Über die Perspektiven postmoderner Männlichkeit
Karl-Heinz Lewed
Reinhold Messner am Ende der Welt
„Was es zu erforschen gibt, ist nicht der Berg, sondern der Mensch. Ich bin nicht zum Mount Everest gefahren, um ihn zu bezwingen. … Ich wollte auf dieser höchsten natürlichen Höhe mich selbst erfahren und, wenn möglich, den Mount Everest in all seiner Größe und Härte erfassen“ (Messner, 1978, S. 14).
„Worum es mir … geht, das ist das visionäre Erlebnis, das aus der Tiefe des erweiterten Sehvermögens in der Grenzsituation schöpft und das den Betroffenen zwischen ‚Durchkommen und Umkommen‘ kurzfristig in die Erkenntnis seines wahren Ich schleudert“ (ebd., S. 216).
„Was denn so wichtig sei am Grenzbereich Todeszone? Die Lebenserkenntnis vom Ende, vom eigenen Tode aus gewonnen und manchmal das Gefühl, sich selbst und die Welt zu umarmen“ (ebd., S. 25).
„Ich bin zwar noch nie abgestürzt, aber öfters schon dem Tod nahe gewesen; wenigstens einmal bin ich schon selbst ‚gestorben‘. Ich lebe zwar noch, seit damals aber mit einer anderen Einstellung zur Welt, zum Tod, zu mir selbst“ (ebd., S. 19).
„Oben am Gipfel erlebte ich eine tiefe innere Ruhe, eine Art ‚Nirwana‘. Als ich zurück ins Tal kam, hatte sich meine Einstellung zum Leben stark verändert. Noch stärker empfand ich dies, nachdem ich völlig erschöpft im Diamir-Tal, am Fuße des Nanga Parbat liegen geblieben war. Damals hatte ich den Tod erstmals akzeptiert, und das hatte wesentliche Folgen für mein weiteres Dasein. … Ich habe vor dem Leben eben sowenig Angst wie vor dem Tod und möchte möglichst uneingeschränkt sein, nichts wissen, was ich nicht erlebt habe. Bergsteigen heißt für mich nicht – wenigstens nicht primär – Flucht aus den unerträglichen Bedingungen der westlichen Industriegesellschaft, Bergsteigen heißt für mich, Leben im Sinne von Selbstäußerung, von Sein“ (ebd., S. 23).
Dass in der Postmoderne die Grundstruktur des männlich konstituierten Subjekts bereits als Karikatur erscheint, kann in dem Sinne als Vorzug betrachtet werden, als „der bestimmte Charakter zur Übertreibung gesteigert … gleichsam ein Überfluss des Charakteristischen ist“ (Hegel 1986, S. 35). Dieses karikaturhafte Zuviel hat viele Namen. Wenn hier nun Reinhold Messner gewissermaßen als Hausnummer herausgegriffen wird, so wegen seines expliziten Programms, das Glück der Freiheit im „Nichts“ zu suchen. Das Ziel, das Messner mit seinen Selbstexperimenten am Berg und im Eis zu erreichen sucht, repräsentiert nur einen ins Extrem gesteigerten allgemeinen Grundzug männlicher Subjektivität, wie sie die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat. Charakteristisch an diesem „freien“ Willen ist nicht primär seine oberflächliche Beliebigkeit, mit der er sich scheinbar neutral auf jeden Inhalt bezieht. Vielmehr orientiert sich dieser Wille auf eine Erfahrung der „Nichtheit“ (Messner, 1978, S. 218) des menschlichen Daseins. Hinter dem scheinbar so alltäglichen Wunsch nach „Selbstentfaltung“ und „Selbstfindung“ (ebd., S. 215) öffnet sich der Abgrund der modernen männlichen Subjektform. Warum, fragt man sich, muss sich dieses Selbst in Todeszonen und Grenzbereiche1 des Lebens begeben, um wesentliche Erkenntnisse über sich zu gewinnen. Was sucht es in der Nähe zum und der Konfrontation mit dem Tod und weshalb wird es zur Sucht, solche Situationen aufzusuchen oder besser zu inszenieren? Welchen Charakter hat dieses Selbst denn überhaupt, den es im Zustand der höchsten Gefahr zu betätigen und zu bestätigen sucht? „Ich kann … ‚am Ende der Welt‘ ganz ich selbst sein“ (ebd., S. 215), sagt Messner. Doch mit welcher Welt haben wir es denn zu tun, an deren Ende mann sich so leicht und so vollkommen fühlt?
Der Wille im Spiel der Möglichkeiten
Die Wirklichkeit in den durchgesetzten Formen der (Post-)Moderne erscheint zu einem bloßen Nebeneinander von Objektivitäten reduziert, auf die sich die Subjekte mittels ihres „freien“ Willens beziehen. Innerhalb dieser verobjektivierten Realität minimiert sich die „Freiheit“ des Individuums auf eine Wahlfreiheit gegenüber versachlichten Gegenständlichkeiten und somit gerade zu ihrem Gegenteil. Dabei gilt: Je totaler die Warenform herrscht, desto größer die Möglichkeiten und desto „freier“ kann sich der subjektive Wille ausdrücken und betätigen.
Für den Einzelnen verwandelt sich somit die zum „ehernen Gehäuse“ (Max Weber) erstarrte Welt der versachlichten Verhältnisse in die bunte Wirklichkeit der überall lauernden Chancen und Möglichkeiten. Das auf den freien Willen reduzierte Individuum, bar jeder sonstigen inhaltlichen Bedeutung und Bestimmung, kann immer nur aus Vorgefertigtem auswählen, allenfalls dies noch als angeblich lustvolles Vergnügen inszenieren. Die Freiheit der Wahl ergibt sich aus der Differenz zu anderen Möglichkeiten. Ja, der Realitätsbezug bildet sich für das moderne Bewusstsein gerade erst durch die Differenzierungsmöglichkeit innerhalb versachlichter Bedingungen.2 Das Charakteristische an diesem Verhältnis ist allerdings nicht das Sich-Einlassen auf qualitativ Neues, sondern ganz im Gegenteil die autistische Selbstbezogenheit bei der Betätigung des freien Willens als bloßes Auswählen aus dem vorgefertigten „Warensortiment“. Das Grauen über das versachlichte Immergleiche der Wert- und Warenform wird dabei hinter die Fassade der famosen „Gelegenheiten“ verbannt. Durch einen permanenten Erregungszustand versucht der freie Wille die verobjektivierte Realität allseits und allerorten zu „verflüssigen“. Den verdinglichten Verhältnissen soll die Neuheit des Immergleichen, so die paradoxe Anforderung, eine Offenheit verleihen. Als Muster für dieses Verhältnis zwischen dem abstrakten Ich und der verdinglichten Objektivität kann der Konsum und der damit verbundene Fetischismus der Werbung gelten: „Jede Woche eine neue Welt“, verspricht die Reklame und der „freie“ Wille stellt, angesichts der totalen Versachlichung, die noch einzig mögliche Frage: Warum eigentlich nicht?
Guy Debord hat im Begriff des Spektakels den Scheincharakter dieser Wirklichkeit herausgestellt: „Das Spektakel ist … ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen. … Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen – Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen – ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlichen Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der bereits getroffenen Wahl“ (Debord, S. 14f.). Die verobjektivierten Formen dieser Realität differenzieren sich in der Spektakel-Gesellschaft zu einem universellen System des objektiven Scheins aus. Jede Wahl aus den gebotenen Möglichkeiten in den herrschenden Formen „rechtfertigt“ und bestätigt die schon zugrunde liegenden Bedingungen, wie sie die Trennung zwischen den Einzelnen und der Objektivität befestigt.
