat sich nie so recht dem liberalen Selbstverständnis fügen wollen. Die unsichtbare Hand des Marktes hat das Phänomen Mangel keineswegs aus der Welt geschafft, sie hat es vielmehr auf jeder Stufe kapitalistischer Entwicklung reproduziert. Das hat natürlich immer wieder Gegenströmungen auf den Plan gerufen. Die einflußreichste in den letzten hundertfünfzig Jahren war zweifellos der Marxismus. Bei aller Kritik an der Glorifizierung des Marktes blieb indes gerade die sozialistische und kommunistische Traditionslinie – und das gilt auch für die Verlängerungen im Gefolge der 68er Bewegung – dem bekämpften liberalen Reichtumsverständnis stets verhaftet. Das Kapitalverhältnis wurde vornehmlich nur insofern inkriminiert, als es die unmittelbaren Produzenten von der Verfügung über ihr Produkt ausschließt; überhaupt nicht ins Blickfeld rückte dagegen, daß seine Auflösung in eine gigantische Warensammlung den Gehalt von gesellschaftlichen Reichtum grundsätzlich affiziert und die kapitalistische Form von Reichtum, bereits von einer dem Aneignungs- und Verteilungsproblem vorgelagerten grundsätzlicheren Ebene aus gesehen, nicht Reichtum schlechthin, sondern nur eine ganz spezifische, zugerichtete Variante davon beherbergen kann.

Der affirmative Bezug der traditionellen Kapitalismuskritik auf den kapitalistischen Reichtum kommt besonders deutlich dort zum Vorschein, wo sie die Überwindung des Kapitalverhältnisses ins Auge faßt. Bei aller Todfeindschaft gegenüber dem Liberalismus und dem Kapital hat der Marxismus sich doch gleichzeitig zeitlebens auch zu dessen einzig legitimen Erben erklärt und den Übergang zum Sozialismus sowohl als Bruch als auch als die konsequente Fortsetzung einer der kapitalistischen Form von Reichtumsproduktion bereitwillig zugestandenen »zivilisatorischen Mission« verstanden. Die Quintessenz dieser Argumentation ist wohlvertraut: Das Kapital ist in seiner grenzenlosen Verwertungssucht dabei, alle traditionellen Beschränkungen über den Haufen zu werfen, schlägt damit der Produktivkraftentwicklung eine Bresche und arbeitet, indem es »die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums« in einer bis dato unvorstellbaren Art und Weise sprudeln läßt, einer von der Herrschaft des Mangels befreiten Gesellschaft nach Kräften vor. Für eine revolutionäre Bewegung gelte es »nur mehr, die vom Kapital bereits geheckten Potenzen dessen Griff zu entwinden, um damit das von ihm begonnene Werk gegen es selbst zu vollenden.

Bei der Erstformulierung dieses Gedankengangs durch Marx blieb die bedingungslose Affirmation des kapitalistischen Reichtums insofern gebrochen, als er mit der Verwendung von Begriffen wie »Produktivkraft« und »produktiven Potenzen« prinzipiell zwischen den vom Kapital geschaffenen produktiven Möglichkeiten und der technologischen Gestalt unterschied, die sie unter dem Diktat der Form angenommen haben; eine nachkapitalistische Gesellschaft habe also strenggenommen ein zwar unter der Ägide des Kapitals entstandenes, von ihm aber keineswegs realisiertes gesellschaftliches Vermögen freizusetzen und kann keineswegs einfach den kapitalistischen Reichtum in seinem dinglich-stofflichen Sosein sozialistisch umfunktionieren.(2) Dennoch scheint aber auch Marx sich keineswegs hinreichend darüber Rechenschaft abgelegt zu haben, daß diese Differenzierung die systematische Trennung eines sozialistischen Reichtumsbegriffs vom warenförmigen impliziert und mit der Vorstellung einer einfachen positiven Aneignung des in der globalen Warensammlung vorhandenen Reichtums letztlich unvereinbar ist. Gerade in den Passagen aus seinem Werk, die sich in der Rezeption durch die Arbeiterbewegung allzeit besonderer Beliebtheit erfreuten, verschwindet jedenfalls das Problem der Aneignung vom Kapitalismus geheckter Potenzen durch die sozialistische Gesellschaft und die kritische Distanz zum vorhandenen Warenreichtum. Übrig bleibt stattdessen nur die Frage, wie der vorhandene Reichtum dem Kapital zu entreißen sei, und so kann Marx voll Optimismus die proletarische Umwälzung auf die Tagesordnung setzen:

»Die Verwandlung des auf eigener Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Privateigenthums in kapitalistisches ist natürlich ein Proceß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des faktisch bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Privateigenthums in gesellschaftliches. Dort handelt es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.«(3)

Im Kontext einer Legitimationstheorie der Arbeiterbewegung war diese Verkürzung zweifellos funktional. Indem der Übergang zu einer sozialistischen Reproduktion gegenüber der kapitalistischen Reichtumserzeugung zwar als entscheidender Schritt, aber keineswegs als ein qualitativer Sprung im Sinne einer Revolutionierung des Inhalts von gesellschaftlichem Reichtum gefaßt wird, konnte er wohl überhaupt erst im Rahmen oppositioneller Formsetzung als eine aktuelle und praktikable Perspektive erscheinen und so die Marxsche Theorie den Status des esoterischen Traums von der Selbstverwirklichung der menschlichen Gattung abstreifen. Von daher kann es weder überraschen, daß die arbeiterbewegten Adepten lieber auf diese Seite des Marxschen Werks zurückgegriffen haben, um sie verplattend fortzuschreiben, als auf die Entfremdungstheorie des jungen Marx, noch, daß der Marxismus den Marxschen Produktivkraftbegriff seines gegenüber dem warengesellschaftlichen Gebrauchswertuniversum kritischen Gehalts völlig entkleidete und dieser so zu einem Synonym für den begeistert begrüßten technologischen Fortschritt degenerierte.

Seine klassische Gestalt hat diese techno-emphatische, auf die Steigerung des Produktenausstoßes fixierte Interpretation sicherlich in der Leninschen Definition, Sozialismus sei die Summe aus »Sowjetmacht« und »Elektrifizierung«, gefunden. Aber auch die Arbeiterbewegung in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern blieb im gleichen historischen Horizont gefangen wie der Chef des Unternehmens »nachholende ursprüngliche Akkumulation Ost«, den die Vision umgetrieben hatte, ein Arbeiterstaat werde die vorbildlichen Organisationsprinzipien der Deutschen Reichspost und die in den Fabriken Henry Fords praktizierten Produktionsmethoden übernehmen und perfektionieren. Selbst Vertreter eines kritischen »westlichen Marxismus« wie Karl Korsch übersetzten ganz selbstverständlich die Marxsche Formel von der Entfesselung der Produktivkräfte im Sozialismus dahingehend, daß nach der proletarischen Umwälzung einfach erheblich mehr vom Selben erzeugt werden würde:

»Der Sozialismus wiederholt in veränderter Form und in gigantisch gesteigertem Ausmaße noch einmal die Entfesselung der Produktion, die der Kapitalismus für seine Zeit und in seiner Form und am Ende mehr schlecht als recht zustande gebracht hat.«(4)

Die theoretische Schwäche der traditionellen Kapitalismuskritik war Voraussetzung ihrer praktischen Wirksamkeit. Eine geistige Strömung, die nun einmal angetreten war, die Arbeit, die »Substanz« des warenförmigen Reichtums, zu befreien, konnte einfach in keiner Weise thematisieren, wie die Zwangsreduktion allen gesellschaftlichen Reichtums in eine Darstellungsform abstrakter Arbeit auf dessen Gehalt zurückschlägt, ohne sich selber den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Am Ende des 20. Jahrhunderts bietet sich indes ein ganz anderes Bild. Die traditionelle Kapitalismuskritik, die den in den kapitalistischen Modus eingeschriebenen Enteignungsprozeß immer als bloße Monopolisierung von Eigentum und Verfügungsgewalt las, hat nicht nur ihren emanzipatorischen Gehalt längst aufgebraucht; angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft bleibt von ihr nur der ebenso erbärmliche wie hoffnungslose Wunsch übrig, das verhaßte System möge irgendwie weiterfunktionieren. Wo die Urgroßväter stolz gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu Felde zogen, flehen heute die Urenkel um das Recht auf Arbeit, weinen also der einst mit aller Kraft bekämpften Ausbeutung nach und legen damit a posteriori unmißverständlich klar, daß der Impetus der Arbeiterbewegung immer schon auf der Grundlage der warengesellschaftlichen Aporien angesiedelt war.

Vor diesem Hintergrund ist eines klar: Gesellschaftskritik kann heute überhaupt erst dort beginnen, wo nicht mehr der fehlende Zugang zum kapitalistischen Reichtum, sondern dieser selber zum Kritikgegenstand wird. Das Privateigentum, um den juristischen Namen für jene merkwürdige, ihren Besitzern von den Waren aufgeherrschte Art von gesellschaftlicher Beziehung zu verwenden, ist nicht erst deshalb zu attackieren, weil es dem Raub fremder Arbeit die adäquate Form gibt; es ist vielmehr deshalb aufzuheben, weil es sich bei ihm immer schon um beraubten Reichtum handelt,(5) Reichtum, der qua Form Besitzer wie Nichtbesitzer von dem ausschließt, was diese Gesellschaft an produktiven wie sozialen Möglichkeiten bereithalten könnte, Reichtum, der per se mit Verarmung identisch ist.

Diese grundsätzliche Orientierung ist nicht nur unerläßlich, um Kapitalismuskritik theoretisch neu zu fundieren und überhaupt noch formulierbar zu machen; sie wird auch für jede praktische Bewegungsperspektive zur conditio sine qua non. Selbst die bescheidensten, immanenten und partikularen Widerstandsregungen gegen den Desintegrationskapitalismus werden in den nächsten Jahren nur dort Platz greifen können, wo zumindest eine Ahnung davon vorhanden ist, daß kapitalistischer Reichtum nicht als gesellschaftlicher Reichtum überhaupt gelten kann. Als Argument gegen die permanent beschworene Sachzwanglogik taugt nicht deren Uminterpretation, sondern nur die Weigerung, unterschiedslos all das zu opfern, was die warenfömige Verarmungsproduktion und deren Propheten als »tote Kosten« oder »verschwendete Ressource« definieren.

1. Warengesellschaftlicher Reichtum ist knapper Reichtum, Reichtum an Knappheit

Was unter Reichtum zu verstehen ist, scheint zumindest auf einer sehr allgemeinen Ebene mehr oder minder auf der Hand zu liegen. Menschlicher Reichtum läßt sich etwas näher als Bedürfnis- und Beziehungsreichtum bestimmen. Der Reichtum einer Gesellschaft wäre demnach daran zu messen, ob und inwieweit sie ihren Mitgliedern erlaubt, eine Vielzahl von Bedürfnissen zu entwickeln und ihnen die Voraussetzungen an die Hand gibt, diese auch zu erfüllen und weiter zu verfeinern. Reichtum zielt auf Fülle, also auf die Befreiung von Beschränkung und Mangel ab.

So unspektakulär und unspezifisch dieser Umschreibungsversuch auch auf den ersten Blick anmuten mag, so reicht doch allein schon die Konfrontation des warengesellschaftlichen Reichtumsbegriffs mit den damit gegebenen Kriterien, um die Selbstklassifizierung der Warengesellschaft als die Reichtumsgesellschaft par excellence in ein recht seltsames Licht zu tauchen. Die kapitalistische Reichtumsvorstellung erweist sich nicht nur deshalb als verkürzt, weil sie einseitig auf die Dinge abhebt und auch dabei wieder nur auf die individuell konsumierbaren; sie läßt sich, sobald man auch nur etwas genauer nachhakt, nicht einmal mit der Negativbestimmung von Reichtum als Abwesenheit von Mangel zur Deckung bringen.

