11.07.2021 

Vorwärts in die Regression. Zur Kritik des linken Nationalismus á la Wagenknecht

von Norbert Trenkle

Anmerkung: Dieser Text wurde im Jahr 2017 publiziert (in: Merlin Wolf (Hg): Irrwege der Kapitalismuskritik, Aschaffenburg, Alibri , unter dem Titel: Aus der Krise in die Regression Nationalismus und Populismus von links.) und für eine spanische Übersetzung im Juli 2021 überarbeitet. Inzwischen hat Wagenknecht ein neues Buch veröffentlicht (Wagenknecht 2021), in dem sie ihre Positionen von 2016 noch weiter zuspitzt; so vertritt sie beispielsweise ein klassisch rechtes Argument und gibt den Zuwanderer die Schuld an den prekären Arbeitsbedingungen in Deutschland. Zur Kritik an diesem neuen Buch, auf das hier nicht eingegangen wird, siehe den Text von Julian Bierwirth: Lob der Normalität

1.

Die landläufige Kritik am Kapitalismus gibt der Spekulation an den Finanzmärkten die Schuld für die ökonomischen Krisen der letzten Jahrzehnte und vor allem für die große Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und ihren katastrophalen sozialen Folgen. Diese Auffassung ist jedoch grundverkehrt. Sie verkennt nicht nur die wirklichen Ursachen der Krise, sondern ist darüber hinaus in ihren politischen Konsequenzen gefährlich. Dahinter steht nämlich die Vorstellung, eine an sich gut funktionierende Wirtschaftsweise sei durch das rücksichtslose Handeln einer kleinen globalen Finanzoligarchie zerstört worden. Somit sei die Welt wieder in Ordnung, wenn diese Clique endlich in die Schranken gewiesen werde – gerne auch von einem „starken Mann“, der hart durchgreife.

Diese Sorte von „Kapitalismuskritik“ findet sich quer durch das gesamte politische Spektrum von ganz rechts bis ganz links, und auch die politischen Konsequenzen die daraus gezogen werden, sind im Grundsatz sehr ähnlich. Die Kritiker:innen phantasieren von der Rückkehr in eine Gesellschaft, die auf „guter Arbeit“ und realer Güterproduktion beruhen soll, in der die Macht der Banken ausgeschaltet ist und das Geld wieder zum „Diener der Realwirtschaft“ wird. Damit verbunden ist immer zugleich die Anrufung „des Volkes“, das als Kollektiv der Betrogenen und Ausgebeuteten imaginiert wird. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Spielarten dieses Populismus ergeben sich vor allem daraus, wie die imaginierte Gemeinschaft des Volkes ausgelegt, wer als dazugehörig oder nicht-dazugehörig definiert und auf welche Weise sie angerufen wird. Direkt nach dem Crash von 2008 erlangten zunächst verschiedene Varianten des linken Populismus eine gewisse Hegemonie im öffentlichen Diskurs. Am plakativsten war sicherlich die Parole von den 99 Prozent, mit der die Occupy-Bewegung eine virtuelle Frontstellung zwischen der großen Masse der Weltbevölkerung und einer kleinen Gruppe von globalen Machteliten konstruierte.

Freilich kann man Occupy zugute halten, dass dieser Volksbegriff so offen und heterogen gehalten war, dass er sich selbst eigentlich dementierte. Im Grunde taugte er bloß als phantastisches Größenselbst für eine kleine Minderheit metropolitaner Aktivisten, die damit auf verkehrte Weise ihre Kritik an den herrschenden Zuständen mit einem transnationalen Anspruch zu verbinden suchte. Doch da die Occupy-Bewegung über das medienwirksame Schlagwort der 99 Prozent hinaus weder politisch weiterreichende Perspektiven noch theoretisch fundierte Analysen anzubieten hatte, war ihr schnelles Dahinscheiden vorgezeichnet. Und weil sie nicht mit dem positiven Bezug auf „das Volk“ brach und ihre „Kapitalismuskritik“ nie auch nur einen Millimeter über die übliche Personalisierung in Gestalt der Banker und Spekulanten hinausreichte, hatte sie auch den rechten Populisten – die seitdem zunehmend das Feld besetzen – nichts Substantielles entgegenzusetzen. Deren Erfolgsrezept besteht zu einem wesentlichen Teil darin, dass sich ihr Volksbegriff ganz klassisch über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation definiert und daher auch ganz explizit mit rassistischem Ausschluss verbunden ist. Das kommt an, weil die Nation den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft ebenso als zweite Natur erscheint wie die Tatsache, dass sie sich über Ware, Geld und Arbeit miteinander in Beziehung setzen, und die Identifikation mit einem Nationalvolk gerade in Krisenzeiten Sicherheit verspricht.

Umso schlimmer ist es, dass ein Teil der traditionellen Linken, nun ebenfalls den Nationalismus wieder für sich entdeckt hat und versucht, den Rechtspopulismus auf seinem ureigensten Feld zu schlagen. Das ist nicht nur taktisches Kalkül, sondern verweist erstens auf ein verkürzter Verständnis von Kapitalismuskritik in weiten Teilen des traditionellen Marxismus; zweitens war auch der Bezug auf „das Volk‟ in der Linken immer schon insofern problematisch, weil dieses unzulässig als „gut‟ verklärt wurde (ein Gedanke, der bekanntlich auf Rousseau zurückgeht). Daraus ergeben sich einige grundlegende Gemeinsamkeiten mit der nationalistischen und populistischen Rechten, die aber gerne ausgeblendet werden.

In diesem Text soll es darum gehen, diese Gemeinsamkeiten nachzuzeichnen und ihre theoretischen Denkvoraussetzungen zu erhellen. Ich werde das am Beispiel von Sarah Wagenknecht tun, einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der Partei Die Linke in Deutschland. Wagenknecht vertritt schon seit einigen Jahren einen offen links-nationalistischen Kurs, mit dem sie sich bisher glücklicherweise nicht in der ganzen Partei durchsetzen konnte. Dennoch steht sie exemplarisch für eine starke Tendenz in der traditionellen Linken, die ihre Entsprechung in vielen anderen europäischen Ländern findet (Jeremy Corbyn, Jean-Luc Mélenchon etc.).

Im Folgenden werde ich zunächst anhand des Buches Reichtum ohne Gier (2016) die ideologischen Grundmuster von Wagenknechts nachzeichnen. Anschließend versuche ich zu erklären, wieso diese Position, die mit radikaler Kapitalismuskritik und mit gesellschaftlicher Emanzipation nicht mehr viel zu tun hat, dennoch so viel Zuspruch im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs findet.