Falls sich dem postmodernen Subjekt überhaupt noch eine Frage aufdrängt, Reflexion wäre etwas ganz anderes, so ist es die über die gut oder schlecht realisierte Differenz zu anderen Möglichkeiten, die eigentlich keine sind. Und der Befund fällt natürlich angesichts der Unendlichkeit von gleichzeitig nicht verwirklichten und damit verpassten Chancen alles andere als befriedigend aus. Die Zwanghaftigkeit postmodernen Konsums und die Melancholie über das Ungenügen ist dem immer lächelnden „Gut-drauf-Sein“ doch immer anzumerken: „Immer wo ich nicht bin, ist man gut gelaunt“ (Faltsch Wagoni).3
Freiheit und Fremdheit
Der Widerspruch zwischen der Unbegrenztheit warenförmigen Angebots und der Endlichkeit menschlicher Bedürfnisse ist indes vermittelt mit einer grundsätzlicheren Paradoxie. Im Kapitalismus verkehrt sich die abstrakte Allgemeinheit (der Arbeit) in die private und vom gesellschaftlichen Zusammenhang isolierte Form. Der Wert ist beides: abstrakt allgemeine Substanz und gleichzeitig private Verfügung darüber. Diese Dimension der Privatheit ist der Hintergrund für die Absonderung und Isolierung vom gesellschaftlichen Zusammenhang bzw. der Einzelnen voneinander. Das Sich-Gegenübertreten „als Privateigentümer jener veräußerlichten Dinge (d.h. der Waren, einschließlich der Ware Arbeitskraft, K. L.) und eben dadurch als voneinander unabhängiger Personen“ erzeugt „ein Verhältnis wechselseitiger Fremdheit“ (MEW 23, S. 102). Es ist aber nicht erst die Vermittlung auf dem Markt, wie man diese Formulierung missverstehen könnte, die eine Trennung und Entfremdung der Subjekte induziert.4 Vielmehr realisiert sich dort nur die durch den Wert gesetzte paradoxe Form der Privatheit. Im Tausch verwirklicht sich „das Produkt individueller Privatarbeit als gesellschaftliches und damit auch die Individualität der Privatproduzenten als allgemein gesellschaftliche Form“ (Bolay/Trieb, S. 59). Die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhangs in vereinzelte Einzelne ist also nicht eine nur äußerliche, durch das Tauschprinzip hergestellte Zerrissenheit, sondern hat konstitutiven Charakter für die gesamte Form der kapitalistischen Gesellschaftlichkeit. Die hinter dem Rücken sich herstellende Dialektik von abstrakt allgemeiner Substanz des Werts und der privaten Form des Zugriffs auf diese reflektiert sich in verkehrter Form im Bewusstsein der Subjekte. Die Unterwerfung unter das unbewusst konstituierte gesellschaftliche Zwangsverhältnis isolierter Monadenhaftigkeit erscheint für die Einzelnen nicht als solches, sondern verkehrt sich zum Inbegriff ihrer Freiheit. Aus der Formkonstituiertheit der entfremdeten Einzelwillen wird das „Recht auf Selbstbestimmung“. Der „freie“ Wille ist die ideologische Verblendung der gesellschaftlichen Heteronomie. Bei Kant, dem Höhepunkt der Aufklärung, die selbst nur die selbstlegitimierende Reflexion der Moderne darstellt5, wird dieses gesellschaftliche Verhältnis als das Gegenüber einer strengen Naturgesetzen folgenden Empirie und eines davon unabhängigen „freien“ Willens beschrieben; und dabei gleichzeitig mystifiziert. Denn die gesellschaftlich konstituierten Gesetze erscheinen als gesetzliche Naturnotwendigkeit kausaler Zusammenhänge. Und dieser naturgesetzlichen Kausalität steht die „freie“ Willensinstanz eines „intelligiblen Wesens“ (Kant) gegenüber.
Tatsächlich ist aber diese depravierte „Freiheit“ selbst nur eine Form, wie sich das abstrakte gesellschaftliche Verhältnis darstellt. Aus einer wertkritischen Perspektive kann man die als individuelles Recht erscheinende Reduktion auf seine Privatexistenz als liberale Verblendung kenntlich machen.6 Das Recht auf Selbstbestimmung lässt sich dann gleichzeitig als Pflicht zur Autonomie dechiffrieren. Freilich wechselt die Freiheit dann ihr Vorzeichen und wird als Zwang erkennbar: Das Ich ist immer auf sich zurückgeworfen und muss sein Dasein unter jeden Umständen selbst meistern.7 Im Bewusstsein verfestigt sich diese Verkehrung zur autonomen Entscheidungsinstanz durch die spezielle Form, wie sich das System der warenförmigen Verkehrsverhältnisse darstellt: Der versachlichte Zusammenhang tritt den Einzelnen als etwas Fremdes gegenüber und erzeugt so das Gegenüber von Subjekt und äußerlicher Objektwelt, das dem bürgerlichen Menschen als immer schon gegebenes Verhältnis erscheint.
Dass die Vergesellschaftung über den Wert als Gesamtverhältnis privat verfasst ist, kann daher, im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung, so verstanden werden, dass sie als Getrennte und Vereinzelte ihrer Gesellschaftlichkeit „beraubt“ sind. Die Selbstwahrnehmung als atomisierte Einzelwesen und die Erfahrung der Weltverlorenheit hat hierin ihre konstitutionelle Voraussetzung. Sie reproduziert sich in allen Bereichen der Warengesellschaft:
„Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels. … Das auf die Vereinzelung gegründete Wirtschaftssystem ist eine zirkuläre Produktion der Vereinzelung. Die Vereinzelung begründet die Technik, und der technische Prozess vereinzelt wiederum. Alle durch das spektakuläre System ausgewählten Güter, vom Auto bis zum Fernseher, sind auch seine Waffen, um beständig die Vereinzelungsbedingungen der ,einsamen Mengen‘ zu verstärken. Das Spektakel findet immer konkreter seine eigenen Voraussetzungen wieder. … Das Spektakel ist die gemeinschaftliche Sprache dieser Trennung. Was die Zuschauer miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes“ (Debord, S. 23ff.).
Der objektive Schein des Spektakels, der „Irrealismus der realen Gesellschaft“ vermittelt die grundsätzliche Trennung in vereinzelte Einzelne. Debords Analyse berührt hier nur die Ebene der technischen Bedingungen, in und mit denen die Warengesellschaft die „Produktion der Vereinzelung“ zirkulär herstellt.
Die Frage, der hier nachzugehen ist, bezieht sich im Gegensatz dazu auf eine andere Dimension der gesellschaftlichen Trennung: Auf welche Weise ist das Gesamtverhältnis der konstitutionellen Vereinzelung und des entfremdeten gesellschaftlichen Zusammenhangs mit dem männlich besetzten Willen verknüpft? Oder anders ausgedrückt: Wie vermittelt sich die warenförmig konstituierte männliche Subjektivität mit der dem Individuum gegenübertretenden versachlichten Objektivität?
Soviel sei schon einmal vorweggenommen: Der „freie“ Wille im Grenzbereich Todeszone erscheint durchaus konsequent als die Affirmation der zwangsvereinzelten Freiheit. Die ins Extrem getriebene Isolierung und die damit verbundene Ohnmacht wird ins Positive gesetzt als erlösende Erfahrung und Befreiung. Die autistische Form bürgerlicher Subjektivität bewährt sich, indem sie sich autonom der Härte der fremden Objektivität aussetzt. Sie korreliert direkt mit der Bedrohlichkeit des als übermächtig erlebten Außen. Wenn der Wille auf der Trennung basiert, dann muss das Subjekt, will es seinem Status als aktives und handelndes gerecht werden, auch diese Vereinzelung offensiv gestalten, und sei es im Wagnis des individuellen Lebens. Der soziale Tod sucht sich seine physische Entsprechung.
Die Rückseite des männlichen Subjekts
Ein zentrales Moment der männlichen Subjektkonstitution ergibt sich – wie schon angedeutet – aus der Beziehung des abstrakt „freien“ Willens zur Sinnlichkeit. Denn der rein an Prinzipien orientierte Wille, hat ein äußerst problematisches Verhältnis nicht nur zu den Grenzen sinnlicher Wirklichkeit, sondern zu dieser überhaupt. Einerseits bleibt er stets auf diese verwiesen, andererseits erscheint sie ihm als vollkommen fremd und äußerlich. Das männliche Aufklärungssubjekt, das Kant voraussetzt, zeichnet sich ja durch einen von jeder Empirie unabhängigen Willen aus, der sich nur auf die jenseitige Sphäre der Prinzipien und eines „Gesetzes überhaupt“ stützt.8 Das Ätherische, die Luftigkeit seines Wesens, seine Unabhängigkeit gegenüber dem Sinnlichen beinhaltet auch die Beziehungslosigkeit seiner Beziehungen. Was Kant als selbstbewusste Tätigkeit der bürgerlichen Vernunft zu beschreiben versucht hat, stellt sich aber als Ergebnis der versachlichten Verhältnisse heraus. Die Formen der Vernunft haben die gesellschaftlichen „Naturgesetze“ der unbewusst hergestellten abstrakten Beziehung des Werts und seiner sozial-ökonomischen Emanationen zum Hintergrund. Aus der Ohnmacht gegenüber der Versachlichung entspringt die „sinn-lose“ Allmacht seiner eigenen Voraussetzungslosigkeit. Seine Identität bestimmt sich nicht im sozialen Miteinander und im gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern ist fixiert durch die leere Einheit eines Willens an sich. Die trennende und isolierende Form bezieht die Individuen nicht in einen bewusst gemeinsam hergestellten sozialen Zusammenhang mit ein, sondern sondert sie von diesem ab. Ihre Beziehung untereinander und zu ihrem gemeinsamen Zusammenhang stellen sie über den Umweg der abstrakten Form (der Vernunft) her.