Warengesellschaftlicher Reichtum ist ökonomischer Reichtum. Für jeden Marktapologeten ist es selbstverständlich, daß der warengesellschaftliche Reichtum einer Sondersphäre namens Wirtschaft entstammt und daß die Ausbreitung warengesellschaftlicher Reichtumsproduktion und der Vormarsch betriebswirtschaftlicher Rationalität als Synoyme zu begreifen sind. Die Welt der Ökonomie, die sich im Prozeß der Moderne erst formiert hat und den warengesellschaftlichen Reichtum hervorbringt, ist aber – und jeder BWL-Student erfährt dies in der allerersten Eingangsvorlesung – theoretisch wie praktisch gerade nicht die Welt des Umgangs mit überfließenden Ressourcen; die ökonomische Rationalität kennt vielmehr nur Knappheitsverhältnisse und ihr Siegeszug fällt mit der sukzessiven Transformation aller sozialen Beziehungen in Knappheitsrelationen zusammen. Die Ökonomie, die Quelle allen warengesellschaftlichen Reichtums, hat demnach nach eigenem Bekunden ausgerechnet ein Grundprinzip, das unmittelbar auf das Gegenteil von Reichtum, nämlich auf Mangel verweist. Nimmt man das ökonomische Selbstverständnis beim Wort, so versteigt es sich, wo es die Warengesellschaft zur Reichtumsgesellschaft schlechthin erklärt, zu der Behauptung, ausgerechnet die Verallgemeinerung von Knappheit und die Ausmerzung von Mangel seien ein und dasselbe.

Auf den ersten Blick mag dieser merkwürdige Befund als bloßes Kuriosum erscheinen. Näher besehen leuchtet hier indes nichts anderes als die für den warengesellschaftlichen Reichtum konstitutive Grundparadoxie auf. Die Identität von Mangel und Reichtum mag absonderlich anmuten, genau diese Absurdität liefert aber eine präzise Bestimmung des warengesellschaftlichen Reichtumsbegriffs. Ökonomischer Reichtum hat in der Tat Reichtum an Mangel zum Inhalt und seine Vermehrung ist mit der Vermehrung von Mangel verschränkt.

Diese Verkehrung läßt sich unschwer bis in die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, die einzelne Ware, zurückverfolgen. Soll irgendeinem Ding die Ehre der Verwandlung in eine Ware zuteil werden, so muß es grundsätzlich drei unterschiedlichen Kriterien Genüge tun. Es muß zunächst einmal geeignet sein, ein wie auch immer geartetes menschliches Bedürfnis zu befriedigen und repräsentiert insofern abstrakt gesellschaftlichen Reichtum; es darf zweitens gerade für seinen Produzenten keine Quelle der unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung darstellen, sondern hat als Gebrauchsding für ihn gleichgültig und überflüssig zu sein. Zu guter Letzt kann die Metamorphose nur soweit gelingen, wie der Nutzer in spe zugleich vom Zugriff auf den potentiellen »Genußgegenstand« abgeschnitten ist. Damit das Gut sich als Ware bewährt, muß also garantiert sein, daß das Überflußgut des Produzenten als Mangelgut für andere gesetzt ist. Erfüllt ein Gebrauchsding all diese Kriterien, so hat es die Chance, als »knappes Gut« im Austausch mit anderen »knappen Gütern«(6) seine Zugehörigkeit zum warengesellschaftlichen Reichtum unter Beweis stellen. Kann sich der potentielle Benutzer einen Bedürfnisgegenstand anders als im Austausch zugänglich machen, dann läßt sich dieser grundsätzlich nicht als dingliche soziale Chiffre darstellen und fällt damit aus dem Reichtumsbegriff der Warengesellschaft heraus. Etwas mag so unverzichtbar sein wie es will, nimmt es für seinen Nutznießer nicht die Form eines Mangelgutes an, so bleibt es vom Standpunkt der Warengesellschaft aus gesehen doch prinzipiell wertlos.

Die Warengesellschaft hat sich durch die ebenso basale wie paradoxe Identität von Reichtum und Mangel, die Zwangsreduktion von Reichtum auf den Reichtum an Mangelgütern, nie in ihrem Selbstverständnis erschüttern lassen. Mehr noch, sie kann diesen Zusammenhang bewußtlos ausplappern und ihn zugleich apologetisch wenden. Um sich ein solches ihr opportunes Ergebnis zu erschwindeln, muß die bürgerliche Ideologie nicht besonders tief in die Trickkiste greifen. Ihr einziger »Kunstgriff« besteht im Grunde in einem äußerst simplen Kurzschluß. Knappheit wird naturalisiert, indem sie konsequent zunächst mit Mangel, also unzureichender menschlicher Bedürfnisbefriedigung, durcheinandergeworfen wird und dieser wiederum mit der Endlichkeit aller Ressourcen. Die spezifische warengesellschaftliche Vermittlungsform wird mit der je nach dem Entwicklungsstand der menschlichen Naturbeziehung enger oder weiter gezogenen, dabei letztlich freilich nicht beseitigbaren Begrenztheit jeder gesellschaftlichen Gütererzeugung verwechselt. Die Verrücktheit des gesellschaftlichen Syntheseprinzips verschwindet hinter der höchst banalen Tatsache, daß so gut wie alles in einer endlichen Welt nur in einer bestimmten Menge zu finden bzw. mit einem nicht beliebig minimierbaren Aufwand an menschlichen und natürlichen Ressourcen herzustellen ist.(7) Damit ist der reale Konstitutionszusammenhang aber genau auf den Kopf gestellt. »Knappheit« resultiert weder aus der quantitativen Begrenztheit aller von Natur vorhandenen oder von Menschen erzeugten Dinge noch aus einem vorausgesetzten prinzipiellen Mangel an Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung; die ökonomische Setzung Knappheit erzeugt vielmehr ihrerseits erst systematisch jenen Mangel, der ihr Urgrund sein soll.(8)

Im offiziellen wirtschaftswissenschaftlichen Sprachgebrauch relativiert einzig und allein noch der Begriff der »freien Güter« die ansonsten als selbstverständlich unterstellte Identität von »Knappheit« und »Nützlichkeit« und bringt in Erinnerung, daß es prinzipiell auch Momente von Reichtum jenseits des Mangels geben könne. Aber auch dieses Zugeständnis dient, wie könnte es anders sein, lediglich der Bestätigung der Grunddoktrin. Indem das ökonomische Bewußtsein zähneknirschend einräumen muß, Luft, Sonnenschein und einige wenige andere lebenswichtige Ressourcen, die ohne die Dazwischenkunft irgendeiner menschlichen Aktivität als unmittelbare Genußgegenstände vorgefunden werden, seien trotz aller Anstrengungen selbst am Ende des 20. Jahrhunderts noch nicht so weit verknappt, daß ihnen als Mangelgüter endlich ein Preisschild angeklebt werden kann, unterstellt es im Umkehrschluß nämlich immer schon zweierlei – erstens: alle nach menschlichen Begriffen nur in endlicher Menge vorhandenen Güter sind knappe Güter; zweitens: wo erst vermittelt durch menschliche Tätigkeit Naturgegenstand zum Genußgegenstand für den homo sapiens wird, handelt es sich beim Resultat dieses produktiven Bemühens per se um ein knappes Gut.

Mangel ist selbstverständlich kein völlig neuartiges Phänomen. Er war den Menschen insofern von jeher vertraut, als die Bedürfnisbefriedigung auch in traditionellen Gesellschaften stets sozialen Restriktionen unterworfen blieb und inbesondere, weil sich angesichts der fehlenden Reichweite des produktiven Zugriffs die Naturschranke zu allen Zeiten periodisch in Gestalt von Mißernten und Seuchen immer wieder bemerkbar machte. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die moderne Waren- und Überflußgesellschaft eine viel intimere Beziehung zum Mangel unterhält als jede ihrer Vorgängerinnen. Während der traditionelle Reichtum am Mangel nur eine äußere Limitierung fand, hat ihn das Primat der Knappheit in den gesellschaftlichen Funktionsmechanismus implantiert. Aus dem allzeit drohenden und periodisch wiederkehrenden Einbruch ist gerade in der Überflußgesellschaft ein Dauerzustand geworden, aus dem sich der moderne Mensch nicht einmal mehr hinausphantasieren kann.

Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen in traditionellen Gesellschaften die vergleichsweise engen Grenzen akzeptierten, die der Reichtumserzeugung gesetzt waren, sah das bei ihnen noch anders aus. Sie hatten immerhin noch so viel Distanzfähigkeit, daß sie von einer von Elend und Mangel befreiten und mit der Natur versöhnten Welt wenigstens träumen konnten. Im jüdisch-christlich-islamischen Kulturkreis steht das Paradies, das am Ende der Zeiten den Auserwählten seine Pforten öffnen würde, wesentlich für diesen Traum.

Dem ach so aufgeklärten modernen Subjekt mag die religiös- phantastische Form der Erlösung vom Mangel reichlich borniert anmuten, weil sie für das Diesseits menschliche Not als göttliche Strafe für die Ursünde rechtfertigt. Immerhin blieb in diesem Weltbild aber – und das muß man ihm zugutehalten – die Differenz zwischen dem Wünschbaren und der sozialen Realität aufrechterhalten. So viel kritisches Potential läßt sich der glorreichen ökonomischen Vernunft beim besten Willen nicht nachsagen. Diese Denkungsart ist sogar so verrückt, daß in ihrem Bezugssystem selbst noch der uralte Inbegriff einer durch und durch reichen Gesellschaft in sein Gegenteil, in die Schreckensvision reinster Armut und blanker Not, umschlagen muß. Wenn Reichtum, wie uns die Ökonomen, beginnend mit Adam Smith, lehren, identisch ist »mit der Macht, kaufen zu können«, dann sinkt er nämlich dort, wo niemand die Notwendigkeit verspüren kann, irgendwelche Tauschbeziehungen einzugehen, weil – in ökonomischen Termini gesprochen – jedes Gut »freies Gut« ist, logischerweise auf seinen absoluten Nullpunkt.(9) Natürlich schreckte Adam Smith als protestantischer Moralphilosoph davor zurück, die doch ziemlich ketzerische theologische Konsequenz des von ihm erstmals auf den Punkt gebrachten nationalökonomischen Reichtumsbegriff zu ziehen. Dennoch liegt sie in ihrer ganzen Absurdität offen zu Tage: Erst mit der Vertreibung aus dem Garten Eden hat der Herr Adam und Eva vom absoluten Mangel erlöst. Erst indem Jahwe in seinem göttlichen Zorn die Menschheit mit dem Fluch belegte, fortan ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen zu müssen, hat er sie, dem ökonomischen Verstande nach, mit so etwas wie Reichtum beglückt.

Wenn das biblische Paradies für die Marktwirtschaft die blanke Hölle darstellt, dann sieht logischerweise deren Idealwelt etwas anders aus als die des Alten Testamentes. Die Vorliebe, mit der einst die Vertreter der »subjektiven Wertlehre« und bis heute die der daraus abgeleiteten Grenznutzentheorie ihre Doktrin am berüchtigten Glas Wasser in der Wüste idealtypisch zu erläutern pflegen, kommt nicht von ungefähr. Dieses Modell gibt in der Tat die Bedingungen optimierter marktwirtschaftlicher Reichtumslogik wieder. Im ökonomischen Sinn darf sich eine Gesellschaft umso reicher schätzen, je perfekter es ihr gelingt, den sozialen Zusammenhang in eine Wüste zu verwandeln, in der die Menschen von allem Lebensnotwendigen und allem, was das Leben lebenswert machen könnte, prinzipiell restlos abgeschnitten sind, auf daß es ihnen allein in der Schrumpfform der Ware und auschließlich über die Teilnahme am Verwertungsbetrieb vermittelt partiell zugänglich werde.

Das religiöse Paradies war nicht von dieser Welt, sondern ein transzendenter Kontrapunkt zur Wirklichkeit des Diesseits. Anders die warengesellschaftliche Idealwelt. Ihr ist der Drang inhärent, die Wirklichkeit ihrem Bilde gemäß umzugestalten. Die verquere logische Identität von warengesellschaftlichen Reichtum und Mangel gibt somit die Grundrichtung an, die die historische Entwicklung mit dem Siegeszug der Ware genommen hat. Die Warengesellschaft hat zweifellos im Laufe ihrer Entwicklung eine reichhaltige Palette neuer und bunter Wassergläser hervorgebracht. Vor allem aber hat sie in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten in aller Unerbittlichkeit die Ödnis geschaffen und schafft sie jeden Tag neu, in der diese Gläser erst ihre ganze Bedeutung gewinnen. Der autosuggestive Stolz, mit dem die Trinkgefäße präsentiert werden, darf nicht von diesem zweiten und eigentlich zentralen Teil der »historischen Mission« unserer glorreichen Warengesellschaft ablenken.

2. Die urspüngliche Expropriation – die Schaffung des absoluten Mangels

Wie weiter oben schon skizziert, rechtfertigt die ökonomische Vernunft ihr »Allokationsprinzip Knappheit« dadurch, daß sie es mit der Endlichkeit von Natur und der jeder menschlichen Naturaneignung gesetzten Begrenztheit kurzschließt. Im Lichte dieser falschen Gleichsetzung erscheint die spezifische Verrücktheit der Warengesellschaft, Reichtum allein in der Form des Mangels hervorbringen zu können, als eine ontologische Konstante. »Knappheit«, so die Quintessenz, hat es seit Anbeginn der Zeit gegeben und wird es immer geben.