2.

Zu den Kernelementen des linken Nationalismus gehört die Erzählung von einer Verschwörung transnationaler Eliten gegen die Demokratie und den Sozialstaat, aus der wiederum die Rechtfertigung für die Verteidigung des Nationalstaats abgeleitet wird. So auch bei Sarah Wagenknecht:

Demokratie und Sozialstaat wurden aus gutem Grund im Rahmen einzelner Nationalstaaten erkämpft, und sie verschwinden mit dem Machtverlust ihrer Parlamente und Regierungen. Es ist kein Zufall, dass die Brüsseler Institutionen zu jenem unrühmlichen, undurchsichtigen und mehr als jede Staatsregierung von Konzernlobbyisten gesteuerten Technokratensumpf verkommen sind, zu dem die große Mehrheit der Europäer jedes Vertrauen verloren hat. […] Es existiert daher auf absehbare Zeit vor allem eine Instanz, in der echte Demokratie leben kann […]: Das ist der historisch entstandene Staat“ (Wagenknecht 2016a, S. 23f.).

Wagenknecht legitimiert also ihr Projekt zur nationalistischen Aufspaltung Europas mit einer Anrufung der Demokratie, die gegen die neoliberalen Strategen in der EU gerettet werden müsse.1 Diese gefährliche Nostalgie des Nationalstaats geht einher mit einer Verklärung der „Marktwirtschaft“, die sie von den Fesseln des „Kapitalismus“ befreien will. Die Marktwirtschaft ist ihrem Verständnis nach eine sehr vernünftige Gesellschaftsordnung, in der die Menschen Waren für den allgemeinen Austausch untereinander produzieren; es herrscht fairer Wettbewerb, alle werden an ihrer Leistung gemessen und auf diese Weise kommt angeblich das Beste für die Gesellschaft heraus. Jedoch werde diese Ordnung vom „Kapitalismus“ bedroht, der nämlich geprägt sei von rücksichtslosem Gewinnstreben und der blanken Geldgier einer kleinen transnationalen Elite. Ihr sei es, so Wagenknecht, in den letzten Jahrzehnten gelungen der großen Mehrheit der Weltbevölkerung die „kapitalistische Ordnung“ aufzudrücken und zusammen mit der Demokratie auch die funktionierende „Marktwirtschaft“ zu zerstören. Wer diese retten wolle, müsse daher den Nationalstaat wieder herstellen bzw. wieder stärken, denn nur er sei in der Lage, diese kleine Gruppe von Mächtigen in ihre Schranken zu weisen und dem „ehrlich arbeitenden‟ Volk wieder zu seinem Recht zu verhelfen:

Im linken wie auch im konservativen Diskurs wird Kapitalismus gern mit Marktwirtschaft gleichgesetzt. Das ist grundfalsch. Das Wesen des Kapitalismus ist nicht, dass sich der Austausch über Märkte vermittelt, sondern dass Unternehmen bloße Anlageobjekte sind, dazu da, Kapital zu verwerten und Rendite zu erwirtschaften. Funktionierende Märkte und echter Wettbewerb stören bei der Renditemaximierung eher, und deshalb geht der Trend in Richtung zunehmender Marktbeherrschung durch wenige große Unternehmen. Zugespitzt könnte man sagen: Wir müssen nicht nur die Demokratie, sondern im Grunde auch die Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten.“

Aus der Perspektive einer an Marx orientierten Kritik der Politischen Ökonomie mutet diese Gegenüberstellung äußerst seltsam an. Denn Markt und Kapital sind ja kein Gegensatz, sondern hängen notwendig zusammen. Das Kapital folgt dem Selbstzweck der Verwertung des Werts (also der Akkumulation von Kapital) und dafür muss es Waren produzieren und diese auf den Markt werfen, um den in ihnen dargestellten Wert zu realisieren. Aber Wagenknecht geht über solche Grundeinsichten der Marxschen Theorie (auf die sie sich dennoch gelegentlich bezieht) hinweg und macht aus dem Zusammenhang von Markt und Kapital zwei gegensätzliche Pole, die mit Gut und Böse identifiziert werden. Gleichzeitig personifiziert sie die versachlichten Zwänge der Kapitalverwertung und führt sie auf die Existenz einer bestimmten Personengruppe zurück: die Kapitalisten. Diesen stellt sie dann als Kontrast die Figur des Unternehmers gegenüber, der anscheinend den kapitalistischen Zwängen nicht unterliegt und den Wagenknecht überaus positiv beschreibt:

Für einen Kapitalisten ist ein Unternehmen nur ein Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung und der Erzielung von Rendite. Wie der alte Adel von den Frondiensten seiner Hintersassen lebt der Kapitalist von den Erträgen seines Vermögens, das er in vielen Fällen schlicht geerbt hat. Ein Unternehmer ist jemand, der ein Unternehmen aufbaut und führt, mit eigenen Ideen, Power und Kreativität. Jede vernünftige Wirtschaft braucht gute Unternehmer, aber sie braucht keine Kapitalisten“ (Wagenknecht 2016c).

Diese Konstruktion falscher Gegensatzpaare von Markt und Kapital bzw. Unternehmer und Kapitalist, ist aber nicht einfach nur eine theoretische Fehlleistung. Es muss leider gesagt werden, dass sie zugleich eine bedenkliche ideologische Verwandtschaft mit der klassischen Entgegensetzung von „raffendem“ und „schaffendem Kapital“ aufweist, die zu den Grundmustern des Antisemitismus gehört. Wie Moishe Postone in seinem klassischen Aufsatz zur Logik des Antisemitismus gezeigt hat (Postone 2001), ist die antisemitische Ideologie deshalb so wirkmächtig, weil sie eine bestimmte, regressive und konformistische Form des „Antikapitalismus‟ darstellt. Darin werden „die Juden‟ mit allen als negativ und bedrohlich empfundenen Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft, insbesondere mit ihrer abstrakten Seite, identifiziert; das betrifft neben der abstrakten Arbeit, dem Tauschwert, dem Geld und dem rationalen Denken vor allem auch das Finanzkapital. Dagegen wird die konkrete Seite des kapitalistischen Verhältnisses, vor allem in Gestalt der konkreten Arbeit und der Gebrauchswertproduktion, naturalisiert und damit für überhistorisch gültig und „organisch‟ erklärt. Daraus ergibt sich der falsche Gegensatz zwischen „schaffendem‟ und „raffendem Kapital‟. Das erstere ist positiv besetzt und wird als quasi-natürliche Einheit von Arbeitenden und tatkräftigen Unternehmen imaginiert, die gemeinsam nützliche Dinge für die Gesellschaft produzieren; das zweitere hingegen wird mit dem „jüdischen“ Geld- und Finanzkapital identifiziert und ist nichts weiter als ein Parasit, der davon lebe, die produktiv Schaffenden auszubeuten.