Was Kant als die „Hochschätzung für etwas ganz anderes als das Leben“, nämlich des „freien“ und männlich besetzten Willens bezeichnet hat, impliziert zugleich ein höchst folgenreiches Verhältnis zu sich und zur sinnlichen Wirklichkeit überhaupt. Die Berufung des Subjekts auf den ausschließlichen Standpunkt des „transzendentalen“ Willens, d.h. die Fundierung der modernen Rationalität auf die soziale wie sinnliche Totalisolation hat weitreichende Folgen: „Mit der Aufklärung lässt Vernunft alles, was aus ihr herausfällt, zum Irrationalen werden. In einer Welt aus Tatsachen werden Bedeutungen zum Aberglauben, Träume zu irrelevanten Phantasien, leibliche Regungen zu Grillen. Dieses Andere, das die Vernunft nicht umschließt, verkommt zu einem diffusen, unheimlichen und bedrohlichen Bereich“ (Böhme/Böhme, S. 14). Der Ausschluss aller sinnlichen Momente, der doch die Vernunft erst auf festen Boden stellen soll, produziert gerade umgekehrt ein undurchschaubares Gefühl der Bedrohung. Das Sinnliche erscheint als amorphes Chaos, als „Gewühl“ von Leidenschaften (Kant), vor dem sich der männliche Verstand nun erst recht in Sicherheit bringen muss. Auf diese Weise ist die moderne Vernunft dialektisch mit ihrem eigenen chaotischen Gegenteil verknüpft, das sie selbst erst hervorbringt, zugleich aber stets als Rechtfertigung für ihre Existenz heranzieht. So entsteht die Struktur einer auf Gesetze und Prinzipien reduzierten Vernunft, die sich permanent von Zerfall und Zersetzung durch eine Macht bedroht fühlt, die doch nur ihre selbstkonstituierte Rückseite ist.
Um mit der Situation der permanenten Bedrohung zu Rande zu kommen, muss einerseits das angsterregende Formlose kontrolliert und andererseits durch Projektion auf ein „Anderes“ greifbar und damit unschädlich gemacht werden. Diese Projektionsbewegung liegt der Konstitution des modernen Geschlechterverhältnisses zugrunde. Im „freien“ Willenssubjekt haben wir kein „neutrales“ Wesen vor uns, sondern die Instanz bürgerlicher Autonomie schreibt sich in eine männlich dominierte Matrix gesellschaftlicher Beziehungen ein. Der souveräne Wille zur Selbstbestimmung ist mit dem Willen zur Selbstbehauptung verknüpft und als dieses Konkurrenzsubjekt geschlechtlich bestimmt. Mit einer Beziehung, deren konstitutives Merkmal die isolierte Selbständigkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber dem sinnlichen Inhalt ist, deren Streben auf die Unbegrenztheit der Bewegung in der abstrakten Form zielt und die sich die Unbedingtheit „sinnen-loser“ Autonomie als absolutes Prinzip gesetzt hat, ist eine geschlechtliche Hierarchisierung gesetzt. Die sozial isolierende, männliche Freiheit findet ihr im Raum der Öffentlichkeit nicht zugelassenes sinnliches Gegenbild im „weiblichen Wesen“. So konstituiert sich als Rückseite zur entsinnlichten Sphäre des „intelligiblen Willens“ der Männlichkeit ein häuslich sinnlicher Bereich der Frau. Denn die Abstraktheit des freien Willens, die Loslösung der Willensinstanz von allen Ebenen sozialer Vermitteltheit und Vermittlung, die grundsätzliche Bezogenheit des Subjekt auf die verobjektivierten gesellschaftlichen Formen, auf die „intelligible Welt der Prinzipien“ (Kant) kann es ohne die Abspaltung sinnlicher Qualitäten nicht geben. So gesehen ist der vermeintliche Universalismus der bürgerlichen Gesellschaft immer schon gebrochen, weil er strukturell eine geschlechtlich konstituierte Ausschlusslogik impliziert.9 Die abstrakten Formen von Ware und Wert können sich niemals zur Totalität entfalten, wie dies eine hegelianische Weltsicht suggeriert, die auch und gerade in der Linken mit ihrem positiven Bezug zur Arbeit fortgeschrieben worden ist.
Todestrieb und geschlechtliche Abspaltung
Bisher wurde die soziale wie sinnliche Absonderung des männlichen Willens in Beziehung zu seinem eigenen Gegenteil als äußeres Verhältnis dieses Willens beschrieben: einerseits das entsinnlichte, autonome Subjektatom und andererseits die negative Rückseite der abgespaltenen Sinnlichkeit, die einer weiblichen Sphäre zugeschrieben wird.
Der Rückzug in die ummauerte Festung der rein rationalen Ich-Autonomie und der Ausschluss alles Sinnlichen hatte die Bedrohung durch das eigene Gegenteil, die Irrationalität, zur Folge. Die Konstruktion einer Sphäre imaginierter Weiblichkeit stellte sich als der Versuch heraus, mit der selbsterzeugten Bedrohung umzugehen, sie in kontrollierbare Bahnen zu lenken.
In dieser Formulierung des Subjektverhältnisses ist freilich das Gegenüber von Subjekt und Objekt als statisches gefasst. Das Subjekt steht abwehrend den sinnlichen Objekten gegenüber und versucht sich vor diesen in Sicherheit zu bringen. Doch die Subjektbeziehung ist keine passive, sondern bezieht aktiv die Objektwelt in ihr Gesamtverhältnis mit ein. Tatsächlich ist sie substantiell in die Dynamik der abstrakten Allgemeinheit integriert, die sich stets als ihr eigenes Gegenteil, als Besonderes ausdrücken muss.
Die Frage wäre also, wie sich das Willenssubjekt in der konkreten Vermitteltheit mit der äußerlich und fremd erlebten Objektivität konstituiert und diese gleichzeitig wieder hervorbringt. Wir haben es hier also mit einer ähnlichen Struktur der „zirkulären Produktion“ zu tun, wie sie Debord auf der Ebene der technischen Prozesse in der Warengesellschaft erkannte. Nur dass sich hier nicht die Vereinzelung und die technischen Güter zirkulär aufeinander beziehen, sondern die Subjektmonade und die äußere, gleichsam fremde Realität. Um diesen Prozess zwischen Subjektivität und Objektivität genauer zu fassen, erscheinen die Begrifflichkeiten der Psychoanalyse als besonders geeignet.10
Nach Robert Bösch „wird dem bürgerlichen Individuum seine Gesellschaftlichkeit zugleich ein ebenso unmittelbarer Zwang wie ein unmittelbar inneres Bedürfnis“ (Bösch 2000, S. 106).11 Die Struktur dieser „zwanghaften Bedürftigkeit“ (ebd.) kann u.a. mit Hilfe der Freudschen Begriffe des narzisstischen Ichs, des primären Narzissmus oder des primären Selbst beschrieben werden. Entgegen dem landläufigen Verständnis von Narzissmus als Eitelkeit oder Selbstliebe meint der Begriff „primärer Narzissmus“ nicht das besondere Charaktermerkmal einer persönlichen Selbstbezogenheit, sondern eine verallgemeinerte seelische Tiefenschicht. Die Äußerungsform dieses Narzissmus besteht im Streben nach Entgrenzung und Auflösung, das Freud auch Todestrieb genannt hat. Dabei ist der primäre Narzissmus nicht uranfänglich, sondern Resultat aus dem Bezug zur äußeren Wirklichkeit, die als versagende Realität erlebt wird. „Beschrieben wird so eine reflektierte Kreisfigur, die in ihre eigene Voraussetzung zurückkehrt und diesen scheinbaren Anfang dadurch zugleich setzt und negiert“ (ebd., S. 108). Das Ergebnis ist die „Errichtung eines Lust-Ichs als autonom-selbstgenügsamer Monade, die als solche aber bereits Produkt des Mangels … ist“ (ebd.). Freud beschreibt diese narzisstische Struktur folgendermaßen: „Es entsteht die Tendenz, alles, was Quelle solcher Unlust werden kann, vom Ich abzusondern, es nach außen zu werfen, ein reines Lust-Ich zu bilden, dem ein fremdes, drohendes Draußen gegenübersteht“ (Freud 1994, S. 34). „Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art Abwendung verteidigen“ (ebd., S. 44). In dieser Formulierung wird unmissverständlich deutlich, dass die Konstitution der inneren Monade aus ihrem Verhältnis zur versagenden Realität folgt. Aus den zu toten Objektbeziehungen transformierten sozialen Verknüpfungen folgt der Wunsch in