So unverzichtbar diese Doktrin für die ökonomische Vernunft auch ist, so steht sie doch in einem eklatanten Widerspruch zu der Selbstüberhöhung der Warengesellschaft zur »Überflußgesellschaft«. Wenn die dem warengesellschaftlichen Reichtum gesetzten Schranken tatsächlich allein in der Naturbeziehung zu verorten wären und zugleich die große Leistung der ökonomisch-technischen Rationalität darin bestünde, diese Grenze ein ums andere mal in einer bis dato unvorstellbaren Weise hinauszuschieben, dann müßte am Ende ihrer Entwicklung logischerweise die »Knappheit« selber zum »knappen Gut« werden. Damit würde sich aber nicht nur das vermeintlich unaufhebbare Grundprinzip allen Wirtschaftens als unhaltbar erweisen, dank ihres eigenen Erfolges müßte zusammen mit ihm Ökonomie überhaupt obsolet werden und zugrundegehen!

Der ökonomischen Vernunft gelingt es, diese beängstigende Perspektive zu bannen und die beiden sich ausschließenden Vorstellungen gleichzeitig zu denken. Angesichts der Horrorvorstellung, die Knappheit könne sich irgendwann einmal verknappen, springt sie von der äußeren Natur zur menschlichen und sucht bei einer Variante der alten Fabel vom Hasen und dem Igel Zuflucht. Die für die Wertverwertung charakteristische stete Unrast, der warengesellschaftliche Systemzwang, bei Strafe des Untergangs beständig neue Anlage- und Produktionssphären aus dem Boden stampfen zu müssen, wird der menschlichen Personage inkorporiert und in die Eigenschaftsform übersetzt. Der warengesellschaftliche Reichtum, so weiß man sich zu beruhigen, möge sich noch so explosionsartig vermehren, er wird stets hinter dem Begehren der Konsumenten nach mehr und besseren Waren zurückbleiben.Das Knappheitsprinzip überlebt als die unaufhebbare Diskrepanz zwischen der vermeintlich grenzenlosen Vermehrungsfähigkeit menschlicher Begierden nach Kaufdingen und den im Vergleich dazu nie hinlänglichen Wachstum der produktiven Möglichkeiten.

Indem der ökonomische Verstand sein universelles Allokationsprinzip mit dem Verweis auf die menschliche Natur rettet und das konsumgesellschaftliche Irresein in die Zukunft verlängert, erkennt er in gewisser Weise dessen relationalen und damit relativen Charakter an. So heißt es beispielsweise in einer gängigen Einführung in die Mikroökonomie explizit:

»Knappheit wird in der Regel umschrieben als Differenz zwischen der gewünschten Gütermenge einerseits und der vorhandenen bzw. erreichbaren Gütermenge andererseits, zwischen Bedürfnissen und Befriedigungsmöglichkeiten. Aus diesem Definitionsansatz wird zunächst deutlich, daß Knappheit nicht im absoluten Sinne (etwa als objektive Seltenheit von Gütern), sondern im relativen Sinne (in bezug auf die Bedürfnisse) zu verstehen ist.«(10)

Dieser Rückbezug vom Naturgegenstand auf den Konsumenten führt indes keineswegs wirklich von der Vorstellung weg, die Knappheit habe ihren Urgrund in so etwas wie einem absoluten, ja physiologischen Mangel. Das Knappheit begründende absolute Elend erscheint lediglich nicht mehr als Basis, auf der die Warengesellschaft selber vorwärtsschreitet, sondern als ein der prä-warenförmigen Vergangenheit angehöriges, durch die Verallgemeinerung eines ökonomisch-rationalen Umgangs mit knappen Ressourcen sukzessive sistiertes Phänomen. Wenn in der Warengesellschaft trotz deren ungeheurer produktiver Fähigkeiten die Bedürfnisse dem Warenreichtum ein ums andere Mal enteilen, dann muß die Bedürfnisbefriedigung ungeheuer erbärmlich ausgesehen haben, bevor dieser Wettlauf auf Touren kam. Dieser autosuggestiven Logik entsprechend verwandelt sich dem ökonomischen Verstand in der Retrospektive die noch nicht von der Warenökonomie heimgesuchte Erde in einen in jeder Hinsicht äußerst unwirtlichen Ort.

Seine klassische Gestalt verdankt der Mythos, die Menschen hätten in vorkapitalistischen Gesellschaften diesem Planeten immer nur unter äußerster Kraftanstrengung und in nie enden wollender Plackerei ihr blankes Überleben abgetrotzt und seien erst durch das Aufkommen von Warenbeziehungen von diesem erbärmlichen Zustand erlöst worden, Adam Smith. Allen Ernstes fabulierte er in der Schlußtirade des Einleitungskapitels zu seinem Hauptwerk, »daß die Versorgung eines europäischen Fürsten nicht immer die eines fleißigen und dürftigen Bauern in dem Grade übertrifft, als die Versorgung des letzteren über die so manches afrikanischen Königs, des absoluten Herrn über Leben und Freiheit von zehntausend nackten Sklaven, hinausgeht.«(11) Als Begründung für diese doch etwas gewagte Einschätzung hält der Prophet und Chefideologe des hereinbrechenden ökonomischen Zeitalters lediglich den Verweis auf die angeblich enorm wohlstandssteigernde Wirkung der durch Handel und Geld möglich gewordenen Arbeitsteilung parat. Allein schon, weil das Sackleinen, das notdürftig die Blößen des britischen Pauper des 18. Jahrhunderts bedeckt, als das Endprodukt eines tief gestaffelten arbeitsteiligen Systems gelten kann, ist dessen Träger weit reicher zu schätzen als die armen Neger in Afrika, aber auch als jeder seiner eigenen Vorfahren!

Solche Ergüsse machen nicht nur sichtbar, wie eng die Apotheose des warengesellschaftlichen Reichtums mit der rassistischen Abwertung außerokzidentaler Kulturen verzahnt ist ;(12) sie stehen gleichzeitig für eine ungeheuerliche, für das ökonomische Selbstbewußtsein charakteristische Geschichtsklitterung. Wenn Adam Smith und seine Nachplapperer bis heute den Siegeszug der Warenproduktion darauf zurückführen, daß diese sich von Anfang an als sämtlichen älteren Reproduktionsformen in Sachen Reichtumsproduktion deutlich überlegen erwiesen hätte, stellen sie frisch, fromm, fröhlich, frei die gesamte Geschichte der Frühmoderne auf den Kopf. Der sprunghafte Anstieg des Wohlstandsniveaus, das die Marktapologeten in den Übergang von der feudalen, vornehmlich auf Selbstversorgung ausgerichteten Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft hineinphantasieren, hat schlicht und einfach nach nie stattgefunden. Die sozialgeschichtliche Forschung hat eher nolens denn volens einen völlig gegenteiligen Befund zu Tage gefördert: die Geburt des kapitalistischen Reichtums fiel mit einem historisch einmaligen allgemeinen Pauperisierungsschub zusammen. Wie die Etappen des großen sozialen Absturzes genauer zu bestimmen sind, mag nicht so eindeutig sein. Karl Georg Zinn (13)etwa sieht bereits in der Pestwelle des 14. Jahrhunderts wesentlich eine Folge der mit dem Vordringen der Marktlogik einhergehenden nachhaltigen Verschlechterung der Lebensbedingungen, insbesondere im Zentrum der damaligen protokapitalistischen Entwicklung, also in Oberitalien; andere Autoren unterschiedlichster Provenienz, von Fernand Braudel über Wilhelm Abel(14) bis zu Immanuel Wallerstein, setzen den Beginn des eigentlichen Absturzes in Westeuropa erst im 16. und 17. Jahrhundert an(15) und verorten den absoluten Tiefpunkt im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Bei allen Differenzen und wohl auch notwendigen Differenzierungen läßt die große historische Linie an Eindeutigkeit aber nichts zu wünschen übrig.(16)

Solange man die soziale Katastrophe, mit der die Warengesellschaft ihre Laufbahn eröffnet hat, als einen mehr oder minder »zufälligen« empirischen Fakt nimmt, mag es naheliegen, die ökonomische Geschichtsmythologie als bloßes Nichtwissen zu werten und sie damit zu entschuldigen, daß Adam Smith nun einmal nicht mit den Ergebnissen der sozialhistorischen und ethnologischen Forschung des 20. Jahrhunderts vertraut war und die Vorurteile seiner Zeit teilte. Der Blickwinkel verändert sich allerdings gehörig, sobald man die historische Entwicklung auf die Knappheitslogik selber bezieht und als entscheidende Etappe in Genese des warengesellschaftlichen Bezugssystems faßt. Aus einer solchen Perspektive erscheint die Smithsche Anschauung nicht mehr nur einfach als veraltet und falsch, was nach 250 Jahren ja nicht besonders überraschen könnte, sondern als völlig adäquate Fassung der für den ökonomischen Fortschritt insgesamt konstitutiven Perfidie. (17) Die Smithsche Position stellt nichts anderes als den ebenso erfolg- wie folgenreichen Versuch dar, am Ende der Erstinstallationsgeschichte der Warengesellschaft mit Hilfe einer halbbewußten »Vergessensstrategie« – immerhin war Smith ja Augen- und Ohrenzeuge des absoluten Tiefs der Verelendung und der sie begleitenden sozialen Kämpfe – das Urverbrechen der Warengesellschaft, die gewaltsame Zerstörung aller knappheitsfreien Formen von Reichtumserzeugung, in die Rechtfertigung des warengesellschaftlichen Knappheitsfortschritts umzumünzen. Die mit der Etablierung der modernen Ökonomie einhergehende Herstellung von absolutem Mangel läßt, indem sie in die prä-warenförmige Vergangenheit projiziert wird, den Knappheitsfortschritt, den prozessierenden relativen Mangel, als Erlösung von Not und Elend erscheinen.

Schon Marx hat im Kern den amnestischen Grundzug der liberalen Geschichtsmythologie offengelegt. Im berühmt-berüchtigten 24. Kapitel des Kapitals schildert er am britischen Beispiel recht eindringlich und in lebhaftem Kontrast zu den Ammenmärchen und Schönfärbereien der klassischen Nationalökonomie, welchen Greueln die kapitalistische Produktionsweise ihre Entstehung verdankt. Er konzentriert sich dabei auf die Genese der »im doppelten Sinne freien Lohnarbeiterschaft« als des zentralen Bildungselements der kapitalistischen Produktionsweise und bestimmt »die sogenannte(18) ursprüngliche Akkumulation« wesentlich als den »historischen Scheidungsprozeß von Producent und Produktionsmittel«.(19) Die Grundlage dieser Trennung macht Marx in »der Expropriation der Arbeiter von Grund und Boden« (20) aus. Erst wo die bäuerlichen Massen gewaltsam ihrer Reproduktionsvoraussetzung entkleidet wurden, können sie zum Rohmaterial von Kapitalvernutzung mutieren.