Nichts anderes sagt aber Sarah Wagenknecht, wenn sie den „Unternehmer‟ in den Himmel lobt und den „Kapitalisten‟ für überflüssig erklärt. Zwar ist sie sicherlich keine Antisemitin, aber dennoch reproduziert sie der Sache nach genau jenes ideologische Grundmuster, das zum Kernbestand des Antisemitismus gehört. Sie reißt die verschiedenen Momente des in sich widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnis auseinander und erklärt sie zu äußerlichen Gegensätzen von Gut und Böse. Damit gelingt das paradoxe Kunststück, die auf allgemeiner Warenproduktion beruhende Gesellschaft zugleich scheinbar zu kritisieren, um sie im selben Atemzug vehement zu affirmieren. Denn die Zwänge, Bedrohungen und Gefahren, die der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise innewohnen, können so aus ihr heraus definiert und einer „raffgierigen‟ Personengruppe in die Schuhe geschoben werden.

Diese dichotomische Aufspaltung findet Anklang bei vielen Menschen, die sich einerseits kein Leben jenseits der kapitalistischen Gesellschaft mehr vorstellen können, andererseits aber täglich die Erfahrung machen, einer verselbstständigten Dynamik ausgeliefert zu sein, auf die sie keinen Einfluss haben. Es ist zweifellos ein schwer zu ertragender Zustand, sich permanent mit anonymen Zwängen konfrontiert zu sehen, für die in letzter Instanz eigentlich niemand verantwortlich ist. In der Zuschreibung dieser Zwänge an eine Personengruppe, die hinter den Kulissen die Fäden zieht, kann dieses Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht gebannt werden. Ideologisch werden so die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Denn nicht etwa wird die Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen und die daraus resultierende grundsätzliche Entmündigung der Menschen in der warenproduzierenden Gesellschaft kritisiert; vielmehr wird genau dies geleugnet und zum bloßen Schein erklärt, hinter dem sich absichtsvolle, geplante Strategien und Herrschaftstechniken einer mächtigen Clique oder Elite verbergen. Genau aus diesem Grund sind Verschwörungsideologien so beliebt und wuchern gerade in Krisenzeiten wie den heutigen völlig unkontrolliert. Sie erlauben es auf regressive Art die Illusion von Handlungsfähigkeit wiederherzustellen, indem Frustration und Wut über die eigene Ohnmacht durch Hass und Aggression gegen die solcherart identifizierten Schuldigen abgeleitet werden – im Extremfall bis hin zur physischen Vernichtung.

Was Wagenknecht an die Wand malt, ist eine kapitalistische Gesellschaft, in der es alles gibt, was diese Gesellschaft in ihrem Wesenskern ausmacht: die Menschen stellen ihre gesellschaftlichen Beziehungen über Warenproduktion und Arbeit her,sie verkaufen ihre Arbeitskraft an die Unternehmen und es gilt das allgemeine Konkurrenz- und Leistungsprinzip. Solches gilt Wagenknecht als vernünftige und quasi-natürliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die im Prinzip allen Menschen zugute kommt. Selbst das Geld ist ihrer Ansicht nach eine sinnvolles Instrument, das aber leider von den global agierenden Banken, die Wagenknecht gerne als Zockerbuden bezeichnet, missbraucht werde, um endlose Gewinne anzuhäufen. Deshalb schlägt sie eine Reform des Bankenwesens vor, die sich an bereits bekannten Aufspaltung in Gut und Böse orientiert:

Geld ist ein öffentliches Gut. Deshalb gehört die Geldversorgung der Wirtschaft nicht in die Hände unverantwortlicher Zockerbuden, sondern von Instituten, die ich Gemeinwohlbanken nenne und die mit Gemeinwohlauftrag arbeiten und sich als Diener der Realwirtschaft verstehen“ (Wagenknecht 2016c).

Nun findet sich die Vorstellung, dass Geld nur ein Mittel sei, um den allseitigen Austausch zu ermöglichen, in fast jedem ökonomischen Lehrbuch. Dort wird regelmäßig behauptet, der Zweck der Produktion in der Marktwirtschaft sei die Versorgung der Gesellschaft mit nützlichen Gütern und der Austausch auf dem Markt diene bloß der „effizienten‟ Allokation der Ressourcen. Warenproduktion und Geld sind demnach neutrale Instrumente, um eine komplexe, arbeitsteilige Gesellschaft zu koordinieren. So gesehen verbreitet Wagenknecht also nichts anderes als die übliche Ideologie, die verleugnet, dass die kapitalistische Produktion immer nur vom Selbstzweck zur Vermehrung des Geldes angetrieben wird und die Waren bloßes Mittel dafür sind. Doch es gibt einen Unterschied. In den gängigen Wirtschaftswissenschaften werden mit dieser Ideologie zwar die herrschenden Zustände legitimiert, für die praktischen Untersuchungen und Empfehlungen spielt sie jedoch keine Rolle; hier steht selbstverständlich immer die Frage im Mittelpunkt, wie das Kapital rentabel angelegt und vermehrt werden kann. Wagenknecht hingegen nimmt die Ideologie beim Wort und will sie in die Wirklichkeit umsetzen.

Praktisch kann sie damit nur scheitern, politisch-ideologisch aber findet sie aber viel Anklang. Denn die Phrase, das Geld solle „wieder“ auf eine „dienende Funktion“ zurückgeführt werden ist zum Allgemeinplatz in der medialen Diskussion geworden und gilt als konsequente Form der Kapitalismuskritik. Bei Wagenknecht verbindet sich dies mit der Vorstellung eines starken Staates, der die Banken kontrolliert und sie auf das „Gemeinwohl“ verpflichtet; in anderen Kontexten geistert die Idee eines zinslosen Geldes oder von Regionalgeldern durch die Debatte (Paech 2012, S. 117f.; Kennedy 2011) oder es wird von einer Gemeinwohl-Ökonomie phantasiert, wie bei Christian Felber.2 Bei allen Differenzen im Einzelnen ist das gemeinsame Grundmuster doch immer sehr ähnlich: stets wird eine idealisierte Vorstellung einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft gegen ihre angebliche Pervertierung in der Wirklichkeit ins Feld geführt. Insofern bewegt sich Wagenknecht also durchaus in einem Diskursfeld, das ihr einen ziemlich breiten Zuspruch garantiert. Woraus aber resultiert dieser breite Grundkonsens, auf den sie sich stützen kann? Im Folgenden soll versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu skizzieren.