eine ganz andere Sphäre zu treten, eine Sphäre der „Unbegrenztheit“ und der „Verbundenheit mit dem All“, die durch ein „,ozeanisches Gefühl‘„ (ebd., S. 35) gekennzeichnet ist. Die als äußerlich und übermächtig erlebte Wirklichkeit soll in einer das Subjekt auflösenden Transzendenz überwunden werden. „Dies Eins-Sein mit dem All … spricht uns ja an … wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt“ (ebd., S. 39).12 Der Todestrieb repräsentiert diesen Wunsch nach „totalisierender Maßlosigkeit“, nach „regressiver Entdifferenzierung“ und „Auflösung der Einheiten“ (Bösch 2000, S. 111). Die Suche Messners nach der „inneren Ruhe“, nach dem „Gefühl, sich selbst und die Welt zu umarmen“ als „Erkenntnis des wahren Ichs“ (Messner 1978, S. 216) verweist auf den mit der „Lust-Monade“ zusammenhängenden Todestrieb: den „Sog in die anorganische Ruhe des Todes“ (Bösch 2000, S. 107). In der Todeszone als Standpunkt des vermeintlich von allen äußeren Umständen „freien“ Willens wird die zwangsvereinzelte Freiheit zugleich als Ort der höchsten Glückserfahrung erlebt. Einen zentralen Aspekt männlicher Subjektivität bildet tatsächlich die „Lebenserkenntnis vom Ende her“ (Messner 1978, S. 25) oder wie Freud den Todestrieb kennzeichnet: „Das Leblose war früher da als das Lebende“ (Freud 2000, S. 223).13
Hier offenbart sich der dunkle Schatten, den das Licht der Aufklärung stets wirft. Kant hatte nur das Diesseits moderner Rationalität beschrieben und das Jenseits im „Ding an sich“ als terra incognita aus der vernünftigen Reflexion ausgeschlossen. Die Dürftigkeit und Leere der abstrakten Welt des „freien“ Willensatoms mit seinen Gesetzen und Prinzipien drängt aber über die von der Vernunft gezogene Demarkationslinie hinaus. Der primäre Narzissmus, d.h. das Streben nach einer Art Nullzustand, den Freud als „jenes Nirwana, in das der Todestrieb zurückzukehren sucht“ (Bösch 2000, S. 106) charakterisiert hat, beschreibt ein zentrales Moment der modernen Subjektkonstitution: „Aus der äußerlichen Form der Vergesellschaftung resultiert die beständige Drohung des Auseinanderfallens von Individuum und Gesellschaft. Diese Bedrohung ist die zentrale Erfahrung des bürgerlichen Individuums. Dadurch erscheint die Gesellschaft als ein immer schon äußerlicher Zwang für ein primär agesellschaftliches Individuum“ (ebd., S. 106). Die Absonderung zur freien Willensmonade ist allerdings nicht nur eine ständige Bedrohung, sondern das gesellschaftliche Verhältnis im Kapitalismus ist das Auseinanderfallen in private Subjektmonaden. Die damit einhergehende soziale Isolierung und Entfremdung, d.h. die Reduktion auf den Nullpunkt des isolierten Willens schlägt um in das Bedürfnis nach sinnlicher Verschmelzung. Aus der absoluten Eingrenzung des Subjekts entsteht das Gegenbild der zerfließenden Entgrenzung.
Allerdings ist nach Freud das Streben nach der primären Befriedigung als Auflösungs- und gleichzeitiger Verschmelzungswunsch ein zwar stets gewollter, aber im alltäglichen Leben nie wirklich werdender Zustand. Das „Realitätsprinzip“ der abstrakten Vernunft generiert zwar das eigene Gegenteil, gleichzeitig ist diese dunkle Rückseite, d.h. das Streben nach Entgrenzung, Regression und Auflösung, absolutes Tabu. Erst durch diese „Urverdrängung“ der primären Befriedigung entsteht ein sekundäres Selbst, das die freie Triebenergie in strukturierte überführt. Dieses Selbst ist in einer zwanghaften Dynamik auf Objekte bezogen, denen jeweils aber nur ein Ersatzcharakter zukommt. Die unendliche Reihe von Ersatzobjekten ist bloßer „Abglanz des Unerreichbaren“ (ebd., S. 112). Durch das Verbot „ist eine unerledigte Situation, eine psychische Fixierung geschaffen, die in einem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb mündet. … Daraus resultiert der Reizhunger, die Unbeständigkeit der Objektwahl und die Gleichgültigkeit gegen das spezifische Objekt. … Das Lustprinzip … erscheint nun selbst als Ausdruck des Todestriebs, die Entwicklung und Entfaltung differenzierter Objektbeziehungen nur als Rückkehr zum Ausgangspunkt der absoluten Identität des Todes“ (ebd.). „Dieses unauflösbare Missverhältnis (zwischen Primär- und Ersatzbefriedigung, K. L.) produziert die zwanghafte Dynamik seines unaufhörlichen Lösungsversuches, dessen ‚Lösung‘ selbst nur im Erlöschen dieser Dynamik liegen kann“ (ebd.). Freud formuliert in dieser Lesart also das Kernproblem bürgerlicher Vergesellschaftung: „der Produktion konkreter Besonderheit als Selbstbewegung abstrakter Allgemeinheit“ (ebd.).
Im dem lebenslangen Festhalten am primären Narzissmus entsteht eine Fixierung auf Ersatzobjekte. „Die negative Vergesellschaftung durch den Wert, in der die Dialektik von Individuum und Gesellschaft nur als ambivalentes Zwangsverhältnis von Subjekt und Objekt existiert, produziert den Subjektivismus als narzisstische Allmachtsphantasie, die das Individuum umso unerbittlicher an den Objektivismus der Verhältnisse ausliefert“ (ebd., S. 114). Die Abhängigkeit von dieser Objektwelt verlangt aber gleichzeitig nach deren Entwertung. Andererseits führt die Verwiesenheit auf die nur als Ersatz anerkannten Objekte zu einer Zurückdrängung des sinnlichen Bezugs zu diesen: Die „Objektwelt wird zur Quelle der Bedrohung“ (ebd.) und zur Ohnmachterfahrung für das Subjekt und seiner wahnhaften Autonomie.
War oben das männliche Subjekt als Festung beschrieben worden, das sich in relativ gesicherter Lage den Angriffen des Sinnlichen erwehren muss, aber auch kann, so stellt sich dieses Ich, um bei einer Metapher zu bleiben, nun eher als erkaltetes Vulkangestein heraus. Das selbstbewusste Subjekt bildet die Oberfläche einer energiereichen Tiefenschicht. Die aus der öden Leere dieser Landschaft resultierende Sehnsucht nach der Einheit mit einem Untergründigen wird durch den psychischen Sekundärprozess nach außen in reflexive Objektbeziehungen transformiert. Das Subjekt ist also einerseits tendenziell auf die Entgrenzung des Selbst fixiert, andererseits erzeugt aber die Abhängigkeit von den nur äußerlich erlebten Objekten eine Ohnmachtsituation. Der zentrale Aspekt im Umgang mit dieser widersprüchlichen Struktur ist nun die geschlechtliche Abspaltung. Den Widerspruch zwischen Regression und Ohnmacht gegenüber der Objektivität versucht das männliche Subjekt durch projektive Identifizierung loszuwerden: „Diese projektive Zurichtung der Frau als ihre Entselbstung, die ihre Idealisierung ebenso bedingt wie ihre Verachtung, führt dazu, dass sie das verkörpern und aufbewahren muss, was das männliche Subjekt sich selbst antut und, um sich dies antun zu können, abspalten, d.h. Anderen antun muss. … Der Kern der projektiven Identifizierung besteht also darin, dass das Objekt unbewusst dazu gezwungen wird, das Abgespaltene zu repräsentieren, zu verkörpern. … (Dies) erlaubt es dem Mann also, seine bedrohliche Sinnlichkeit zugleich zu erleben und sich von ihr zu distanzieren“ (ebd., S. 116).14 Der „freie“ und ach so souveräne Wille entpuppt sich in der Analyse der inneren Dynamik als höchst prekäre Struktur eines labilen Gleichgewichts zwischen Allmacht und Ohnmacht. Die geschlechtliche Abspaltung ist also eingelassen in das widersprüchliche Verhältnis, das mit der Konstitution der männlichen Selbstbestimmungsmonade gesetzt ist. Die Beziehung zwischen dem autonomen Subjekt und der gesellschaftlichen Objektivität ist vermittelt über die dynamische Struktur eines potentiell entgrenzenden Triebes und den Versuch der Kontrolle und Eingrenzung desselben.