Dechiffriert man die ursprüngliche Akkumulation als ursprüngliche Expropriation, so liegt es nahe, diesen Gedanken weiterzutreiben und die Genese des Kapitalverhältnisses wesentlich als die Schaffung von so etwas wie absolutem Mangel zu begreifen. Die Ware stieg in dem Maße zur Grundform des gesellschaftlichen Reichtums auf, wie die Menschen, soweit sie sich als Nichtwarenbesitzer aufeinander bezogen, jeden Zugang zu den Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion verloren und auf ein Dasein am Rande des oder unter dem physiologischen Existenzminimum herabgedrückt wurden. Bei aller Empörung über die historischen Ungeheuerlichkeiten wurde Marx von seinem Glauben an die historische Mission des Kapitals und seine Verachtung alles Vorkapitalistischen allerdings daran gehindert, diesen Zusammenhang konsequent auszuleuchten. Allzu fixiert auf das schließliche Ergebnis und nicht ganz frei von der (unhaltbaren) Vorstellung, der von der Herrschaft des Kapitals gekennzeichneten Epoche sei eine wesentlich von kleinen privater Warenproduktion geprägte Ära vorangegangen und der Sieg des Kapitals sei dementsprechend als Formwechsel innerhalb des Privateigentums zu fassen, belichtet er zweierlei eng zusammengehörige Punkte nur unzureichend: Zum einen handelt es sich bei der ursprünglichen Expropriation keineswegs, wie es bei seiner Darstellung erscheinen könnte, um ein Nullsummenspiel, bei dem der vorhandene Reichtum nur unter verschiedenen Eigentümerkategorien neu verteilt wurde; das Verschwinden des Systems traditioneller Nutzungsrechte, die Durchsetzung des Privateigentums, bedeutete vielmehr wesentlich die Zerstörung von vorhandenem nicht privatisierbaren Reichtum. Zum anderen eilte der Expropriationsprozeß der Reintegration der Expropriierten nicht nur Jahrzehnte, sondern teilweise einige Jahrhunderte voraus! Der Vormarsch der Warengesellschaft stieß die ursprünglich Entwurzelten nicht in die Manufakturen und Fabriken (dort fanden sich erst deren Urenkel wieder), sondern ins Nichts.(21)

Sicherlich leuchtet in vielen Passagen der Marxschen Darstellung auf, daß die Installation der Warengesellschaft mit dem größten und dramatischsten allgemeinen Verarmungsschub zusammenfällt, den es in der Geschichte überhaupt je gegeben haben dürfte; da die Ausführungen sich im wesentlichen auf einer deskriptiven Ebene bewegen, erscheint dies aber mehr oder minder als Problem bloßer historischer Kontingenz. Genau das verfehlt indes den Kern der Sache. Nicht nur de facto, auch logisch ist die völlige Enteignung und Verelendung der Zwangsreduktion von Naturaneignung auf Arbeit, also der Erzeugung von Warenbesitzern, die vornehmlich als die Eigentümer ihrer eigenen Haut am Wechselspiel der Warenbesitzer partizipieren, vorausgesetzt. Der Aufstieg des Privateigentums konnte sich grundsätzlich nur als Expropriationsprozeß vollziehen, weil Privateigentum und Enteignung per se identisch sind und von vornherein ein und dieselbe soziale Relation bezeichnen.

Auf den ersten Blick mag diese These befremden. Sie schlägt schließlich genauso der landläufigen liberalen wie der traditionell linken Sichtweise ins Gesicht. Für den Marxismus war es immer ganz selbstverständlich, die Enteignungslogik nicht im Begriff des Privateigentums als solchem zu verorten, sondern allein dort auszumachen, wo sich Privateigentum auf fremde Arbeit aneignend bezieht, also sich bereits in Kapital verwandelt. Dieser Freispruch beruht indes allein auf der fest eingeschliffenen, vom Liberalismus übernommenen Gewohnheit, Privateigentum grundsätzlich immer nur von der Besitzerseite her und damit als rein positives Haben zu fassen. Als universelles gesellschaftliches Verhältnis steht das Privateigentum aber keineswegs nur in Beziehung zu demjenigen, der den jeweiligen Besitztitel hält, sondern gleichzeitig genauso, wenn auch negativ, zu allen anderen. Privateigentum fällt mit der Konstitution von Mangel zusammen, weil es für einen grundsätzlich exkludierenden Bezug auf alles steht, was zum gesellschaftlichen Reichtum zählen kann. Der privilegierte Zugriff einer einzigen juristischen Person schneidet ex definitione alle anderen von jedem denkbaren Gebrauch rigoros ab und garantiert deren Nichtteilhaben an einem Gebrauchsgegenstand oder einer Reproduktionsquelle.

Dem modernen Menschen ist dieses ausschließende und von daher am Gegenpol prinzipiellen Mangel erzeugende Aneignen derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß er sich eine andere Beziehung auf gesellschaftlichen Reichtum kaum mehr denken kann. Das ändert aber nicht das mindeste an deren ganz spezifischem, historisch eng umgrenztem Charakter. Die traditionellen, nach dem Prinzip der »Nahrung« strukturierten europäischen Gesellschaften war so etwas wie unser Ausschlußeigentum schlicht unvorstellbar. Auf ein Stück Grund und Boden und das dazugehörige Inventar bezogen sich stets eine ganz Reihe sich überschneidender und durchkreuzender, gleichermaßen legitimer Nutzungsrechte. Derselbe Wald diente den Dorfbewohnern dem Gewohnheitsrecht gemäß zur Schweinemast und zum Brennholzsammeln, während der Lehnsherr dort die Jagdrechte innehatte. Nicht nur der Grundherr partizipierte am bäuerliche Acker und seinen Erträgen, sondern auch die Landlosen bzw. Landarmen, beispielsweise durch das Gewohnheitsrecht der Nachlese. Natürlich sorgte dieses Geflecht von sozial gebundenen Aneignungsformen keineswegs für idyllisch konfliktfreie Verhältnisse, es verhinderte weder eine streng hierarchische soziale Schichtung noch periodisches Elend, etwa im Gefolge von Mißernten; außerhalb jeden Denkhorizonts lag unter solchen Bedingungen aber der Ausschluß breiter Teile der Bevölkerung von ihren eigenen Reproduktionsgrundlagen.Das galt übrigens nicht nur für das ländliche Gros der Bevölkerung, sondern genauso für die mittelalterlichen Städte. Zwar produzierte das zünftige Handwerk für den Austausch, die Austauschbeziehungen wurden aber statt von den Prinzipen blinder Konkurrenz und privater Profitmaximierung nach den Regeln sozial gebundenen Auskommens reguliert. Bäcker, Küfner, Tischler waren zwar zusammen mit ihren Gesellen dem Arbeitsablauf nach Einzelproduzenten, aber keineswegs Privatproduzenten,(22) was den sozialen Kontext angeht, und damit können ihre Güter nicht als Waren im modernen Sinne gelten.

In dem Maße, wie diese sozial gebundenen Verhältnisse aufgebrochen wurden und mit der Privatisierung von Eigentum die Rechte der nun zu Nichteigentümern verniemandeten anderen sich in nichts auflösten, mußte dies einen breiten Depravierungsschub auslösen. Diese Entwicklung ist untrennbar mit dem Prozeß der Verrechtlichung verknüpft. Er verwandelte das alte Recht, Brennmaterial zu sammeln, in Holzdiebstahl, machte aus dem nutzbaren Gemeindeland fremdes Territorium, entwurzelte damit große Teile der bäuerlichen Produzenten und löste auch die alte zünftige städtische Produktion von Auskommen und Nahrung auf.

3. Exkurs:

Der ökonomischen Mythologie nach kam die warengesellschaftliche Dynamik deshalb in Gang, weil Marktorientierung und warengesellschaftliche Arbeitsteilung bei der Reichtumsproduktion sämtlichen traditionellen Reproduktionsformen überlegen gewesen sei. Wo ein warengesellschaftlicher Sektor mit der unproduktiven Subsistenzproduktion in Konkurrenz tritt, so das Credo, kann letztere einfach nicht mithalten und bleibt automatisch auf der Strecke.

Noch nie so recht hat zu dieser Vorstellung die Singularität der warengesellschaftlichen Entwicklung passen wollen. Wenn von der Ausdehnung von Handel und Geldwesen per se eine Dynamik der Wohlstandssteigerung ausgeht, warum ist dann keine außereuropäische Zivilsation den Verlockungen einer konsequenten Monetarisierung je auch nur ansatzweise von sich aus erlegen? Geldwirtschaft und ein Handelswesen kannte schließlich nicht nur die griechisch-römische Antike, sondern auch das chinesische Kaiserreich und viele andere Kulturen. In der islamischen Welt hatte sich im Mittelalter sogar ein dem damaligen Okzident deutlich überlegenes Handelswesen herausgebildet. In all diesen Weltregionen haben Geld und Handel jedoch nie Anstalten gemacht, aus ihrer Nischenexistenz an der Peripherie einer auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen gegründeten Ordnung auszubrechen. Die Geldwirtschaft hat vielmehr in all diesen Zivilisationen ebenso wie im mittelalterlichen Europa stets die alltägliche Reproduktion im wesentlich ausgespart und sich damit begnügt, den Austausch von Seltenem zu vermitteln, also von Gebrauchsdingen, die im weiteren Umkreis nicht erzeugt werden konnten,(23) statt alles und jedes in Knappes zu verwandeln.

Der naheliegende Schluß, daß die Marktproduktion außerhalb eines ganz engen, für die eigentliche Reichtumserzeugung peripheren Segments sich keineswegs per se als idealer Wohlstandsvermittler aufdrängte, wird, wie wir gesehen haben, durch die Urgeschichte der Warengesellschaft in Europa keineswegs dementiert, sondern bestätigt. Umso schärfer stellt sich dann aber die Frage nach den eigentlichen für die »große Transformation« (Karl Polanyi) verantwortlichen Triebkräften. Anders und enger auf unsere vorhergehenden Überlegungen bezogen formuliert: Wenn die Erstinstallation des Universalprinzips Mangel schon deshalb nicht von der Sachzwanglogik der Konkurrenz ausgehen konnte, weil diese jenen bereits voraussetzt, was war dann der Ausgangspunkt bei von dessen Etablierung?

Scheidet die wohlstandssteigernde Wirkung aus, so bleibt als entscheidendes Motiv, das die Geldwirtschaft auf die Gewinnerstraße brachte, nur das Bedürfnis nach der spezifisch monetären Form von Reichtum übrig. Die ursprüngliche Akkumulation konnte demnach nur dadurch in Gang kommen, daß sich innerhalb der traditionellen Gesellschaft eine Instanz formierte, für die es, aus welchen Gründen auch immer, zur Überlebensfrage wurde, gerade die Quellen des monetären Reichtums so reichlich wie irgend möglich sprudeln zu lassen; ein Agens mußte auf den Plan treten, das sich Aufgaben widmete, die sich im dezentralen naturalwirtschaftlichen Rahmen nicht bewältigen ließen und daher vor allem anderen Gold und Silber erforderten(24) und das dabei gleichzeitig mächtig genug war, sein Monetarisierungsprogramm gegen alle Beharrungskräfte und gegen jeden sozialen Widerstand durchzusetzen.Diese Kraft ist in nichts anderem als in den sich bildenden jungen Territorialstaaten zu suchen, und die äußerst menschenfreundliche gesellschaftliche Praxis, an der sich diese konstituierten, bestand in der modernen Kriegsführung auf der Grundlage von stehenden Heeren und Feuerwaffen. Der Triumph der Geldwirtschaft mit ihren Prinzipien von Knappheit und Profitmaximierung war einzig und allein deshalb so durchschlagend, weil sie allen Vorgängern in der Produktion von Vernichtung haushoch überlegen war und die Imperative militärischer Konkurrenz wiederum auf das soziale Gefüge insgesamt zurückschlugen und es nach ihrem Bilde ummodelten.

Nimmt man die Arbeiten von Historikern wie Geoffrey Parker(25) und anderen ernst, so liegt es nahe, in der Erfindung des Schießpulvers die Basisinnovation der Moderne überhaupt zu sehen. Es ist von daher nicht übertrieben, den Urknall der Moderne in der oberrheinischen Alchimistenküche des Berthold Schwarz auszumachen. Gleich in mehrfacher Hinsicht haben nämlich die mit Kanonen und Musketen bewaffneten Söldnerheere, als sie die feudalen Gefolgschaftsheere ablösten, der Warengesellschaft die entscheidende Bresche geschossen. Zunächst einmal kam dem militärischen Sektor schlicht eine Vorbildfunktion zu. Lange bevor zum ersten Mal produktive Lohnarbeiter und Kapitalisten auf den Plan traten, hatte sich die Logik abstrakter Arbeit und der Profitmaximierung bei der Produktion von Destruktion schon fix und fertig herausgebildet. Wie der künftige Lohnarbeiter im Landsknecht seinen Prototyp fand, so nahm die Figur des Kapitalisten, wie Rudolf zur Lippe nachweist, erstmals in den Condottiere der Renaissance Gestalt an:

»Die Planung von Kriegshandlungen[…]war bereits unter dem Primat von Gewinnkalkulation gebändigt. Ritterliche Ehrenvorstellungen und standesgemäßes Draufgängertum waren dafür nicht gefragt[..]. Der nicht funktionalisierte Rest feudaler Haltung, das heißt unmittelbarer Bezüge auf Personen und Sachen, für die man kämpfte, verschwand von einer Generation >letzter Ritter< zur nächsten immer mehr..Tatsächlich hatte die Masse der Krieger sich in Soldaten, d.h. Soldempfänger, verwandelt und die Führer wurden aus den Kassen der Staaten und Kontore bezahlt. Da die Anzahl von Landsknechten in einer Streitmacht nur noch repräsentierte, wie viele der Auftraggeber bezahlen konnte, war die abstrakte Zusammenfassung von Schlagkraft in der Vernichtungsmaschine Kanone die logische Konsequenz.«(26)