3.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die meisten heutigen Menschen sich Gesellschaft nur als marktwirtschaftlich organisierte vorstellen können – sei es in ihrer gegebenen Form, sei es als idealisierte Vorstellung – hat ihren Grund sicherlich zunächst einmal darin, dass die kapitalistische Produktions- und Lebensweise sich universell durchgesetzt hat und so sehr zur „zweiten Natur“ geworden ist, dass es schwer fällt, eine Gesellschaft zu denken, in der die Menschen nicht über Ware und Geld miteinander verkehren. Denn auch wenn die allermeisten Menschen nur über eine Ware verfügen, die sie verkaufen können, um davon zu leben (nämlich ihre Arbeitskraft) sind auch sie selbstverständlich Warenbesitzer. Als solche aber verfolgen sie ihre partikularen Zwecke, die zunächst einmal darin bestehen, die eigene Ware möglichst teuer zu verkaufen und in der Konkurrenz mit anderen Arbeitskraftverkäufern zu obsiegen. Es ist genau dieser Standpunkt des Arbeitskraftverkäufers, der die verkehrte Wahrnehmung des kapitalistischen Gesellschaftszusammenhangs befördert, dass die allgemeine Warenproduktion „natürlich“ sei und das Geld nur der „Diener“ dieser gesellschaftlichen Verkehrsform.

Die zentrale Stellung des Geldes im modernen warenproduzierenden System ist darin begründet, dass es ist nicht ein Mittel sondern den Zweck der Produktion darstellt. Genauer gesagt, der Zweck der Produktion ist die Vermehrung des Werts (dargestellt im Geld), also die Akkumulation von Kapital. Vom Standpunkt eines Unternehmens ist das eigentlich sonnenklar. Denn dieses produziert Waren ja nicht als Tauschgüter um dafür andere Produkte zu erhalten, sondern immer nur als notwendiges Durchgangsstadium für die Vermehrung einer bestimmten Summe von Kapital. Die Ware ist also das Mittel zur Erreichung eines vorausgesetzten Zwecks: Aus Geld muss mehr Geld werden, sonst macht die Produktion aus dieser Sicht keinen Sinn. Und das gilt selbstverständlich für jedes Unternehmen und nicht bloß für die Akteure in der Finanzsphäre und global operierende Konzerne, für die Wagenknecht den Begriff der „Kapitalisten“ reservieren will. Welcher ihrer famosen Unternehmer in jener wundersamen Welt der Marktwirtschaft würde denn freiwillig Millionen von Euro in eine Fabrik investieren, wenn er am Ende keinen Gewinn daraus zöge – oder das zumindest erwarten kann? Profitmacherei ist der Motor der kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn diese in „Marktwirtschaft“ unbenannt und der Profit ideologisch zum „Unternehmerlohn“ geadelt wird, wie in der ideologischen Sprache der Wirtschaftswissenschaft üblich.

Die Arbeitskraftverkäufer sind ihrerseits diesem Prozess bedingungslos unterworfen und halten ihn durch ihre Arbeit in Gang, jedoch stellt sich die Gesamtbewegung, von ihrem partikularen Standpunkt aus betrachtet, etwas anders dar. Für sie ist ihre Ware nur ein Tauschding, das sie auf den Markt werfen, um im Gegenzug andere Waren dafür zu erwerben; insofern ist es zwar auch bloß das Mittel zu einem äußeren Zweck, doch besteht dieser Zweck nicht in der Vermehrung einer bestimmten Geldsumme, sondern in der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts. Das Geld ist aus dieser Sicht bloß zwischen Verkaufs- und Kaufakt zwischengeschaltet und daher scheint die Bewegung, die hier vollzogen wird auf den ersten Blick dem zu entsprechen, was Marx als einfachen Warentausch beschreibt: als der Tausch einer Ware gegen Geld und des Geldes gegen eine andere Ware (W – G – W). Und doch gibt es hier einen bedeutenden Unterschied. Denn auch wenn der einzelne Arbeitskraftverkäufer seine Ware nur einsetzt, um sie (über den Umweg des Geldes) gegen Konsumtionsmittel zu tauschen, so ist dieser Tauschakt doch zugleich integraler Bestandteil jener Gesamtbewegung der Kapitalverwertung, deren Ausgangs- und Endpunkt immer schon der Wert in seiner erscheinenden Gestalt des Geldes ist.

Wird dieser Zusammenhang ausgeblendet und stattdessen der partikulare Standpunkt für das Ganze genommen, kann es in der Tat so aussehen, als sei es ganz „natürlich“, dass jeder Mensch vom Verkauf seiner Arbeitskraft oder seiner Arbeitsprodukte leben muss und eine arbeitsteilige Gesellschaft gar nicht anders als im Modus der Warenproduktion funktionieren kann. Demgegenüber erscheint dann der sich selbst verwertende Wert, also das Kapital, nicht als Wesenskern und dynamisches Zentrum dieser Gesellschaft oder als deren „automatisches Subjekt“ (Marx, MEW 23, S. 189), sondern als bloß äußerliche Macht, die durch ihre partikularen Interessen, die „natürliche“ Wirtschaftsordnung durcheinander bringt oder gar zerstört. Wir haben es hier mit einer klassischen Form warenfetischistischen Bewusstseins zu tun. Die Menschen nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen auf den Kopf gestellt wahr, weil sie deren verkehrte Erscheinungsformen für die Wirklichkeit halten.

Das heißt nun freilich nicht, dass das Bewusstsein der kapitalistisch formatierten Menschen im strengen Sinne determiniert wäre. Aber dennoch sind die verkehrten Formen, in denen sich die kapitalistische Gesellschaft an der Oberfläche darstellt, äußerst wirkmächtig, denn sie erscheinen als vollkommen evident und selbstverständlich – weshalb sich der Alltagsverstand auch massiv dagegen sträubt, sie zu hinterfragen. Aus diesem Grund hat radikale Gesellschaftskritik immer einen sehr viel schwereren Stand als populistische Stimmungsmache á la Wagenknecht, die im Kern darin besteht, die Menschen in dem falschen Schein zu bestätigen, der sich ohnehin aufdrängt, statt diesen durchschaubar zu machen. Dass der Populismus im Gewand polemischer Kritik an den herrschenden Verhältnissen auftritt, ist dabei kein Widerspruch, sondern gehört zu seinem Wesen. Doch was sich da als Kritik aufspielt, ist das genaue Gegenteil von Kritik: der Populismus ist erfolgreich, weil er das klassische Muster einer konformistischen Rebellion bedient und die herrschenden Verhältnisse im Modus ihrer scheinbaren Überwindung affirmiert.