Schopenhauer und der Monismus des Willens
Um diese Struktur näher zu beleuchten ist ein Blick auf Schopenhauers Philosophie hilfreich, die in mancher Hinsicht die Freudschen Einsichten vorwegnimmt oder mindestens vorbereitet. Der Kern dieser Philosophie ist die Annahme einer Durchdringung der gesamten Wirklichkeit durch eine omnipräsente Kraft, den Willen. Schopenhauer löst damit den Kantschen Subjekt-Objekt-Dualismus auf, der das Subjekt in einer transzendentalen Sphäre verortete, jenseits und getrennt von den Objekten. Die Kategorie des Willens erhält dadurch eine gänzlich andere Bedeutung: Das Subjekt ist nicht länger die Willensinstanz, die jenseits der empirischen Wirklichkeit ein „Gesetz überhaupt“ repräsentiert bzw. sich an den reinen Prinzipien orientiert und die Wirklichkeit nach den Gesetzen der Vernunft zu formieren sucht. Vielmehr ist bei Schopenhauer dem Subjekt selbst die Kategorie des Willens als monistische Kraft vorausgesetzt, die hinter allen Erscheinungen das An-sich der Welt bildet. Sowohl das Subjekt, wie das Objekt, alle Phänomene, ob geistiger oder materieller Art, sind nur Ausdruck eines einheitlichen Strebens. Schopenhauer knüpft hier an einen von Spinoza schon formulierten Monismus an: Eine einheitlichen Substanz – das Alleine – bringt sich gewissermaßen selbst in ihrem Wirklichwerden als automatische Bewegung zur Erscheinung. Diese Substanz stellt eine absolute Vereinheitlichung des Seins in seiner Gesamtheit dar. „Sie braucht nichts mehr außer sich selbst. Nichts, auch außer ihr, vermag etwas. … Ob dann später dieses Alleine im idealistischen oder materialistischen Sinn interpretiert werden wird, immer wird es das spinozistische Identitätsdenken sein, was den modernen Monismus beherrscht“ (Hirschberger 1980, S. 142).
Im Gegensatz zur positiven Interpretation der monistischen Substanz durch Spinoza, oder im Anschluss daran etwa auch durch Hegel, ist Schopenhauers Perspektive von einer negativen und pessimistischen Einschätzung dieses Willens geprägt, soweit er sich in der Wirklichkeit äußert und darstellt. Jede Erscheinung, in der sich der Wille als vereinzelter darstellen muss, von Schopenhauer als „principium individuationis“ bezeichnet, ist nur eine leidvolle Äußerungsform dieser einheitlichen Substanz, deren Wesen ein ewiges und rastloses Streben und Drängen sein soll. Durch die Annahme dieser monistischen Kraft, die jenseits und vor jedem Bewusstsein wirkt, hatte Schopenhauer, lange vor Freud, somit schon die Sphäre des rationalen Bewusstseins und der Vernunft mit einer unbewussten Voraussetzung unterlegt.15
Das Gegenüber von spinozistischem Monismus, auf den sich Schopenhauers Philosophie bezieht, und Kantschem Dualismus zeigt freilich nur die übergreifende Gemeinsamkeit an, die aus der Konstituiertheit durch das abstrakte Vermittlungsverhältnis im Kapitalismus resultiert. Weiter oben wurden diese beiden Momente der modernen Konstitution herausgestellt: Einerseits als der Versuch der Warenform, sich die gesamte sinnliche Wirklichkeit als objektiviertes System zu unterwerfen und jeden Gegenstand als Ausdrucksform des Werts zu setzen. Andererseits die private Form des Zugriffs auf die abstrakte Substanz dieser Allgemeinheit als Hintergrund des Verständnisses bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Die Differenz zwischen Kant und Schopenhauer (Aufklärung und Gegenaufklärung) besteht nun darin, dass bei Kant das Subjekt eine aktive Rolle in der Gestaltung der Wirklichkeit übernimmt, also das Moment der Freiheit sich als in den Formen souverän erweisen soll. Die Rationalität ist als positive gesetzt, und diese formt durch die subjektive Aktivität den jeweiligen Inhalt. Der freie Wille bezieht sich als synthetisierende Instanz auf die Wirklichkeit und ist somit das Subjekt der nach Prinzipien gestalteten Allgemeinheit. Wie im Sinne dieser Prinzipien zu verfahren sei, wird in einer das Handeln bestimmenden Moral festgelegt. Schopenhauer dagegen kritisiert die rein formale und äußerliche Struktur der Vernunft. Dabei ist die Rationalität nur ein Moment einer die ganze Welt durchdringenden Objektivität. Der Monismus seines Willens fokussiert also das Moment der alle Erscheinungen durchdringenden Allgemeinheit des Werts und zwar in einer pessimistischen Perspektive. D.h. jede Äußerung des Willens, auch und gerade auf der Ebene der Subjekte, führt zu einer ewigen wie sinnlosen Abfolge von Leiden, die in das zwecklose Hin und Her von Bedürfnissen eingelassen ist: „In der Tat gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist. … Das Streben der Materie kann daher stets nur gehemmt, nie und nimmer erfüllt und befriedigt werden. … Jedes erreichte Ziel ist wieder Anfang einer neuen Laufbahn, und so ins Unendliche“ (Schopenhauer 1892, S. 227ff.). Durch diese Formulierung eines Monismus des Willens, der alle Erscheinungen durchzieht, wird zwar das dynamische Wechselverhältnis, durch den Primär- und Sekundärprozess hindurch, außer Acht gelassen, das in der Freudschen Theorie das Subjekt-Objekt-Verhältnis vermittelt. Dafür treten aber die Konturen der jeweiligen Sphären des Triebs und der äußeren Realität deutlicher hervor. Schopenhauers Theorie der sinnlichen Erfahrung macht den ohnmächtigen und unerträglichen Standpunkt des Einzelnen gegenüber der als äußerlich erlebten Wirklichkeit plastisch. Vor diesem Zustand der extremen Fremdherrschaft und Fremdbestimmung formuliert er eine Transzendenz, die auf einen Zustand der Ruhe jenseits der sinnlich entfremdeten Erfahrung zielt.16
Diese Perspektive kommt der expliziten Intention der Todessehnsucht des männlichen Willens in der Erkenntnis der „Nichtheit“ (Messner, 1978, S. 218) des Daseins, auf die Messner hinauswollte, näher als die Freudsche Theorie. Bei dieser steht die Genese eines „gesunden“ Ichs im Zentrum seines theoretischen wie auch seines praktischen Anliegens. Das selbstbewusste bürgerliche Subjekt soll sich in reflexiver Weise zum Herrn über die irrationale Triebwelt aufschwingen. Nicht das Es soll herrschen, sondern das Ich, indem es mit den an sich destruktiven Triebansprüchen souverän umgeht.
In der Messnerschen Perspektive haben wir es im Gegensatz dazu letztlich nicht mehr mit einer auf Rationalität zielenden Hemmung und Eingrenzung der Triebenergie zu tun, sondern mit deren Mobilisierung. Der „freie“ Wille inszeniert Situationen, in denen er sich selbst in einen Nirwana-Zustand der individuellen Auflösung aufhebt.17 Dabei handelt es sich aber nur um das Extrem des bürgerlichen Normalzustandes. Im Grenzbereich Todeszone rückt das Subjekt gewissermaßen an den Rand der Entgrenzung, wo die Eingrenzungen, d.h. das Verbot der Regression und Auflösung bewusst zur Disposition stehen. Die Beschreibung und Anrufung dieser Sphäre war explizites Programm Schopenhauers.