Die Revolutionierung der Produktion von Zerstörung lieferte aber nicht allein das Grundmuster, das dann für den Bereich der Reichtumserzeugung abrufbar bereit lag; sie sorgte vor allem überhaupt erst für den notwendigen, über den staatlichen Zwang (Steuerwesen) vermittelten Monetarisierungsdruck. Das neue Kriegswesen schraubte vorderhand den Anteil von gesellschaftlichen Ressourcen, die für nichtreproduktive Aufgaben mobilisiert wurden, auf eine wohl seit dem Pyramidenbau nicht mehr gekannte Höhe. Nicht nur der mittelalterliche Kathedralenbau, auch die damaligen Kriegszüge waren im Vergleich zu den neuen und dem dazugehörigen Wettrüsten geradezu läppische Angelegenheiten. Die sprunghafte Ausdehnung der quantitativen Ansprüche an die Gesellschaft im Gefolge eines ganz Europa erfassenden Rüstungswettlaufs ging aber – und das ist entscheidend und macht den Unterschied zum alten Ägypten aus – mit einem grundlegenden Formwandel einher. Die feudalen Heere waren, sowohl was Ausrüstung als auch was Personage angeht, unmittelbar in die Naturalwirtschaft eingebunden gewesen und von ihr unterhalten worden. Die Kriegerkaste hatte sich als weitgehend autonome Herrschaft innerhalb der Naturalwirtschaft reproduziert und vor diesem Hintergrund persönlich für Pferde und Waffen gesorgt. Um die neuen Armeen aufzustellen, zu unterhalten und auszurüsten, bedurfte es dagegen ausgerechnet vornehmlich des Stoffes, den die traditionelle Naturalwirtschaft nicht in hinlänglicher Menge ausschwitzen konnte, nämlich des Geldes. Dieses »Geheimnis« mußte nicht erst die sozialhistorische Forschung ex post lüften; schon den Zeitgenossen war diese Tatsache durchaus vertraut. Marschall Trivolizi jedenfalls hat dem französischen König Ludwig XII., als er vor fast genau fünfhundert Jahren von diesem mit der Vorbereitung des Italienfeldzuges von 1499 betraut wurde, unmißverständlich mitgeteilt, was für die Umsetzung der Eroberungspläne notwendig wäre:

»Was Eure Majestät brauchen, ist Geld, mehr Geld und nochmals Geld.« (27)

Seine Majestät sowie dessen Kollegen und Nachfolger in den folgenden Jahrhunderten haben diesen Ratschlag stets zu beherzigen gewußt. Die gesamte Epoche der sogenannten ursprünglichen Akkumulation hindurch, von der Renaissance bis zum Ende des Absolutismus, stand die Herausbildung von Staatlichkeit und Politik unter dem Primat der Geldbeschaffung. Das heißt aber in erster Linie, daß die Terriorialstaaten in ihrem unstillbaren Geldhunger alles taten, um dem geldwirtschaftlichen Bereich, der abschöpfbare Einkünfte versprach, die naturalwirtschaftliche Konkurrenz vom Hals zu schaffen und für die verbrannte Erde zu sorgen, in der die heraufziehende Verwertungsgesellschaft schließlich Wurzeln schlagen konnte.

Die klassische Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts, die von diesem etatistischen Erbteil nichts wissen wollte, hat diese Geschichte konsequent »vergessen«. Bis heute sind die Wirtschaftswissenschaften dem treu geblieben und vermeiden tunlichst jede Erinnerung an die Hebammenrolle des frühneuzeitlichen Warfare-Staats bei der Geburt der Warengesellschaft. Ein größeres Problembewußtsein hatte da schon der romantische Dichter E.T.A. Hoffmann, auch wenn er diesen Zusammenhang natürlich nicht theoretisch, sondern nur in der litarischen Form des Märchens auf den Punkt bringen konnte. In »Klein Zaches genannt Zinnober« legt er jedenfalls dem Minster Andres, der Fürst Paphnutius überzeugen will, daß »die Aufklärung«, die sie in ihrem Ländchen einzuführen gedenken, mit der Vertreibung der Feen zu beginnen habe, folgende Worte in den Mund:

»So z.B. entblöden sich die Frechen nicht, sowie es ihnen einfällt, in den Lüften spazierenzufahren mit vorgespannten Tauben, Schwänen, ja sogar geflügelten Pferden. Nun frage ich aber, gnädigster Herr, verlohnt es sich der Mühe, einen gescheiten Akzisetarif zu entwerfen und einzuführen, wenn es Leute im Staate gibt, die imstande sind, jedem leichtsinnigen Bürger unversteuerte Waren in den Schornstein zu werfen, wie sie nur wollen?«.(28)

Offenbar war E.T.A Hoffmann durchaus klar, daß es jedem aufgeklärten-rationalen und daher nach steuerlichen Abschöpfmöglichkeiten lechzenden Staat vor jedem knappheitsfreien und daher nicht monetarisierbaren Reichtum grauen mußte und daß jener sich zur Not noch stets mit Gewalt von solchem staatsfeindlichen Alptraum zu befreien wußte.

4. Das Regime des relativen Mangels

Um in den Rang einer unhintergehbaren Selbstverständlichkeit aufzusteigen, mußte die verrückte Identität von Reichtum mit Reichtum an Knappem zur alternativlosen Form von gesellschaftlichem Reichtum werden. Das setzte, wie wir gesehen haben, eine einschneidende soziale Katastrophe voraus, die gewaltsame Auslöschung jeder vorgängigen, nicht im Zeichen des Mangels stehenden Beziehung zu den gesellschaftlichen Ressourcen. Erst in der verbrannten Erde, die zurückblieb, nachdem die sozial gebundenen traditionellen Formen von Reichtumserzeugung zerstört worden waren, fand die heraufziehende Verwertungsgesellschaft die Grundlage, die es ihr erlaubte, Güterproduktion als heteronomen Prozeß zu reorganisieren. Sowenig die Warengesellschaft in ihrer Durchsetzungsbewegung die Stufe des absoluten Mangels auslassen konnte, sowenig durfte sie indes auf ihr stehenbleiben.

Von der Universalisierung der Warenbeziehung kann im Kern erst dort die Rede sein, wo auch die produktiven Fähigkeiten der Menschen Warengestalt annehmen und die unmittelbaren Produzenten, indem sie ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, als ganz gewöhnliche Warenbesitzer mit anderen Warenbesitzern in Austausch treten. Das impliziert, daß auch die Arbeitskraft zum »knappen Gut« mutiert.(29) Diese Metamorphose schließt indes aufgrund des spezifischen Gebrauchswerts der Basisware der Warengesellschaft zwei analytisch scharf zu trennende Momente ein. Zunächst einmal hat die Arbeitskraft, wie jede andere Ware auch, für ihren Käufer knappes und von daher zu bewirtschaftendes Gut zu sein. Darüber hinaus aber – und das hebt die Basisware von allen übrigen Elementen des Warenuniversums ab – muß sie gleichzeitig für ihren Verkäufer so etwas wie ein abgeknapstes Gut darstellen. Wenn Bäcker Brötchen und Schuster Schuhe austauschen, so werfen sie etwas vom Gebrauchswertstandpunkt für sie Überflüssiges auf den Markt; der Arbeiter hingegen kann, weil er eine Ware anbietet, die sich von seiner Leiblichkeit nun einmal nicht ablösen läßt, allein Lebensäußerung veräußeren, also Zeit, die er sich Tag für Tag von seiner eigentlichen Lebenszeit »abspart«.

Diese besondere Beziehung des Arbeiters zu seiner Ware ist konstitutiv für die vom Wert strukturierte Ordnung. Wären die (re)produktiven Tätigkeiten für diejenigen, die sie ausüben, unmittelbare Lebensäußerung und Lebensbedürfnis, so könnten sich die Erzeugnisse niemals als ein Ensemble knapper Güter vergegenständlichen. Die allgemeine Knauserigkeit und das Äquivalenzprinzip, das unbedingte Gebot, unter keinen Umständen mehr zu geben, als man im Gegenzug dafür bekommt, macht nur Sinn, wo das Weggegebene auf eine Anstrengung zurückgeht, die für diejenigen, die sie auf sich nehmen, stets ein notwendiges Übel, einen Abzug von der eigentlichen menschlichen Betätigung darstellt.(30)

Unter dem Regiment des absoluten Mangels kamen die beiden Knappheit konstituierenden Momente, die Knappheit der Ware Arbeitskraft für ihren Käufer ebenso wie ihr Status als abgeknapste, aus der Lebenszeit ausgegliederte Entäußerung, für ihren Verkäufer nur bedingt zum Tragen. Für diese Phase kann lediglich von einer formellen Subsumtion des Arbeitsvermögens unter die neue gesellschaftliche Form die Rede sein, was sie als transitorische Etappe in der kapitalistischen Entwicklung kenntlich macht. Was die Verkäuferseite angeht, so war das produktive Vermögen zwar insofern auf dem Weg, die Gestalt eines knappen Gutes anzunehmen, als seine Betätigung aller sozialen Aspekte und jedes Genußmomentes entkleidet und auf die Verausgabung abstrakter Arbeitsquanten reduziert wurde; solange die Arbeitszeit unter dem Diktat der absoluten Mehrwertproduktion stand und bis auf einen den unmittelbarsten physiologischen Grundbedürfnissen (Schlaf und Essen) geschuldeten Rest mehr oder minder den gesamten Tagesablauf umfaßte, konnte die Arbeitskraft sich aber nicht von ihrem Träger abdifferenzieren. Die Arbeitszeit erschien nicht als Abgeknapstes, weil es an dem, wovon sie abzusparen gewesen wäre, nämlich an der von der Arbeitszeit unterschiedenen Lebenszeit eines souveränen Warensubjekts, für den Arbeiter fehlte. Das Kapital eignete sich ihn demnach in toto als Naturresource an, d.h. es erwarb mit der Arbeitskraft zugleich den Arbeiter als solchen. Der Arbeitskontrakt führte keineswegs gleichberechtigte Warenbesitzer zusammen, sondern begründete ein von jeder traditionellen Rücksichtnahme befreites und dennoch in vielerlei Hinsicht persönliches Abhängigkeits- und Dressurverhältnis zwischen dem Patron und seinem Arbeitsvieh. Der Abstraktionsprozeß, dem die Arbeit unterlag, beschränkte sich in dieser Phase auf die völlige Entmenschung des Arbeitenden. Der Arbeiter gehörte der sich formierenden warengesellschaftlichen Sozietät nur negativ an. Damit nahmen ausgerechnet die Eigner der Basisware, der Arbeitskraft, in der Welt der freien und gleichen Warensubjekte eine inferiore Stellung ein. Die Diskriminierung dieser Eigentümerkategorie bedeutet aber zugleich die Diskrimierung der von ihr repräsentierten Ware. Erst der Übergang zur relativen Mehrwertproduktion und die Verinnerlichung der Arbeits- und Knappheitslogik durch das Proletariat machte diesem vom Standpunkt der Warendemokratie irregulären Verhältnis ein Ende.

Unter dem Regiment des absoluten Mangels firmierte die Arbeitskraft nicht nur im Verkaufsakt nur unter Vorbehalt als Ware wie jede andere. Sie erreichte auch im Austausch mit den übrigen Elementen des Warenuniversums demzufolge keine wirkliche Vollgültigkeit. Solange der Arbeitskraftverkäufer darauf festgelegt war, sich auf einem physiologischen Minimalniveau zu reproduzieren, blieb gerade für die Basisware die durch die Geldform des Lohns im Prinzip gesetzte beliebige Austauschbarkeit leere Abstraktion. Statt potentiell gegen jede andere Ware war sie im wesentlichen allein gegen Kartoffeln, billigen Fusel und vergleichbare Segnungen der Zivilisation konvertibel. Dies mußte aber letztlich blockierend auf die tautologische Selbstzweckbewegung des Werts zurückschlagen. Die Verwertungsgesellschaft kann nur expandieren, indem sie der Tendenz nach die gesamte Gesellschaft in Arbeitskraftverkäufer auflöst; wenn gleichzeitig aber die Lohnform die nur negative Integration des Arbeiters in die bunte Warenwelt dokumentiert, dann fällt jeder Fortschritt in der Anwendung abstrakter Arbeit mit der sukzessiven Zerstörung der Realisationssphäre der Arbeitsprodukte zusammen. In der totalen Warengesellschaft, die im Idealfall nur aus Arbeitskraftverkäufern besteht, muß sich in letzter Instanz die gesamte an den Waren geronnene Arbeit durch das Nadelöhr ihres Konsums pressen.(31) Die kapitalistische Logik konnte von daher auf ihrer eigenen Grundlage nur weiterprozessieren, indem sie den absoluten Mangel überwand und – zumindest cum grano salis – ihre ganze Warenpalette auch für die Besitzer der Ware Arbeitskraft zugänglich machte.