4.

Aus dem fetischistisch verkehrten Schein der gesellschaftlichen Verhältnisse erklärt sich auch der weit verbreitete, besonders ausgeprägte Affekt gegen das an den Finanzmärkten akkumulierende Kapital und seine Akteure, die Banken und Finanzinvestoren. Denn hier stellt sich die Selbstbezüglichkeit der Bewegung des Kapitals in ihrer reinsten Form dar. Wird Kapital in der sogenannten Realwirtschaft, also in der Sphäre der Güterproduktion verauslagt, muss es, um den Selbstzweck der Geldvermehrung zu erfüllen, immer den Umweg über die Güterproduktion nehmen. Der Kreislauf der Akkumulation ist erst abgeschlossen, wenn das Kapital die produzierten Waren verkauft und den in ihnen dargestellten Mehrwert realisiert hat. Die Bewegung des Kapitals folgt also dem Schema G – W – G’ (Geld – Ware – mehr Geld), wobei der zusätzliche Wert durch die Verausgabung von Arbeitskraft in der Produktion entsteht. An den Finanzmärkten hingegen entfällt dieser Zwischenschritt. Hier bezieht sich das Geld unmittelbar auf sich selbst und vollzieht die Bewegung G – G’ und es entsteht so der Schein, als könnte es direkt aus sich selbst heraus zusätzlichen Wert schöpfen. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom „fiktiven Kapital“. Doch das sollte nicht zu der Annahme verleiten, dieses Kapital sei irgendwie „unwirklich“. Es ist genauso real wie jedes andere Kapital auch, nur dass es im Unterschied zum „fungierenden Kapital“ (Marx) in der Güterproduktion keinen Wert akkumuliert, der bereits in der Vergangenheit durch die Verausgabung von Arbeitskraft entstanden ist, sondern stattdessen auf zukünftigen, erst noch zu produzierenden Wert vorgreift.3

Dieser Vorgriff auf zukünftigen Wert war immer schon notwendiges Moment im Gesamtkreislauf der kapitalistischen Produktion. Allerdings hat er seit dem Ende des fordistischen Akkumulationsschubs und dem Beginn der Dritten industriellen Revolution in den 1970er und 80er Jahren einen ganz neuen Stellenwert gewonnen. Weil seitdem massenhaft Arbeitskraft aus der Produktion verdrängt wurde, schrumpfte die Grundlage für die Kapitalverwertung und das Kapital wich zunehmend an die Finanzmärkte aus. Dadurch wurde das fiktive Kapital zum treibenden Motor der weltweiten Kapitalakkumulation, der die Weltwirtschaft in Gang hält, ihr aber auch ein immer höheres Tempo aufzwingt und die globalisierte Konkurrenz enorm verschärft hat; zugleich ein ist ein wachsendes Krisenpotential anhäuft worden, das sich immer wieder entladen muss, wie im großen Finanzcrash von 2008. Das verstärkt nicht nur der Schein, dass das Finanzkapital die Quelle kapitalistischen Übels sei, zugleich nährt diese Entwicklung eine tiefe Verunsicherung quer durch die gesamte Gesellschaft, die einen fruchtbaren Boden für die populistische Agitation abgibt.

Unter diesen Umständen bedient das Versprechen einer Wiederherstellung der „sozialen Marktwirtschaft“ im nationalen Rahmen ganz offensichtlich den verbreiteten Wunsch nach Sicherheit und nach einer Politik, die wieder handlungsfähig sein soll. Dass dieses Versprechen nicht einmal ansatzweise einlösbar ist, weil es keinerlei Fundament in der Wirklichkeit hat, spielt dabei zunächst keine Rolle, denn der Wille daran zu glauben ist stark. In Zeiten der Krise sind Illusionen gefragt. Und so wie in den 1920er und 30er Jahren die vorkapitalistischen Zustände rückwirkend romantisiert wurden und als Hintergrundfolie für die nazistische Ideologie der „Volksgemeinschaft‟ dienten, gerät heute das sogenannte goldene Zeitalter des Kapitalismus, also die unmittelbare Nachkriegszeit zum idealisierten Fluchtpunkt von regressiven Politikansätzen.

Doch die strukturellen Voraussetzungen für diese auf industrieller Massenarbeit beruhende fordistische Epoche des Kapitalismus, in der die Produktion noch wesentlich im nationalstaatlichen Rahmen organisiert war, sind endgültig zerstört; kein politischer Willensakt kann sie wiederherstellen. Denn die in den 1970er Jahren einsetzende Dritte industrielle Revolution hat nicht nur massenhaft Arbeitskraft aus den produktiven Kernsektoren der Warenproduktion verdrängt und damit eine fundamentale Krise der Kapitalverwertung in Gang gesetzt, sondern zugleich auch die Globalisierung vorangetrieben und so den Nationalstaat als Bezugsrahmen des Kapitals gesprengt. Das gilt zum einen für die Produktionsstrukturen und die Absatzmärkte der Waren, die auf dem gegebenen Niveau der Produktivkraftentwicklung nur noch transnational organisiert werden können. Zum anderen lässt sich aber auch „Finanzialisierung“ des Kapitals nicht mehr zurückdrehen; denn sie stellt ja bereits eine Reaktion auf die durchgreifende Automatisierung der Warenproduktion dar, die einer Verwertung von Kapital durch Vernutzung von Arbeitskraft immer engere Grenzen setzt. Da aber Kapital sich permanent vermehren muss, wenn es nicht der Entwertung anheimfallen will, wich es an die globalen Finanzmärkte aus, wo es in Gestalt des fiktiven Kapitals seine Selbstzweckbewegung der Geldvermehrung zunächst einmal munter fortsetzen konnte (Lohoff/ Trenkle 2012, S. 209 ff).

Fiktives Kapital stellt, wie bereits gesagt, nichts anderes dar, als Vorgriff auf zukünftig zu produzierenden Wert, der durch Eigentumstitel wie Aktien, Anleihen und alle Sorten von Finanzpapieren repräsentiert wird. Dieser Vorgriff ermöglicht es, Wert aus der Zukunft gewissermaßen in die Gegenwart zu pumpen, wo er nicht nur akkumuliert wird und dem Kapital so eine rentable Vermehrung sichert; vielmehr werden die Ansprüche auf die Zukunft durchaus auch für Konsum oder Investitionen verausgabt und induzieren auf diese Weise realwirtschaftliche Tätigkeit. Es ist dieser Mechanismus, der die Weltwirtschaft seit den 1980er Jahren in Gang hält und der kapitalistischen Produktionsweise noch einmal einen neuen historischen Entwicklungsspielraum verschaffte, der auf Grundlage einer Kapitalverwertung in der industriellen Warenproduktion schlicht nicht mehr existierte. Der gesamte industrielle Modernisierungsschub in China und anderen ehemals peripheren Staaten beruht auf dieser Grundlage (Lohoff / Trenkle 2012, S.98 ff.; Trenkle 2016, S. 17 ff.).