Die Maschinerie des Erkenntnisvermögens
In Schopenhauers Ansatz reflektiert sich das rastlose Getriebe bzw. Getriebensein und die darin enthaltene Sinnlosigkeit moderner Lebensverhältnisse. Im Anschluss an die Kantsche „Kritik“ der Vernunft entwickelt er diese zu einem universellen System der subjektiven Ohnmacht weiter. Der unbewusste „Wille“ herrscht unumschränkt über alle Phänomene der Wirklichkeit, und das Subjekt ist sowohl in seiner unmittelbaren leiblichen Existenz als auch in der abgeleiteten Verstandessphäre nur Ausdrucksform dieser allmächtigen „Essenz“. Der erste Teil seines Hauptwerks „Die Welt als Wille und Vorstellung“ widmet sich zunächst, in engem Bezug zu Kant, der Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens, das gewissermaßen die äußere Schicht des dahinterliegenden absolut wirkenden Willens bildet. Ausgehend von der fundamentalen Kantschen Differenz zwischen Erscheinung und „Ding an sich“ hat die Erfahrungswelt, also die Welt, wie sie dem Menschen erscheint, einen absolut äußerlichen, künstlichen und unwirklichen Charakter. Die „Welt als Vorstellung“ ist, laut Schopenhauer, ein maschinenhaftes Theater, in der jedes mitwirkende Rädchen sich nur jeweils in vorgefertigte Bewegungen einfügen kann, die nach den unumstößlichen Regeln der Kausalität strukturiert und determiniert sind. Die „Maschinerie unseres Erkenntnisvermögens“ (Schopenhauer 1892, S. 537) führt zu einer „traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt“ (ebd.). Diese Auffassung der Kantschen „Kritik der reinen Vernunft“ als „Phantasmagorie der objektiven Welt“ (ebd.) steht natürlich in krassem Gegensatz zur Selbstlegitimation moderner wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung im Sinne von Mündigkeit des Aufklärungssubjekts erhalten hier den Charakter bloßen Scheins. Schopenhauer knüpft damit an ein Verständnis von verobjektivierter Erfahrung bei Kant selbst an. Denn dieser hatte ja schon die kausale Determiniertheit der Naturgesetzen unterliegenden Menschen als völlig fremdbestimmtes Dasein formuliert und sehr anschaulich die empirische Wirklichkeit mit einem „Bratenwender“-Mechanismus verglichen.18
Aus der Erstarrung der sinnlichen Wirklichkeit zum Gehäuse gesetzesmäßiger Notwendigkeit und Unfreiheit folgt bei Kant die empirielose Autonomie des Subjekts, d.h. die absolute Unbedingtheit des Willens von Empirie. Obwohl das Subjekt im Akt der Erkenntnissynthesis die Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit zur Erfahrung zusammensetzt und sich als ordnende Instanz dem amorphen und chaotischen Stoff gegenüber als aktiv gibt, so hat es doch immer noch eine empirische Voraussetzung. Sein Wesen, d.h. die Vernunft, die Kant mit dem Männlichen verknüpft denkt, soll aber bedingungs- und voraussetzungslos sein. Die Erfahrung unter dem mechanischen Ablauf der Naturkausalität wird von Kant zwar nicht als „Traumzustand“ und „Phantasmagorie“ formuliert. Die grundsätzliche Differenz von Erscheinung und „Ding an sich“ macht die Schopenhauersche Interpretation in dieser Richtung aber durchaus einleuchtend.
Selbstverständlich verallgemeinert auch Schopenhauer spezifische gesellschaftliche Verhältnisse zu scheinbar ontologischen Wahrheiten. Aber dennoch schreibt er nicht einfach die Aufklärung und ihre abstrakten Prinzipien fort. Anders als Kant, verbindet Schopenhauer nämlich mit der „Kritik“ der Vernunft kein positives Programm der gesetzmäßigen Formierung der Wirklichkeit, sondert wertet – wie schon angedeutet – die Welt der verstandesmäßigen Vorstellung, wie des Daseins insgesamt, als sinnlosen und nichtigen Ablauf. Schopenhauer bezieht sich auf die leere Form und den Formalismus der bürgerlichen Erkenntnisweise keineswegs emphatisch. Gemeinsam mit der Kantschen Philosophie ist allerdings die Annahme, dass der Zugang zur Wirklichkeit auf der Ebene der Verstandestätigkeit einen totalen Charakter annimmt. Insofern als Schopenhauer die „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ (Kant) als Totalität der rationalen Erfassung der Welt nimmt, steht er mit beiden Beinen auf den Schultern der Aufklärung. Die (wissenschaftliche) Erkenntnis in den abstrakten Formen wird als absolute Bedingung für das „Dasein jener ganzen Welt“ (Schopenhauer 1892, S. 66) gesetzt. Die Kritik der Aufklärung durch Schopenhauer steht auf diese Weise in affirmativer Tradition mit den Annahmen und Voraussetzungen der Aufklärung selbst: Ohne die bürgerliche Form (der Erkenntnis) gibt es keine vorgestellte Wirklichkeit. Die sinnliche Anschauung wird ähnlich wie bei Kant ganz im Horizont der abstrakten Verarbeitung durch den Verstand reflektiert: „So verwandelt der Verstand mit einem Schlage durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da“ (ebd., S. 44). Das männliche Erkenntnissubjekt erschafft erst durch seine Aktivität die Welt aus dem dunklen Chaos amorpher Stofflichkeit. Doch zugleich erstarrt die Wirklichkeit durch diese Tätigkeit des Verstandesapparats zu einem einzigen formalen Räderwerk von Kausalbeziehungen. Konsequent misst Schopenhauer diesem bloßen mechanischen Getriebe eine absolute Nichtigkeit bei. Als verobjektivierter und gesetzesförmiger Zusammenhang herrscht hier das zum nichtigen Getriebe reduzierte rein Formale. Die Bewegung im abstrakten Raum-Zeit-Gerüst ist inhalts- wie bedeutungslos. Auf dieser Ebene gibt es keine Abstufung oder Gewichtung von Ereignissen: Alles ist dem ewigen inhaltslosen wie formalen Werden unterworfen. In Schopenhauers Perspektive einer verselbständigten und darum traumhaften wie phantasmagorischen objektiven Welt spiegelt sich in mystifizierter Form das gesellschaftliche Fetischverhältnis der Warenproduktion. Die Anschauung, dass die „Welt“ nur „als Vorstellung“ existiert, hat die Verkehrung von abstrakter Allgemeinheit und Besonderem zum Hintergrund. Denn wenn alle Gegenstände nur als dingliche Hüllen einer unbewusst hergestellten Substanz gelten, so nehmen diese zwangsläufig einen unwirklichen Charakter an. Auch Guy Debord bestimmt in seiner Kritik des warenförmigen Spektakels die Phänomene als ein objektives Phantasma: „Die … betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudowelt, Gegenstand der bloßen Kontemplation. … Das Spektakel überhaupt ist, als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.“ „Das ganze Leben der Gesellschaften … alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen… (Hervorh. K. L.)“ (Debord, S. 13).
Das Schopenhauersche Maschinentheater drückt bis ins Extrem die von der Warenform hergestellte Distanz der vereinzelten Einzelnen zu ihrem als fremd und äußerlich erlebten Zusammenhang aus. Mit dem „Schleier“ und der „traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt“ benennt er durchaus zutreffend den „Mystizismus der Warenwelt“ (MEW 23, S. 90).
In der Freudschen Theorie schließlich reflektiert sich der Scheincharakter der äußerlich erlebten Welt als die Spaltung in einen Sekündär- und Primärprozess. Ersterer ist dadurch gekennzeichnet, dass die sinnlichen Gegenstände nicht als solche gelten, sondern zu bloßen Objekten der Triebbefriedigung degradiert sind. Die Gleichgültigkeit und Beliebigkeit dieser Objekte korrespondiert mit ihrem Ersatz- und damit Scheincharakter als äußere Verwirklichung des Primärvorgangs.