Der Systemzwang,(32) die Reproduktion der Ware Arbeitskraft vom physiologischen Minimum abzulösen, ist freilich nicht mit dem Verschwinden von Mangel überhaupt zu verwechseln. Lediglich ein Formwechsel findet statt. An die Stelle des absoluten tritt der sich selber perpetuierende relative Mangel. An die Stelle äußerlicher Gewalt tritt der verinnerlichte Zwang, die Knappheitslogik von sich aus mitzuexekutieren. Das Arbeitssubjekt gerät, im gleichen Maße, wie es seine Anerkennung als gleichberechtiges Warensubjekt erringt, in einen circulus vitiosus; seine Möglichkeiten, Warenreichtum an sich zu ziehen, wachsen zwar, aber nur weil und indem zugleich der Zwang, seine gesamten Bedürfnisse in Bedürfnisse nach Waren zu transformieren, noch viel schneller wächst. Von einem Ende, geschweige denn einer Umkehrung des Enteignungsprozesses kann in keiner Weise die Rede sein, er setzt sich lediglich mit sublimeren, aber deswegen keineswegs weniger durchschlagenden Methoden durch. Während die ursprüngliche Akkumulation die unmittelbaren Produzenten ihrer produktiven Möglichkeiten beraubte, muß das Warensystem, um auf seiner eigenen Grundlage zu expandieren, sukzessive alle nicht unter die Ware subsumierten sozialen und reproduktiven Zusammenhänge zersetzen. Wo immer irgendein Restchen von Selbsttätigkeit, Selbstgenuß oder herrenlosem, keinem bestimmten Privateigentümer zurechenbarem Reichtum existiert oder neu entsteht, hat an seine Stelle die Arbeit und der Konsum isolierter Warensubjekte, also Heteronomie zu treten. Daß zur Durchsetzung dieses kategorischen Imperativs juristische Verbote und offene Gewalt nur mehr ausnahmsweise nötig sind, spricht nur für die durchschlagende Kraft des Strukturprinzips.

Gerade auch in ihrer Boomphase nach dem 2. Weltkrieg blieb die kapitalistische Reichtumsproduktion immer an Reichtumszerstörung gekoppelt. Das gilt nicht nur für die ökologischen Folgelasten des warengesellschaftlichen »Wohlstands«, sondern auch für die Umstrukturierung des Alltagslebens durch diesen. Die Automobilmachung der Gesellschaft etwa, der Inbegriff des fordistischen Massenkonsums, war gleichbedeutend mit der Verunwirtlichung der Städte, hatte das radikale geographische Auseinanderreißen aller Lebensbereiche (Wohnen, Arbeiten, Konsumieren) zur Folge und sorgte damit überhaupt erst für den allgemeinen Mobilitätszwang und damit für ihre eigene Notwendigkeit. Das Automobil bedeutet nicht nur Luftverschmutzung, Verkehrstote und eine straßenverbaute Umwelt, seine Omnipräsenz macht erst seinen Nichtbesitzer, zumindest im ländlichen und suburbanen Raum, zu einer bedauernswerten, vom gesellschaftlichen Leben abgeschnittenen Kreatur.

Dieses Muster wiederholt sich allerorten. Der Vormarsch der Warenbeziehung zerstört den außerhalb der Warenbeziehungen angesiedelten sozialen Reichtum, um sich damit unentbehrlich zu machen. Wo die Unterhaltungsindustrie alle selbstorganisierten Möglichkeiten, seine Mußezeit zu verbringen, überrollt hat, wird es für den Einzelnen zusehends schwerer, seine Zeit außerhalb des Warenkonsums und der Freizeitindustrie zu gestalten. Während der Konsum- und Arbeitsidiotismus die eigene Stadt und Region zum ungastlichen Ort machen, wird der Fluchtimpuls angesichts dieser Zumutung zur Grundlage einer Tourimusindustrie, die die arbeitsgesellschaftlichen Errungenschaften bis in den letzten Winkel der Welt trägt (und sie verwüstet). Selbst noch der Wunsch, die eigenen Wände persönlich in Schuß zu halten, liefert in einer durchindividualisierten Welt einer gigantischen Heimwerkerindustrie, die ganze Maschinenparks an den Mann bringt, einen Absatzmarkt. Jeder verwertungsfreie Raum ist Verschwendung und hat entweder zu verschwinden oder zur Müllhalde zu verkommen, auf der die bei der universellen Arbeits- und Konsumschlacht anfallenden Abfälle vor sich hinstinken. Wer auch nur versucht, in innerstädtischen Bezirken ein sonniges Ruheplätzchen zu finden, ohne sofort konsumieren oder sich zwischen Hundescheißehaufen niederlassen zu müssen, erfährt unweigerlich die »materielle Gewalt« dieser Dynamik.

Das Geld- und Arbeitssubjekt muß flexibel sein; es hat jederzeit sein Leben bedingungslos auf die optimale Verwertung seines Humankapitals auszurichten. Diese Bedingung erfüllt der Einzelne umso besser, je weiter sich der soziale Zusammenhang ausdünnt, in dem er lebt. Dem totalen Markt entspricht das vollisolierte und vollidiotisierte Individuum, das nur dem Geldverdienen verpflichtet ist und den Luxus, sich jenseits der Welt der bargeldlosen Zahlung auf andere und anderes verbindlich einzulassen, völlig fahrengelassen hat. Selbst die Kleinfamilie, ursprünglich das Vehikel der warenförmigen Totalvergesellschaftung durch Entsozialisierung, wird schließlich zum Ballast und droht in letzter Konsequenz dem Vormarsch des homo oeconomicus auch noch zum Opfer zu fallen.

Der Preis, den die Einzelnen und die Gesellschaft für diese Form von Sparsamkeit und ökonomischer Rationalität zu zahlen haben, ist extrem hoch. Der wachsende Überfluß an Waren ist mit zunehmender Depravierung identisch. Selbst auf der Ebene der scheinbar unschuldigsten unmittelbarsten Reproduktionsbedürfnisse erweist sich Warenkonsum strenggenommen immer schon als kompensatorischer Konsum. Daß jede Geldmonade ihre Einzelzelle mit einer gigantischen Infrastruktur vollstopfen muß, Einbauküchen, die auf die Versorgung von Hochzeitsgesellschaften ausgelegt sind und einen fahrbaren Untersatz unterhält, der 23 Stunden am Tag zum »ruhenden Verkehr« gehört, belegt weniger den enormen Reichtum der westlichen Gesellschaften denn die Erbärmlichkeit der sozialen Zusammenhänge. Eine Gesellschaft, die selbst ein so simples Bedürfnis wie das nach sauberer Wäsche nur dadurch befriedigen kann, daß jeder Einzelhaushalt seine kleine Waschfabrik betreibt, stellt sich allein damit schon ein Armutszeugnis aus.

Daß der vielgefeierte Warenreichtum wesentlich Mangel und Armut anzeigt, gilt aber natürlich erst recht für den weiten Bereich, in dem Waren ersatzweise für etwas konsumiert werden, das der Verbrauch von Gütern nun einmal per se nicht liefern kann, wo die Ware also als Repräsentant von sozialer Anerkennung, Kontaktfähigkeit oder Zuneigung erworben wird. Wenn sich menschlicher Reichtum am besten mit Beziehungs- und Bedürfnisreichtum umschreiben läßt, dann bedeutet Warenreichtum eben das genaue Gegenteil: das gesamte Universum an möglichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Beziehungen wird auf das Immergleiche herunterdimensioniert.

Diese Zwangsreduktion verunmöglicht selbstverständlich den Einzelnen jede dauerhafte Befriedigung. Genau dieser Mangel treibt sie aber dazu, das gleiche Spiel ein ums andere Mal zu wiederholen, läßt sie auf der Jagd nach fiktiver Bedürfniserfüllung zum Hamster im Rad mutieren und gehört damit zu den Voraussetzungen der tautologischen Bewegung des Werts auf der Seite des Subjekts.

Die Absonderlichkeiten des warengesellschaftlichen Irreseins sind zu offensichtlich, als daß sie einfach übersehen werden könnten. Gerade die konservative Seite macht sie auf ihre Weise zum Thema und führt über die asozialen Züge des grassierenden Individualismus Klage. Kaum etwas ist aber so gemeingefährlich und zynisch wie die bigotten Sonntagsreden wider den »Werteverfall«. Schon der merkwürdige Gegensatz zwischen der Orientierung auf das pejorativ besetzte Materielle und irgendwelchen dagegen zur Geltung zu verhelfenden ideellen Gesichtspunkten, mit dem diese Pseudokritik so gern operiert, muß zu denken geben. Rein logisch betrachtet ist es völlig absurd, ausgerechnet das Bedürfnis nach mehr Geld und nach mehr für Geld Käuflichem als »materiell« und handfest zu klassifizieren,(33) das simple Bedürfnis, saubere Luft zu atmen oder in dieser Gesellschaft statt als Geldsubjekt als menschliches Wesen behandelt zu werden, hingegen zu etwas Höherem und Geistigen, zu vernebeln. Sinn macht diese seltsame Zuordnung nur dort, wo die Zwangsreduktion von Reichtum auf die Vergegenständlichung abstrakter Arbeit als ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird und es allein darum geht, die sich aus der Systemlogik ergebenden Verheerungen auf eine Frage subjektiver Haltungen zu reduzieren.Nicht genug damit, daß die Verzichtsideologie implizit die »soziale Kälte« anerkennt, gegen die sie angeblich zu Felde zieht, sie legitimiert und exekutiert vor allem den laufenden sozialen Verwüstungsprozeß. Die aktuelle Opferrhetorik erinnert nicht zufällig an Kriegs- und Durchhaltepropaganda. Die Ähnlichkeit verweist auf die analoge Funktion, die ihr im sublimen Weltkrieg der Wertverwertung zukommt, und auf den sado-masochistischen Gehalt dieser Ideologie. Im Feldzug gegen das Anspruchsdenken mischen sich zwei Motive. Zum einen steht er für die knallharte Forderung, zum Wohle der Selbstzwecklogik der abstrakten Arbeit möchten deren Knechte gefälligst auch noch die erbärmlichen Gratifikationen freudig fahrenlassen, mit denen sie in den letzten Jahrzehnten abgespeist wurden. Zum anderen schwingt die Trauer um die verlorene Wolfsrudelgemütlichkeit mit und der Traum, vielleicht künftig wieder mehr als Volksgemeinschaft denn als einzelnes Warensubjekt in die Verteilungsschlachten der Zukunft ziehen zu können.

Wie wenig sich eine solche nach dem Vorbild des Kolbergmythos gezimmerte Weltsicht emanzipativ wenden läßt, versteht sich von selber. Gesellschaftskritik hat nicht den etwas anderen Verzicht zu predigen, sie muß stattdessen die gemeinsame Grundlage in Frage stellen, auf der die Vertreter der neoliberal-postmodernen Konsumparty und die kulturkonservativen Mahner miteinander streiten. Sie steht demnach für eine dritte, die systemimmanente Polarisierung über den Haufen werfende Position, die darauf insistiert, daß warengesellschaftlicher Reichtum immer schon Verzicht zum Inhalt hat. Gesellschaftskritik hat den Verzicht auf diesen Verzicht als Perspektive und zeichnet die Expropriationslogik, die dem letzten halben Jahrtausend ihren Stempel aufgedrückt hat, nur nach, um sie zu attackieren.