Freilich ist diese Grundlage äußerst prekär, weil der massive Vorgriff auf zukünftigen Wert seit fast vier Jahrzehnten niemals durch eine entsprechende Wertschöpfung eingelöst werden kann und der Boom nur weiterläuft, solange immer neue Ansprüche auf die Zukunft angehäuft werden; daher müssen immer neue Bezugspunkte für solche Zukunftserwartungen geschaffen werden, damit sich das angehäufte, gigantische Krisenpotential nicht mit einem Schlag entlädt und die Weltwirtschaft in den Abgrund reißt, wie es im Jahr 2008 beinahe geschehen wäre.

Zweifellos hat der Neoliberalismus durch seine Politik ganz wesentlich dazu beigetragen, die Ausweichbewegung in die Sphäre des fiktiven Kapitals zu ermöglichen und den Krisenprozess auf diese Weise aufzuschieben. Und dennoch folgte diese Weichenstellung keinem bewussten Plan neoliberaler Politikstrategen, wie es von Kritikern gerne behauptet wird, sondern sie stellte sich sogar entgegen ihrer erklärten Absichten her (Lohoff 2016, S. 19 ff.; Lohoff/ Trenkle 2012, S. 216 ff.). Der Neoliberalismus war in den 1980er Jahren angetreten, um die Realwirtschaft wieder profitabel zu machen, die seiner Ansicht nach von allzu starren Regulierungen gehemmt wurde und daher grundlegend dereguliert werden musste. Faktisch jedoch führte diese Politik zu einer flächendeckenden Zerstörung der industriellen Strukturen in den meisten kapitalistischen Kernstaaten, während sich die Dynamik der Kapitalakkumulation an die Finanzmärkte verlagerte; und das, obwohl doch, gemäß neoliberaler Ideologie das Geld nur einen „Schleier“ darstellen soll, der die Güterproduktion bloß verdecke und daher die Geldpolitik keine aktive Rolle spielen dürfe. Es war aber paradoxerweise genau diese Blindheit gegenüber dem eigenen Handeln, die dieses umso effektiver im Sinne eines Krisenaufschubs machte. Denn auch wenn den neoliberalen Strategen das keinesfalls bewusst war, ließ sich die Krise nur vorübergehend überwinden, indem die Kapitalakkumulation auf eine neue Grundlage gestellt wurde: an die Stelle der Vernutzung von Arbeitskraft in der Produktion von Gütermarktwaren, also der Akkumulation von Wert in Gestalt vergangener „toter Arbeit“ (Marx), musste der Vorgriff auf zukünftigen Wert treten.

Allerdings blamierte sich die neoliberale Ideologie vom „Geldschleier“ endgültig mit dem Crash von 2008, als der Boom des fiktiven Kapitals an seine Grenzen stieß und der Politik gar nichts anderes übrigblieb, als das Finanz- und Bankensystem durch gigantische Stützungsprogramme vor dem Zusammenbruch zu retten, weil dieser eine unkontrollierbare Krise der Weltwirtschaft zur Folge gehabt hätte. Seitdem funktioniert die Akkumulation des fiktiven Kapitals nur noch deshalb, weil sie massiv durch die Regierungen und vor allem durch die Zentralbanken gestützt wird, die gewaltige Mengen kostenloses Geld (mittlerweile sogar zu Negativzinsen) in die Finanzmärkte pumpen. Dass sie dies unter einer ganz anderen Prämisse tun, nämlich zur Bekämpfung einer angeblich drohenden Deflation, verweist nur noch einmal auf die Blindheit der kapitalistischen Akteure gegenüber ihrem eigenen Handeln, das sich aber paradoxerweise gerade deshalb als systemfunktional herausstellt.

Es wäre jedoch naiv, zu meinen, die gängigen Wirtschaftswissenschaften würden aufgrund der permanenten Widersprüche zwischen proklamierter Absicht und vollzogener Praxis den zugrunde liegenden Zusammenhang verstehen. Zwar hat die neoliberale Ideologie ihre Hegemonie eindeutig verloren, doch an ihrer Stelle bekam jetzt ein reformulierter Keynesianismus Oberwasser, der sich häufig mit linkspopulistischen Elementen mischt und der die Verkehrtheit der neoliberalen Ideologie nur spiegelbildlich reproduziert. Weil die Politik massiv Einfluss auf die Akkumulation des fiktiven Kapitals ausübt, sieht er sich in seiner Auffassung bestätigt, dass ökonomische Prozesse mehr oder weniger beliebig politisch gesteuert werden können, wenn nur der entsprechende Wille vorhanden ist und sich gesellschaftlich durchsetzen kann. Da die Finanzialisierung und die Globalisierung des Kapitals diesem Weltbild zufolge auf von neoliberalen Kräften und transnationale Eliten bewusst durchgesetzt worden sind, könne diese Entwicklung nun auch wieder rückgängig gemacht werden. Wenn nur die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse entsprechend verschoben würden, soll es möglich sein, die „Realwirtschaft“ wieder in den Mittelpunkt zu stellen und die Finanzmärkte auf ihre „dienende Funktion“ zurück zu dimensionieren.

In dieser Auffassung lässt sich der neokeynesianische Linkspopulismus auch dadurch nicht erschüttern, dass die Regierungen und Zentralbanken nach dem Finanzcrash von 2008 keinesfalls die Macht der Finanzmärkte beschnitten haben, obwohl dies damals sogar in der Abschlusserklärung des Krisengipfels der G20 im Februar 2009 gefordert wurde.4 Wie jede Ideologie, so sieht sich auch die linkspopulistische durch die Entwicklungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer nur bestätigt, weil sie alle Vorgänge und Fakten so wahrnimmt, dass sie sich in ihr Weltbild einfügen. Die Krisenverwaltung nach 2008 gilt ihr nicht etwa als Hinweis darauf, dass die materielle Grundlage für einen auf massenhafter Vernutzung von Arbeitskraft beruhenden Kapitalismus längst nicht mehr existiert, sondern als Beleg für das erfolgreiche Wirken von Lobbygruppen des Banken- und Finanzkapitals. Das scheinbare Versagen der Politik wird also genauso personalisiert wie zuvor schon die Krise, die ja angeblich ihre Ursache in der maßlosen Gier der Spekulanten haben soll. Aus dieser Sicht beweist die Krisenverwaltung nur einmal mehr, dass das politische „Establishment“ von den globalisierten Eliten und vom Finanzkapital ganz nach Belieben für die eigenen partikularen Interessen eingespannt wird. In dieser Auffassung bildet der linke Populismus haargenau die vorherrschende öffentliche Meinung ab und unterscheidet sich darin praktisch nicht von seinem rechtspopulistischen Bruder.