Wesensschau und Abspaltung
Ist der Zugang zur Wirklichkeit auf die Kriterien der formalen wie kausalen Erfahrbarkeit im abstrakten Raum und der abstrakten Zeit reduziert, so drängt sich aber das Bedürfnis, hinter das „maschinenhafte Theater“ zu blicken, immer mehr auf.19 Schopenhauer findet hinter den nur oberflächlich erscheinenden Phänomenen die monistische Kraft des Willens: Die gesamte natürliche Wirklichkeit, ob unbelebt oder belebt, ist nur Durchgangsstadium dieser ewig wirkenden Kraft, welche „rein an sich betrachtet, erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Teil unseres eigenen Lebens erscheinen sehen“ (Schopenhauer 1892, S. 359). Der Wille ist dabei, laut Schopenhauer, gleichbedeutend mit dem „Ding an sich“, das Kant für unerkennbar hielt. Er ist das Wesen aller Dinge, liegt allen Erscheinungen zu Grunde und äußert sich für die Einzelnen in ihrer konkreten Leiblichkeit. Der menschliche Körper ist nach Schopenhauer nur ein Moment dieses alleinigen Willens. Dieser ist auch dem Bewusstsein und der Vernunft vorgelagert, ja das bewusste Ich ist selbst nur Ausdruck eines unbewusst wirkenden Strebens und Drängens. Im Gegensatz zu Kant und der Aufklärung blendet Schopenhauer damit nicht die eigenen (irrationalen) Voraussetzungen der Vernunft aus, sondern versucht im „Ding an sich“ das Ganze aller Phänomene zu bestimmen.20 In dieser Subsumtion der gesamten Wirklichkeit unter die totalisierende Einheit des Willens ist allerdings keine freie Praxis für die Subjekte mehr möglich. Die im Körper sich äußernde monistische Kraft spitzt den bei Kant angelegten Determinismus noch weiter zu. Der Wille bei Schopenhauer ist im Gegensatz zu Kant nicht als „Freiheit“ formuliert, sondern vielmehr selbst eine auf das Subjekt einwirkende Kraft, über die es nicht verfügt. Die einzige Lösung ist daher der Rückzug vom Sinnlichen in einen jenseitigen und metaphysischen Bereich. Über das Subjekt der Erkenntnis und der Selbsterfahrung der Leiblichkeit herrscht der alles durchdringende Wille, dem innerhalb der weltlichen Erfahrung nicht zu entrinnen ist. Dies unterscheidet Schopenhauer im Wesentlichen auch von Freud: Dort soll das Ich souverän mit den Triebansprüchen aus dem Es umgehen, der berühmte Reiter soll die Kräfte des Pferdes zügeln, so dass die Vernunft Sieger bleibt. Schopenhauers Lösung dagegen liegt jenseits des abstrakten Verstandes und der Körperlichkeit im Metaphysischen, dort wo Ruhe und Reinheit der unwandelbaren Ideen herrschen:
„Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren lässt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander … nachzugehen; auch nicht das abstrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewusstsein einnehmen lässt; sondern … die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewusstsein ausfüllen lässt durch die ruhige Kontemplation…; sich gänzlich in diesem Gegenstand verliert … dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die Idee, der ewigen Form … und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis“ (ebd., S. 244).
Die Wesensschau der Ideen führt in eine andere und „freie“ Welt, in der die Menschen „für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt“ sind und den „Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens“ (ebd., S. 266) feiern. In solchem Tun „erfüllt ihn das Gefühl des Erhabenen. … Bei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewusstes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen, durch ein freies, von Bewusstsein begleitetes Erheben über den Willen und die auf ihn sich beziehende Erkenntnis“ (ebd., S. 272).21
Schopenhauers Suche nach einem Jenseits des nicht endenden Willensstromes führt in eine weltabgewandte Sphäre der unwandelbaren Ideen.
Damit sind gewissermaßen auch die beiden Pole in der Freudschen Theorie vorweggenommen: die primäre Ebene als der Nirwana-Zustand jenseits der sekundären Ebene der äußeren Objekte. Bei Freud sind jedoch – wie schon erwähnt – die beiden Pole nicht unvermittelt nebeneinander gesetzt, sondern in einer widersprüchlichen Dynamik zirkulär aufeinander bezogen. Aus der Urverdrängung, d.h. aus dem Verbot der Regression und des Zerfalls, folgt die Struktur der Triebhaftigkeit als „prozessierende Substanz“ (Bösch 2000, S. 110). Diese Verdrängungsleistung erzeugt durch die Hemmung des Triebvorgangs und den „Verbrauch“ von Ersatzobjekten erst einen „konstanten Objektbezug“ des Subjekts und damit eine „Subjektkonstanz“ (ebd.). Im Gegensatz dazu ist bei Schopenhauer das Subjekt nicht mit der Objektwelt vermittelt, d.h. das Ich resultiert nicht aus der inneren Spannung zwischen Trieb und äußerer Realität. Vielmehr spitzt sich hier die Erfahrung der Trennung von der erstarrten Objektivität insofern zu, als die Fixierung auf das Nirwana-Jenseits offen wird.
Diese Lösung ist deswegen so paradox, weil die Unterwerfung unter den Willen und die damit verbundene Vereinzelung, das „principium individuationis“, gerade durch eine noch größere Trennung aufgehoben werden soll. Das Abgetrenntsein der Einzelnen von den Dingen selbst in einer verstandesmäßigen Traumwelt der Objektivitäten soll aufgehoben werden durch eine Art Verschmelzung mit einem hinter den Gegenständen liegenden Wesen. Die Eintrittskarte zu dieser Vereinigung wird aber wiederum von etwas Abstraktem geliefert: der „Kraft des Geistes“.
Hier drückt sich eine verbreitete Methode bürgerlichen Denkens aus: die Verknüpfung von Abstraktion und Schein-Konkretheit. Das abstrakt Metaphysische der sinnenabgewandten Kontemplation wird mit einer höchsten Glückserfahrung verkoppelt. Das „Zerfließen ins Nichts“ (Schopenhauer 1892, S. 526), die „Selbstaufhebung“ und das „Nirwana“ ist ein Zustand größter „Heiterkeit“ und „Zuversicht“. Diese Struktur der Verbindung von höchster Abstraktion in einem welt- und sinnenentrückten Zustand und des gleichzeitigen Glücksversprechens ist nicht nur für die Schopenhauersche Kritik an Kant oder die Gegenaufklärung insgesamt kennzeichnend, sondern schon für das Original selbst: Bei Kant ist es beispielsweise ein „Gefühl a priori“, das den „freien Willen“ in das Reich des „Erhabenen“ begleitet. Bei Carl Schmitt reproduziert sich dieses Muster: der dezisionistische Willensakt hat den Charakter einer Wundererscheinung.22 Im Grunde haben wir es aber hier mit der Quintessenz einer noch älteren „Ideologie“ zu tun: der christlichen bzw. monotheistischen Religion. Gott ist sowohl das Abstrakteste als auch das größte Glück. Auch Schopenhauer weist auf diese Wurzel explizit hin: „Die Gnade symbolisiert die Verneinung des Willens, die Erlösung, im menschgewordenen Gotte, der, als frei von aller Sündhaftigkeit, d.h. von allem Lebenswillen, auch nicht, wie wir, aus der entschiedensten Bejahung des Willens hervorgegangen sein kann, noch wie wir einen Leib haben kann, der durch und durch nur konkreter Wille, Erscheinung des Willens, ist; sondern von der reinen Jungfrau geboren, auch nur einen Scheinleib hat. … Wirklich ist die Lehre von der Erbsünde (Bejahung des Willens) und von der Erlösung (Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christentums ausmacht“ (ebd., S. 519).
In dem Maße, wie diese Abstraktion vom Himmel der Ideen herabsteigt und als Realabstraktion des Werts die Gesellschaft durchdringt ist dieser „Gott“ nicht mehr nur eine äußerliche, von der konkreten Praxis der Menschen getrennte Instanz, sondern geht durch diese Praxis hindurch und ist deren konstitutive Voraussetzung. Damit wird aber auch das Moment der Verachtung für alles Sinnliche, das christliche Muster der „Erbsünde“, dessen Rückseite die der Jungfrau Maria symbolisch zugeschriebene Reinheit ist, im gesellschaftlichen Gesamtmaßstab virulent. Als Projektionsfläche für diese Abwertung der leiblich-sinnlichen Welt dienten insbesondere Frauen, Menschen jüdischen Glaubens und Nicht-Weiße. Sich in wahrer Autonomie über die sinnliche Wirklichkeit zu erheben, zu diesem ausgesprochen männlichen Willensakt waren schwächliche und der Natur verhaftete Kreaturen eben nicht geeignet.