Die Kritik am warengesellschaftlichen Reichtum schließt die Kritik an den herrschenden Konsummustern ein. Damit gerät sie unweigerlich in Konflikt mit dem Zeitgeist. Schließlich ist Konsumkritik, soweit sie nicht konservativ instrumentalisiert wird, heutzutage mega-out, steht im Geruch der Besserwisserei und wird von den Apologeten der Warendemokratie in die Nähe von Bedürfnisdiktatur gerückt. Von alledem darf man sich indes nicht abschrecken lassen. Konsumkritik muß nur konkret werden und sie kann diesen Katalog an Vorwürfen umdrehen und als orwellsches Neusprech entlarven. Die Denunziation der Verteidiger der Konsumfreiheit geht nämlich nicht nur deshalb ins Leere, weil sie Maßstabslosigkeit als Tugend behandelt, sondern vor allem, weil sich die vielbeschworene »Konsumentendemokratie« bei näherem Hinsehen allemal als lupenreine Angebotsdiktatur erweist. Das gilt nicht allein für die Frühgeschichte der Warengesellschaft, sondern wiederholt sich auf jeder ihrer Entwicklungsstufen. Nicht der pseudo-autonome König Kunde bestimmt mit seiner Kaufentscheidung, was auf dem Markt zu finden ist, für alle wesentlichen Weichenstellungen hat vielmehr der heteronome Vernutzungsbetrieb (unter Einschluß seiner politischen Abteilung) schon lange vor dem Auftreten dieses ominösen vom ihm selber geheckten Wesens entschieden. Der Verbraucher mag indirekt mitbestimmen, ob der VW Golf oder der Fiat Panda größere Marktanteile für sich erobern kann; daß die Straße über die Schiene obsiegt hat, geht genausowenig auf seinen unergründlichen Ratschluß zurück wie der unaufhaltsame Einzug der Gentechnologie in die Nahrungsmittelproduktion. Der Individualverkehr hat sich durchgesetzt, weil es für die Wertverwertung nun einmal weit effektiver ist, den Transport von Menschen und Gütern nicht als Einzelleistung zu verkaufen, sondern jedem seinen eigenen kleinen Zug aufzuschwatzen, und weil in den 50er und 60er Jahren Verkehrspolitiker und Autolobbyisten ihm dieser Logik gemäß mit allen Mitteln den Weg bereitet haben. Die identitäre Rolle des Autos für die Warenmonade bleibt ein Sekundäreffekt. Vielleicht würde es mittlerweile die meisten televisionären Fußballfans irritieren, wenn die gewohnten Werbeunterbrechungen ausblieben, die ihnen die großartige Möglichkeit bieten, zwischen den aktuellen Bundesligaberichten die Toilette aufzusuchen, das Bier aus dem Kühlschrank zu holen und auch noch auf die Schnelle den heimischen Flur zu tapezieren; zu der Behauptung, die Ablösung der halbstündigen ARD-»Sportschau« durch »ran« ginge auf die Wünsche der Fernsehzuschauer zurück, dürfte sich bestenfalls die Leitung von Sat1 versteigen. Die Totalkommerzialisierung ist auch hier nicht die Antwort auf veränderte Sehgewohnheiten, sondern erzeugt sie erst. Auf der Tauschwertebene ist die altbekannte These von John Stuart Mill, jedes Angebot würde sich seine Nachfrage selber schaffen, sicherlich unhaltbar; was neue warenförmige Gebrauchswerte angeht, stimmt sie dagegen allemal.

 

5. Die Verknappung der Knappheit

Die Zwangsmetamorphose allen Reichtums in die Gestalt der Ware, und damit in die Form des Mangels, führt zu immer aberwitzigeren Resultaten. Die fortlaufende Entsozialisierung treibt die Menschen zusehends in den Wahnsinn. Die Umwelt und die sozialen Beziehungen ersticken unter einer Warenlawine, weil selbst dann, wenn das gesellschaftliche Gesamtkapital nur eine konstante Masse oder gar sinkende Menge abstrakter Arbeiter in seine Selbstzweckbewegung einspeisen kann, diese sich als exponentiell wachsender Produktenausstoß niederschlagen muß. In letzter Konsequenz untergräbt diese Entwicklung zwar die Reproduktionsfähigkeit von Gesellschaft überhaupt, das heißt allerdings nicht, daß der Heteronomisierungsdynamik, wo sie nur in ihrer ganzen Nacktheit zu Tage tritt, deswegen die Tendenz zu eigen wäre, sich selber zum Erliegen zu bringen. Die immanente Schranke, an der das Perpetuum mobile des relativen Mangels schließlich scheitern muß, ist auf einer anderen Ebene zu suchen. Das System des relativen Mangels gerät in die Bredouille, weil seine Substanz einem Auszehrungsprozeß unterliegt, d.h. die Knappheit setzende Tätigkeit, nämlich die (abstrakte) Arbeit, sukzessiv verschwindet.

Die Verallgemeinerung der Herrschaft der warengesellschaftlichen Form war, wie weiter oben bereits skizziert, ohne die Verwandlung der Arbeitskraft in ein »knappes Gut«, also ohne die Aufnahme der Basisware ins Universum der gleichermaßen gültigen Waren, nicht denkbar. Wie bei jeder anderen Ware, so steht und fällt aber auch die Stellung der Arbeitskraft ihrerseits wiederum mit dem Schicksal ihres spezifischen Gebrauchswertes. Ihr einziger Gebrauchswert liegt darin, dem Kapital als Quelle abstrakter, wertproduktiver Arbeit dienstbar zu sein, und so konnte die Arbeitskraft demnach nur in dem Maße zum »knappen Gut« neben anderen knappen Gütern aufsteigen, wie der kapitalistische Akkumulationsprozeß über Jahrzehnte auf breiter Front lebendige Arbeit zum Zweck der Wertproduktion einsaugte. Sobald dagegen der Heißhunger nach wertproduktiver Arbeit nicht nur vorübergehend nachläßt, sondern der Tendenz nach ganz dahinschwindet und der Akkumulationsprozeß massenhaft Arbeitskraft ausspeit, weil die abstrakte Arbeit ihre Rolle als die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums schlechthin ausgespielt hat, muß die Reise rückwärts laufen.

Daß ein bestimmte Ware zum gesellschaftlichen Anachronismus wird und ihren Gebrauchswert einbüßt, ist nichts neues. Dieses harte Schicksal ereilte und ereilt Güter immer wieder. Die Entwicklung von Kunstdünger hat das knappe Gut Guano in bloßen Vogelkot rückverwandelt, der Vormarsch der chemischen Industrie Naturkautschuk und Naturfarben aus dem Warenuniversum herauskatapultiert, und im Gefolge des durch Innovationsschübe beschleunigten moralischen Verschleißes blieb von hochwertigen Maschinen immer wieder nicht viel mehr als ihr Schrottwert. Wenn allerdings ausgerechnet der Basisware der Warengesellschaft dieses Los beschieden ist und sie überflüssig wird, so kann das anders als in diesen Fällen nicht folgenlos für das Gesamtsystem bleiben. Fällt die Arbeitskraft aus der Knappheitsordnung heraus, so fällt diese selber in sich zusammen.

Man erinnert sich: die Knappheit von Gütern entstammt nicht der Naturbeziehung, sondern der sozialen Relation. Konkret heißt das: Güter sind selber nur insofern knapp, als sie sich als soziale Chiffre auf abgeknapste Lebenszeit, auf abstrakte Arbeit zurückführen lassen. Die Entkoppelung vom Rückbezug auf Arbeit macht sie in einem doppelten Sinne allesamt überflüssig. Zum einen stellen sie einen neuartigen gesellschaftlichen Überfluß dar, sie stehen für Reichtum, der an der abgesparten Lebenszeit weder sein Maß noch seine Grenze hat; auf der anderen Seite sind sie aber gemessen am gesellschaftlichen Zweck, der eben in der Akkumulation knappen Reichtums besteht, selber überflüssig. Dieser durch das Systemdiktat aufgeherrschte zweite Gesichtspunkt verstellt die emanzipative Perspektive, die im ersten liegt. Solange die Knappheitslogik mit ihrem kategorischen Imperativ, daß jederman nur im Austausch knapper Güter des gesellschaftlichen Reichtums teilhaftig werden darf, in Kraft bleibt, kann das Brüchigwerden des Knappheitsdiktats niemals zur Befreiung vom Mangel führen. Stattdessen resultiert aus der Verknappung der Knappheit nur eins: der gesellschaftliche Reichtum wird selbst in der erbärmlichen Form der Ware für immer mehr Menschen unzugänglich. Mehr noch, die Zwangsreduktion von Reichtum auf den Reichtum an Mangelgütern mündet in die Außerkurssetzung des vorhandenen Reichtums. Die Verknappung der Knappheit tritt als universeller Mangel in Erscheinung.

Wenn Warensubjekte ohne absetzbare Ware und Geldsubjekte ohne primären Zugang zur Welt des Geldverdienens nicht mehr nur als seltene Ausnahmen auftreten, sondern massenhaft und schließlich zum Regelfall werden, dann bedeutet dies in gewisser Weise die Rückkehr vom relativen Mangel zum absoluten. Die soziale Katastrophe, in die die Knappheitsordnung zielsicher hineinsteuert, läßt sich dennoch nur sehr bedingt in den Elendsbildern des 19. Jahrhunderts fassen. Das ist indes kein Anlaß zur Beruhigung, im Gegenteil. Spätestens mit der radikalen Invididualisierung, wie sie sich seit dem 2. Weltkrieg vollzogen hat, hat diese Gesellschaft einen Expropriationsgrad erreicht, der sich mit dem vor 150 oder 200 Jahren gar nicht mehr vergleichen läßt. So nackt wie die zeitgenössische Geldmonade in den hochentwickelten Ländern war noch nie ein menschliches Wesen der Knappheitsmaschine ausgeliefert. Unter dem Regiment des relativen Mangels hat sich das Warensubjekt in seiner Abstumpfung daran gewöhnt, seine strukturelle Entmündigung mit Freiheit und Selbstbestimmung zu verwechseln. Mit der Krisenepoche wird sich dieses Mißverständnis für immer mehr Menschen auflösen. Sie führt in aller Schmerzhaftigkeit die allgemeine Abhängigkeit vor Augen, macht aus der Warengesellschaft, soweit sie weiterfunktioniert, eine minoritäre Angelegenheit und steuert in ihrem Selbstlauf auf Bedingungen zu, die das prä- und frühkapitalistische Elend in der Retrospektive fast schon wieder vergleichsweise idyllisch erscheinen lassen dürften. Freundlichere Zukunftaussichten kann nur eine soziale Bewegung eröffnen, die sich der durch die letzten zwei Jahrhunderte hindurch so selbstverständlich gewordenen Expropriationslogik nicht unterwirft, sondern mit ihr bricht, eine Bewegung, die sich aufmacht, die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums ohne Kotau vor dem Diktat der Knappheitsrelationen nach rein stofflichen Kriterien anzueignen.

Fussnoten

1) Davon begeistert, mit dem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen einen vermeintlich universellen Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Menschheit in Händen zu halten, hat sich der Marxismus über diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied nie Rechenschaft abgelegt. Das hat ihn dazu verführt, eine spezifische, allein die Warenproduktion charakterisierende Konstellation in die Vergangenheit zurückzuprojizieren und retrospektiv der »ökonomischen Basis« auch in solchen Gesellschaften das Primat zuzusprechen, die so etwas wie eine von anderen unterschiedene Sphäre namens Ökonomie gar nicht gekannt haben und in denen gesellschaftliche Synthese dementsprechend auf anderen, »außerökonomischen« Mechanismen beruhte.

2) Vergleiche in diesem Zusammenhang meinen schon etwas angegrauten, aus der Frühzeit der fundamentalen Wertkritik stammenden Aufsatz aus der »Marxistischen Kritik 3« »Technik als Fetischbegriff«.

3) MEGA, Zweite Abteilung, Band 6, S. 683

4)Karl Korsch, Karl Marx, Hamburg 1981, S. 174

5) Das entspricht übrigens auch dem eigentlichen Wortsinn. »Privatus«, das Partizip Perfekt des Verbs »privare« (rauben), bezeichnet im Lateinischen, substantiviert verwendet, »das Beraubte«. Der Privatier, der freie Bürger, dessen Dasein sich nur um die Erfordernis des Erwerbs dreht, führt dem antiken Verständnis nach eine beraubte, ihres wesentlichen Inhalts entkleidete, durch und durch erbärmliche Existenz. Das Altgriechische bringt das übrigens noch etwas härter auf den Punkt. Der Begriff des homo privatus hat in dieser Sprache seine Entsprechung im »Idioten«, ein Ausdruck, von dem bei der Übernahme in die modernen Sprachen leider nur mehr die pejorative Besetzung übrig geblieben ist. Vom Standpunkt der Kritik bietet sich die Rückkehr zum ursprünglichen Sprachgebrauch an. Eine ungesellschaftliche Gesellschaft, die sich ihrem Wesen nach in die allgemeine Konkurrenz privater Interessenstandpunkte auflöst, verdient in der Tat, als vollidiotisierte Gesellschaft bezeichnet zu werden.