5.

Freilich wäre der Populismus neuerdings nicht so erfolgreich, verwiese er auf seine ideologisch verquere Weise nicht dennoch auf etwas Richtiges. Wenn die Politik seit 2008 ständig verkündet, sie müsse einfach so handeln wie sie handelt, dann ist das ja tatsächlich eine Bankrotterklärung. Es wird im Grunde gesagt, dass das stets hochgehaltene Ideal der Demokratie außer Kraft gesetzt ist. Zwar waren die politischen Handlungsspielräume schon immer durch die verdinglichten Zwänge der allgemeinen Warenproduktion und der Kapitalakkumulation immer schon eng begrenzt. Dennoch sind sie heute, unter den Bedingungen der fundamentalen Krise noch einmal weiter geschrumpft. Die berüchtigte Redewendung von der „Alternativlosigkeit“ verweist genau darauf, wenn auch selber auf ideologische Weise; denn hier wird immer schon die kapitalistische Produktions- und Lebensweise als selbstverständlicher Bezugsrahmen vorausgesetzt, der angeblich nicht überschritten werden kann und somit werden die mit dieser Vergesellschaftungsform gesetzten Zwänge zu Quasi-Naturgesetzen definiert, denen sich jeder vernünftige Mensch beugen muss. Umgekehrt ist es aber nicht weniger ideologisch, diese verdinglichten Zwänge zu leugnen und zu suggerieren, es sei alles nur eine Frage des politischen Willens und die berüchtigten „Sachzwänge“ seien eine Erfindung der Eliten um ihre Interessen zu verschleiern.

Richtig ist allerdings, dass in der geschichtlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die politischen Spielräume zumindest phasenweise deutlich größer waren als heute. Das gilt insbesondere für die Epoche des fordistischen Booms, der genau deshalb auch zum Bezugspunkt für eskapistische politische Phantasien geworden ist. Da die industrielle Massenproduktion noch in starkem Maße auf den nationalstaatlichen Rahmen angewiesen war, besaß die Politik eine relativ große Macht. Sie konnte qua Steuer- und Sozialpolitik ihren Einfluss gegenüber den in ihrem Territorium angesiedelten Unternehmen geltend machen und sie im Gegenzug zugleich durch entsprechende Handelsbarrieren vor der ausländischen Konkurrenz schützen. In der Ära des fiktiven Kapitals hingegen, in der sich die Dynamik der Akkumulation an die Finanzmärkte verlagert hat, ist die Politik weitgehend zu einer abhängigen Variable geworden. Das in der Finanzsphäre angelegte fiktive Kapital kann innerhalb von Sekunden von einem Ende der Welt zum anderen verschoben werden, industrielle Standorte lassen sich aufgrund transnationaler Produktionsstrukturen und flexibilisierter Zuliefernetzwerke binnen kurzer Zeit verlagern und erhebliche Teile des Dienstleistungssektors sind auf Grundlage der Kommunikations- und Informationstechnologien schon längst global organisiert. Kurz gesagt: während für die Akkumulation des Kapitals schon längst der Weltmarkt unmittelbar zum Bezugsrahmen geworden ist, bleibt die Politik in ihren Zugriffsmöglichkeiten weitgehend auf den nationalstaatlichen Raum beschränkt und befindet sich daher in einer strukturell bedingten Abhängigkeitsposition.

Auch unter diesen Bedingungen ist zwar die Politik keinesfalls in all ihren Entscheidungen determiniert; solange das fiktive Kapital munter akkumuliert, hat sie durchaus Handlungsspielräume, die umso größer sind, je stärker ein Land von eben dieser Akkumulation profitiert (Lohoff 2016). Doch wo die Kapitalakkumulation als solche bedroht ist, wie in der Krise von 2008, bleibt den Regierungen tatsächlich keine andere Alternative als diese mit allen nur möglichen Mitteln wieder in Gang zu bringen, indem sie das Finanzsystem massiv unterstützen. Deshalb entbehrt die Vorstellung von einer Wiederbelebung des keynesianischen Regulations- und Sozialstaat nach dem Vorbild der direkten Nachkriegszeit jeder Grundlage. Und das politische Programm des Linkspopulismus, das auf den ersten Blick wie eine Rückkehr des guten alten Reformismus aussehen könnte, ist nichts als dessen schlechte Karikatur (Bierwirth 2017). Denn der Reformismus des 20. Jahrhunderts hatte eine reale historische Perspektive. Sein politisches Programm ließ sich zumindest ansatzweise durchsetzen, weil die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen dafür existierten.5 Diese historische Perspektive existiert heute jedoch nicht mehr. Zwar lassen sich in den Ländern, die noch zu den wenigen Krisengewinnern gehören durchaus einzelne sozialstaatliche Verbesserungen durchsetzen, doch haben sie nur punktuellen Charakter; die Grundlage für ein umfassendes reformistisches Programm existiert nicht mehr. Und da die Ursachen hierfür in der historischen Dynamik und der Krisenlogik des Kapitalismus selbst zu suchen sind, lässt sich diese Grundlage auch nicht durch eine Stärkung der nationalen Souveränität erneuern. Wer das meint, verwechselt Ursache und Wirkung. Der Reformismus war nicht deshalb so erfolgreich, weil die Nationalstaaten relativ souverän waren; sondern diese waren relativ souverän aufgrund der auf industrieller Massenarbeit und Massenkonsum beruhenden Akkumulation – und das eröffnete große Spielräume für eine reformistische Politik.

Es gibt also kein Zurück in diese Zeit; vor allem aber, wäre ein Rückfall hinter den erreichten Grad der transnationalen Vernetzung alles andere als wünschenswert. Denn auch wenn die Schwächung der staatlichen Souveränität im Zuge der Finanzialisierung und Globalisierung des Kapitals natürlich kein Akt der emanzipatorischen Aufhebung des Staates war, ist es doch grundsätzlich ein Fortschritt, dass die kapitalistische Dynamik die Grenzen der nationalstaatlichen Bornierung aufgesprengt hat. Jede Politik, die hinter diesen Stand zurückfällt, ist regressiv. Eine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation und der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums jenseits von Ware und Geld muss heute mehr denn je transnationalen Charakter haben. Daran festzuhalten ist umso wichtiger, als mittlerweile ein gewaltsamer Zerfall des kapitalistischen Weltsystems entlang nationalistisch aufgeladener Interessenkonflikte und Identitätspolitiken in Reaktion auf den Krisenprozess keinesfalls mehr auszuschließen ist (Lohoff 2016).

Die Phantasien zur Wiederherstellung einer angeblich goldenen Zeit eines nationalstaatlich zentrierten Kapitalismus sind einer der ideologischen Motoren dieser Entwicklung, die den Eintritt in eine qualitativ neue Phase des Krisenprozesses markiert. Die Renationalisierung bringt nicht den sozial- und wirtschaftspolitisch regulierten Kapitalismus mit seinem relativen Wohlstand zurück; vielmehr läuft sie auf die Etablierung autoritär-nationalistischer Krisenverwaltungen hinaus, die gerade weil sie ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Versprechen nicht einhalten können umso schärfer auf aggressive Feindbestimmung nach innen und nach außen setzen werden. Die Politik der russischen, ungarischen und polnischen Autokraten sowie von Donald Trump, als er an der Regierung war, lassen erahnen, in welche Richtung der Zug fährt. Wenn die Linke meint, sie könnte dieser rechten Formierung dadurch begegnen, dass sie das Thema der nationalen Souveränität auf ihre Weise besetzt, ist das nicht nur regressiv, sondern auch zum Scheitern verurteilt. Denn der rechte Populismus spielt viel ungehemmter und erfolgreicher auf der Klaviatur der nationalistischen Identität, der rassistischen Abgrenzung und des Ressentiments. Genau darauf aber basiert sein Erfolg. Im Grunde ahnen die Wähler*innen der Rechten, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Versprechen, die denen des linken Populismus ja sehr ähnlich sind, niemals eingelöst werden. Umso mehr aber klammern sie sich an die kollektive Identität des „Volkes‟ und die Konstruktion von „Feinden“, die eben diese angeblich bedrohen. Eine Linke, die diesen Trend auch nur ansatzweise mitmacht, hat bereits jeden emanzipatorischen Anspruch aufgegeben.

Literatur:

Felber, Christian (2015): La economía del Bien Común, Deusto, Barcelona

Kennedy, Magrit (2011): Occupy Money: Damit wir zukünftig ALLE die Gewinner sind, Bielefeld 2011

Lohoff, Ernst (2016): Die letzten Tage des Weltkapitals. Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals, Krisis-Beitrag 5/2016 www.krisis.org/2016/die-letzten-tage-des-weltkapitals/

Lohoff, Ernst (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. Der Fetischcharakter der Kapitalmarktwaren und sein Geheimnis, Krisis-Beitrag 1/ 2014 www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/

Lohoff, Ernst/ Trenkle, Norbert (2012): Die große Entwertung, Münster 2012

MEW 23 = Marx, Karl (1983a): Das Kapital, Band 1, Marx-Engels-Werke Bd. 23, Berlin 1983

Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss, München 2012

Postone, Moishe (2001) [1982]: La lógica del antisemitismo. en M. Postone, J. Wajnsztejn, B. Schulze, La crisis del Estado-Nación. Antisemitismo-Racismo-Xenofobia, Barcelona, Alikornio ediciones. https://www.krisis.org/2019/la-lgica-del-antisemitismo/

Trenkle, Norbert (2016): Die Arbeit hängt am Tropf des fiktiven Kapitals, Krisis-Beitrag 1/2016, www.krisis.org/2016/die-arbeit-haengt-am-tropf-des-fiktiven-kapitals/

Wagenknecht, Sahra (2021): Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt/ New York

Wagenknecht, Sahra (2016a): Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt 2016

Wagenknecht, Sahra (2016b): im Interview mit Albrecht Müller (Nachdenkseiten), 29.März 2016, www.nachdenkseiten.de/?p=32548

Wagenknecht, Sahra (2016c): „Warum sollen wir uns mit so einer wirtschaftlichen Ordnung abfinden?“, Interview mit Paul Schreyer (Telepolis) 23.04.2016 www.heise.de/tp/artikel/48/48034/1.html

Fußnoten

1 „Dass europäische Verträge und Institutionen ein praktikabler Hebel sein können, die Politik in den einzelnen Ländern unabhängig von Wahlergebnissen auf eine konzernfreundliche Agenda zu verpflichten, davon war bereits der beinharte Neoliberale Friedrich August von Hayek überzeugt. Aus diesem Grund hat er die Idee eines europäischen Bundesstaates, der den einzelnen europäischen Staaten übergeordnet ist, mit Verve vertreten – nicht, um politische Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, sondern um politische Gestaltung und damit Demokratie zu verhindern“ (Wagenknecht 2016a, S. 25; Hervorh. i. Orig.)

2 Vgl. Felber 2015. Hier stammt auch die Idee der sogenannten Gemeinwohlbanken her, von denen Wagenknecht so begeistert ist (Wagenknecht 2016, S. 223f.)

3 Praktisch vollzieht sich das durch den Verkauf von Geld als Geldkapital in der Gestalt von handelbaren Eigentumstiteln, die den Anspruch auf eine bestimmte Summe Geld plus ihre Vermehrung verbriefen. Ernst Lohoff hat dafür den Begriff der Waren 2ter Ordnung geprägt …(Lohoff 2014, S. 38 f.; Lohoff /Trenkle 2012, S. 124 ff.).

4 „Der G20-Gipfel in Pittsburgh (im September 2009) sei eine ‚entscheidende Wegmarke‘, sagte Merkel. Es müsse gelingen, die auf den vorhergegangenen Gipfeln getroffenen Vereinbarungen zur stärkeren Kontrolle der Finanzmärkte umzusetzen. Man müsse Lehren aus der Finanzkrise ziehen und sicherstellen, dass sich so etwas nicht wiederhole.‟ (Spiegel Online 24.9.2009)

5 Das heißt nicht, dass diese zweifellos beachtlichen Erfolge dem Reformismus einfach in den Schoß fielen. Sie mussten selbstverständlich erkämpft werden. Aber die strukturellen Voraussetzungen dafür waren sehr günstig. So war insbesondere die Stärkung der Massenkaufkraft notwendig, um die gewaltige Masse an Industriewaren überhaupt absetzen zu können, auf deren Produktion wiederum die Kapitalakkumulation beruhte.