6) Dieser Zusammenhang wird durch die Dazwischenkunft des Geldes als des universellen warengesellschaftlichen Mediums zwar affiziert, aber keineswegs in Frage gestellt. Daß warengesellschaftlicher Reichtum überhaupt nur in der Vermittlungsbegewegung mit einem gesonderten allgemeinen Wertausdruck existieren kann, impliziert lediglich, daß dieser Wertausdruck seinerseits stets »knapp« zu sein hat. Knappheit existiert demnach doppelt, nämlich als die Knappheit aller Waren und als die Knappheit des gesellschaftlichen Mediums. Solange Edelmetalle und Anspruchsscheine auf Edelmetall die Geldfunktion innehatten, schienen diese beiden Formen von Knappheit noch ineinander überzugehen. Als eine besondere, nur zur allgemeinen Ware aufgestiegene Ware lehnt sich auch die Knappheit des Goldgeldes an so etwas wie natürliche Begrenztheit an und bringt sie in eine spezifische gesellschaftliche Form. Das von seiner metallischen Substanz entkoppelte Geld, wie wir es seit dem 1. Weltkrieg kennen, kann zwar auch nur funktionieren, solange und soweit die Bestimmung Knappheit an ihm sichergestellt bleibt – Geld, das seiner Knappheit verlustig geht, büßt damit seinen Geldcharakter ein -, seine Knappheit hat sich aber von jeder natürlichen Begrenztheit abgelöst und erscheint unmittelbar als das, was Knappheit eigentlich immer ist, nämlich als gesellschaftlich-politisch generierte Zwangskonvention.

7) Die fetischistische Verkehrung ist bereits in der ökonomischen Terminologie angelegt. Im Begriff Knappheit erscheint das verknappende soziale Handeln nur mehr in seinem Resultat. Strenggenommen wäre statt vom Basisprinzip »Knappheit« von Verknappung zu sprechen.

8) Bezeichnenderweise stammt die meines Wissens einzige Analyse, die den ökonomischen Knappheitsbegriff nicht naiv aus der quasi natürlichen Begrenztheit der Güterproduktion herleitet, nicht aus der ökonomischen Binnendebatte, sondern von dem Soziologen Niklas Luhmann. In seinem systemtheoretischen Jargon bestimmt er »Knappheit« als »eine Form entfalteter Selbstreferenz«. Er stellt sich die nicht uninteressante Frage, »welche selbstreferentielle Operation Knappheit konstituiert«, und kommt ironischerweise zu einem vom Standpunkt der Kritik des warengesellschaftlichen Reichtumsbegriffs ganz und gar nicht befremdlichen Schluß: »Wir verstehen diese Operation als Zugriff auf eine Menge unter der Bedingung, daß der Zugriff die Möglichkeit weiterer Zugriffe beschränkt. Der Zugriff erzeugt mithin Knappheit, während zugleich Knappheit als Motiv für den Zugriff fungiert. Der Zugriff aktualisiert also ein selbstreferentielles Verhältnis. Er schafft seine eigenen Bedingungen. Er stellt sich seine Effekte als Motive vor[…]Knappheit ist demnach, wenn man nicht von der einzelnen Operation, sondern vom System ausgeht, in dem sie stattfindet, ein paradoxes Problem. Der Zugriff schafft das, was er beseitigen will. Er will sich eine zureichende Menge sichern und schafft dadurch die Knappheit, die es erst sinnvoll macht, sich eine zureichende Menge zu sichern«. (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, S. 178f.) Luhmann wäre indes nicht Luhmann, wenn diese Einsicht ihn dazu verführte, das »Subsystem Wirtschaft« und den warengesellschaftlichen Reichtumsbegriff zum Kritikgegenstand zu machen. Für ihn liegt es viel näher, die bemerkenswerte Fähigkeit des ausdifferenzierten Systems zu lobpreisen, durch »Bifurkation« »die Paradoxie, daß Knappheit durch Zugriff erzeugt und behoben, vermehrt und verringert wird«, für die Beteiligten verschwinden zu lassen.

9) Von daher ist es auch nur logisch, daß die säkularisierte und auf das Utopieniveau des Warensubjekts zurechtgestutzte Version vom Paradies, nämlich das Schlaraffenland, pejorativ besetzt ist. Es wird nicht als Ort universeller Bedürfnisbefriedigung und menschlicher Entwicklung gezeichnet, sondern von menschlicher Degeneration und Bedürfnisverarmung. Die Schlaraffen kennen keine anderen Wünsche und Regungen als Essen, Trinken und Schlafen.

10) Klaus Herdzina, Einführung in die Mikorökonomik, München 1989, S. 7

11)Adam Smith, Wealth of Nations, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, Gießen 1973, S. 16

12) Natürlich wird kein heutiger Ökonom derart unverblümt die Überlegenheit der weißen Rasse und die Überlegenheit der Warengesellschaft synonym nehmen wie Adam Smith vor mehr als 200 Jahren. Das liegt freilich wohl weniger daran, daß die Ökonomie mittlerweile tatsächlich über diesen Standpunkt hinausgekommen wäre. Vielmehr hat so etwas wie eine Sedimentierung stattgefunden. Anders als in ihrer Begründungsphase hat es die durch konsequente Mathematisierung völlig sinn- und begriffsentleerte Disziplin schlicht und einfach längst nicht mehr nötig, ihre Prämissen überhaupt noch auf so einer Ebene auszuweisen, in irgendeiner Weise die ökonomische Sichtweise am historischen oder ethnologischen Material geltend zu machen oder ihre Modellwelten mit der aktuellen Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Der Umschlag in Rassismus bleibt dem ökonomischen Universalismus dennoch ebenso inhärent wie jedem anderen. Wenn nicht alle Teile der Menschheit die wunderbaren Möglichkeiten zu nutzen verstehen, die die für alle gleichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten eröffnen, dann kann das sowohl auf der individuellen Ebene wie auf der von Großsubjekten eben nur als die Minderwertigkeit der Versager verstanden werden. Wenn Afrika zum »vergessenen Kontinent« geworden ist, dann hat das nichts mit den Zwangsgesetzen der Weltmarktlogik und viel mit den Afrikanern zu tun.

13) Karl Georg Zinn, Kanonen und Pest, Ursrpünge der Neuzeit im 14. und 15. Jarhundert. Opladen, 1989.

14) Dieser Ernährungswissenschaftler resümiert seine Untersuchungen folgendermaßen: »Man darf[..] im Bereich der Ernährung eine Stufenleiter aufstellen, die eindeutig abwärts führt: vom Fleischstandard des Spätmittelalters über den Getreidestandard der frühen Neuzeit zum Kartoffelstandard im Zeitalter des Pauperismus« (Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972, S. 65. Dieser empirische Befund wird weder durch die malthusianische Deutung hinfällig, die Abel ihm zu geben versucht, noch dadurch, daß dieser Autor das vorindustrielle Elend insofern apologetisch wendet, als es als Rechtfertigung für die Segnungen der Industrialisierung herhalten muß.

15) Als statistischer Indikator für Entwicklung des Lebensstandards kann die Arbeitszeit gelten, die Handwerker im Durchschnitt benötigen, um den den Gegenwert eines bestimmten Quantums an Grundnahrungsmitteln zu verdienen. Fernand Braudel führt für Frankreich folgenden Grobbefund an: bis in die 40er Jahre des 16. Jahrhunderts hinein mußten die schlechter bezahlten Handwerkergruppen stets weniger als 100 Arbeitsstunden für einen Doppelzentner Weizen leisten. In den folgenden Jahrhunderten wurde ein solches Wohlstandsniveau nie mehr erreicht. Während einiger Mißernten im 18. Jahrhundert hätten die städtischen Handarbeiter sogar schon viermal so lange ihrem Geschäft nachgehen müssen, um den Konsumstandard ihrer Ahnen zu erreichen. Erst 1883 hatten ihre Kindeskinder wieder das Glück, für 100 Stunden Knochenarbeit ebensoviel Weizen konsumieren zu können wie die städtische Unterschicht des frühen 16. Jahrhunderts. (Fernand Braudel, Der Alltag, München 1985, S. 136).

16) Diese Einschätzungen müssen sich im übrigen nicht unbedingt widersprechen. Zum einen hat sich diese Entwicklung natürlich nicht linear, sondern in Schüben vollzogen; zum anderen lassen sich zweifellos erhebliche regionale Differenzen ausmachen. Je früher ein Landstrich der ersten »Inwertsetzung« und der sich ausbreitenden territorialen Herrrschaft anheimfiel, desto früher setzt eben auch der Pauperisierungsprozeß ein.

17) Das würde auch begreiflich machen, warum der Smithsche Unfug bis zum heutigen Tag in jedem Wirtschaftslehrbuch weiterverbraten wird. Die übliche Ignoranz gegenüber den Resultaten anderer Disziplinen allein kann das ja wohl schwerlich erklären.

18) Marx fügt übrigens, sooft er von ursprünglicher Akkumulation schreibt, grundsätzlich diesem von Adam Smith übernommmenen Terminus (»previous accumulation«) das Attribut »sogenannt« bei.

19) MEGA, Abteilung 2, Band 6, S. 645.

20)MEGA, Abteilung 2, Band 5, S.576

21) Natürlich findet die Zeitlücke zwischen der Zerstörung der traditionellen Reproduktionsformen und der Absorption der freigesetzten Massen als arbeitende Armut in der Marxschen Darstellung ihre Berücksichtigung – allerdings nur als kontingentes Phänomen, als eine Art von Stau, der in einem historischen Exkurs eben nicht unterschlagen werden sollte. In der theoretischen Zuordnung hingegen werden die Expropriation und die Vernutzung der Expropriierten als Rohmaterial der Verwertung unmittelbar kurzgeschlossen. Auf diese Weise schleicht sich selbst dort, wo explizit von diesem Problem die Rede ist, ein fast schon funktionalistischer Zungenschlag in die Marxschen Ausführungen ein.

22) Jeder Meister repräsentierte die Zunft und nicht die betriebswirtschaftliche Rationalität seiner Klitsche. Wäre er auf die absurde Idee gekommen, dies zu vergessen, so wäre er unweigerlich für ein solch asoziales Verhalten von seinen Zunftgenossen abgestraft worden.

23) Selten war zunächst einmal natürlich das Geld selber, das auf den Märkten zirkulierte. Mit Gold und Silber, die als allgemeine Ware und eigentliches Geld dienten, kam das Gros der Bevölkerung de facto kaum in Kontakt. Selten – und nicht knapp -war aber auch das, was mit Geld gemeinhin erworben wurde. Beim großen Handel ging es fast durchgängig um Pretiosen, die aus fernen Ländern stammten (Gewürze in Europa); aber auch wo die ländliche Bevölkerung ausnahmsweise als Tauschsubjekt auftrat (Jahrmärkte), richtete sich ihr Interesse vornehmlich auf Dinge wie Metallwerkzeuge oder Salz, die schon aufgrund der natürlichen Gegebenheiten (Hüttenwesen setzt Metallvorkommen voraus, Salzgewinnung ist an natürliche Lagerstätten gebunden) aus der Ferne herangeführt werden mußten.

24) Das impliziert von vornherein, daß diese Zwecke außerhalb der alltäglichen Reproduktion angesiedelt waren.

25) Vgl. Geoffrey Parker, Die militärische Revolution die Kriegskunst und der der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt, New York 1990

26) Rudlof zur Lippe, Vom Leib zum Körper, Hamburg, 1990, S.35 ff.

27) Wolfram Weimer, Geschichte des Geldes, Frankfurt 1994, S.85

28)E.T.A. Hoffmann, Hoffmanns Werke in drei Bänden, Erster Band, Berlin und Weimar 1990, S.156.

29) Nur als knappes Gut kann sie in Austauschrelation zu anderen knappen Gütern treten.

30) Die klassische Ökonomie trägt dem durchaus Rechnung. Ihr Lobpreis der Arbeit bleibt stets protestantisch, d.h. dem Verzichtsethos verpflichtet. In der Arbeit erhebt sich der Mensch für sie deshalb über die Natur, weil er lernt Bedürfniserfüllung aufzuschieben. Die Arbeitswertlehre löst dementsprechend den gesamten gesellschaftlichen Reichtum in aufgesparte Zeit auf.

31) Das gilt vermittelt auch für die in der Produktion von Produktionsmitteln verausgabte Arbeit. Sie wird nur soweit realisiert, wie die Produktionsmittel schließlich in die Produktion von Konsumtionsmitteln eingehen und wie ihr Wert in diesen wiedererscheint.

32)Daß die Arbeiterklasse den Abschied vom absoluten Mangel gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Kapitalseite erkämpfen mußte, ändert am inhärenten Charakter dieses Übergangs nichts.

33) Schließlich ist das Geld das Immateriellste auf dieser Welt überhaupt. Außerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses, das Geld zu Geld macht, bleiben von ihm nur sinnlose bedruckte Papierschnitzel und seltsame runde Metallstücke übrig und bei den modernen Geldformen nicht einmal das.