Die „Kraft des Geistes“, der sich „bewusst“, also selber als „Wille“, vom Weltlichen lossagt, ja „losreißt“, transportiert eine geschlechtliche, antisemitische und rassistische Hierarchie. Aus dieser folgt in der Moderne ein wirklichkeitsmächtiges Stereotyp. Wovon dieser Wille sich aber loszureißen versucht, ist die eigene entfremdete Wirklichkeit einer erstarrten Objektivität, der die Einzelnen ohnmächtig gegenüberstehen. Die besondere Frauenverachtung eines Schopenhauer speist sich deshalb auch wesentlich aus der von ihm selbst formulierten Ohnmacht gegenüber dem Leiblich-Sinnlichen, das er in einem gewaltförmigen Akt überwinden will. Der männlich-autonome Wille formt nicht mehr, wie noch bei Kant und der Aufklärung, das sinnliche Material im Sinne seiner Prinzipien, sondern wendet sich von allem Sinnlichen mit Verachtung ab. Der „erhabene Charakter“ ist derjenige, der jenseits der sinnlichen Äußerungen des Willens steht und sich nicht, wie bei Kant, von diesen „verunreinigen“ lässt. Die Ohnmacht gegenüber der zur bloßen Mechanik verobjektivierten Wirklichkeit korrespondiert mit den Allmachtphantasien der Subjektmonade. Da die Außenwelt, einschließlich der eigenen Leiblichkeit, sich als völlig versagende Realität einer Mega-Maschinerie erwiesen hat, bleibt keine andere Wahl: Die „Unfähigkeit zur Befriedigung unserer Bedürfnisse gegen die Außenwelt“ (Freud 2000, Bd. II, S. 540) führt – so kann man mit der Freudschen Terminologie sagen – im Extremfall zur Aufgabe dieser Außenwelt und zur Flucht nach Innen. Die „Realitätsprüfung“ (Freud) hat gewissermaßen die Handlungsunfähigkeit des Subjekts ergeben, so dass die Ablenkung der narzisstischen Triebenergie hin zu den äußeren Objekten obsolet geworden ist. Nicht länger wird durch die Hinwendung und den aktiven „Verbrauch“ von Ersatzobjekten ein „konstanter Objektbezug“ des Subjekts und damit eine „Subjektkonstanz“ generiert. Die total gewordene Ohnmacht gegenüber der Objektwelt kippt in das Gefühl des Alleinen des Narzissmus, inklusive der völligen Verachtung der sinnlichen Wirklichkeit. Heidemarie Bennent hat in ihrem Buch „Galanterie und Verachtung“ wichtige Aspekte des mit dieser Logik verbundenen Frauenhasses bei Schopenhauer herausgestellt:
„Gerade in der Geschlechterliebe wird das Individuum mit seinen vernunftgelenkten Interessen dem Gattungszweck unterworfen, die Geschlechtsliebe ist ‚ein feindsäliger Dämon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist‘ (Schopenhauer (SW), Bd. 3, S. 611).23 Die Gattung degradiert den Einzelnen zum Spielball ihrer Absichten, die auf die Zeugung einer möglichst kräftigen und lebenstüchtigen Brut gehen. … Die Frauen werden als Repräsentantinnen der Gattung angesehen, denen es gelingt, aufgrund vergänglicher Schönheit den Mann in den Bann zu schlagen und für die Zwecke der Natur zu ködern. Sie verführen ihn so selbst zur Eheschließung, worin ihm seine natürliche Gebundenheit dauerhaft fühlbar wird. Die massive Bedrohung der soliden Existenz des Mannes, die Schopenhauer von den Frauen ausgehen sieht, klingt in seiner wenig schmeichelhaften Schrift ‚Ueber die Weiber‘ nachhaltig durch. … Angesichts eines Naturverständnisses, das dumpfen Überlebensdrang in völliger Vernunftferne und Amoralität beinhaltet, fehlt jede Glorifizierung der dem Natürlichen zugerechneten Weiblichkeit. In den Frauen, die als ‚der Verderb der modernen Gesellschaft‘ bezeichnet werden (Schopenhauer (SW), Bd. 6 §378, S. 650), personifizieren sich alle die Gefahren, die den nach Gleichmut und Weitsicht strebenden Bürgersmann aus seiner Bahn schleudern, um ihn so schließlich vor den Ruin zu führen. Frauen sind leichtfertig, vergnügungssüchtig, verschwenderisch, verschlagen, liebeshungrig, vernunftschwach, ausbeuterisch, äffisch, kokett, ja selbst diebisch und meineidisch (siehe insges.: Schopenhauer (SW), Bd. 6, S. 649 ff.). Schopenhauer schildert mit gnadenloser Geringschätzung gewisse, an den Frauen wahrzunehmende, inhumane Züge wie Konkurrenzverhalten, materieller Ehrgeiz, Arroganz gegenüber Untergebenen etc., Züge, die er jedoch verallgemeinernd ins Naturwesen der Frau projiziert“ (Bennent 1985, S.192f.).
Wie Bennent deutlich macht, wird dem Weiblichen projektiv das Niedere als Gegenbild des Erhabenen zugeordnet. Dass das Männliche, „der Mensch“ auch mit dem Leiblich-Stofflichen behaftet ist, macht die Sache für das Weibliche nicht besser, im Gegenteil:
„Wie der Mensch zugleich ungestümer und finsterer Drang des Wollens (bezeichnet durch den Pol der Genitalien als seinen Brennpunkt) und ewiges, freies, heiteres Subjekt des reinen Erkennens (bezeichnet durch den Pol des Gehirns) ist; so ist, diesem Gegensatz entsprechend, die Sonne zugleich Quelle des Lichtes, der Bedingung zur vollkommensten Erkenntnisart, und eben dadurch des erfreulichsten der Dinge, – und Quelle der Wärme, der ersten Bedingung des Lebens“ (Schopenhauer 1892, S. 273f.).
Das gegenpolige Motiv von Sonne und Finsternis ist hier eine sexistische wie rassistische Metapher für sinnliche Verhaftetheit und Erhabenheit des männlichen Subjekts darüber. Gleichzeitig wird die Voraussetzung umgedreht: Nicht länger ist der im Leiblichen sich äußernde Wille die Bedingung für die verstandesmäßige Erkenntnis, sondern durch die Erhebung in die Sphäre der reinen Ideen wird die Sonne der Erkenntnis zur wärmenden Voraussetzung des Lebens! Das Männliche wird selbst schöpferisch und der Urgrund des Daseins. Die Ohnmacht der Unterwerfung unter die Objektivitäten des Willens verkehrt sich in einen allmächtigen Zustand: „Zugleich erhebt sich … das unmittelbare Bewusstsein, dass alle diese Welten ja nur in unserer Vorstellung da sind, nur als Modifikation des ewigen Subjekts des reinen Erkennens, als welches wir uns finden, sobald wir die Individualität vergessen, und welches der notwendige, der bedingende Träger aller Welten und aller Zeiten ist. Die Größe der Welt, die uns vorher beunruhigte, ruht jetzt in uns: unsere Abhängigkeit von ihr wird aufgehoben durch ihre Abhängigkeit von uns“ (ebd., S. 277).
Der Wahnwitz und die Irrationalität dieser männlichen Logik ist offensichtlich. Gerade angesichts des ohnmächtigen Verhältnisses verfällt das Subjekt in eine irreale Wirklichkeitswahrnehmung allmächtiger Potenz: Es phantasiert sich selbst zur Bedingung allen Seins.
Das Männliche bewährt sich in der Konfrontation mit der „Größe der Welt“. Indem es sich der Nichtigkeit der Erscheinungen aussetzt, erhebt es sich gleichzeitig zur Wesenheit der Welt: „Das Gefühl des Erhabenen entsteht hier durch das Innewerden des verschwindenden Nichts unseres eigenen Leibes vor einer Größe, die andererseits selbst wieder nur in unserer Vorstellung liegt und deren Träger wir als erkennendes Subjekt sind, also … durch den Kontrast der Unbedeutsamkeit und Abhängigkeit unseres Selbst als Individuums, als Willenserscheinung, gegen das Bewusstsein unserer als reinen Subjekts des Erkennens“ (ebd., S. 277f.). Die gesellschaftlich konstituierte Trennung und „Nichtigkeit“ verkehrt sich gerade durch das Sich-selbst-Konfrontieren zu einem wärmenden Gefühl von Einheit und Transzendenz im „Alleinen“.
Schopenhauer dringt also – wie die bürgerliche Philosophie überhaupt – nicht zur Erkenntnis der realmetaphysischen Gesellschaftlichkeit vor; er bringt die Verhältnisse nicht zum Tanzen, indem er ihnen den Spiegel vorhält, sondern mystifiziert sie im Gegenteil in seinen metaphysischen Begrifflichkeiten. Eine Aufhebung der schlechten Wirklichkeit kann so nicht einmal gedacht werden, vielmehr wird diese trotz allen Pessimismus und aller scheinbaren Kritik letztlich legitimiert. So negiert Schopenhauer zwar den Willen in seinen sinnlich-leiblichen Äußerungsformen, bejaht ihn aber, indem die metaphysische Vereinigung mit ihm als „Erlösung“ präsentiert wird. Aus der Einsicht in die Determiniertheit des Subjekts folgt bei ihm nur der geschlechtshierarchisch und rassistisch eingeschriebene Rückzug in eine metaphysische Sphäre absoluter Weltferne. In Schopenhauers Philosophie zeigt sich exemplarisch, dass in der Logik der isolierten „Freiheit“ die Verachtung der sinnlichen Wirklichkeit, personifiziert im Weiblichen, angelegt ist. Indem die aufklärungs-“kritische“ Subjektphilosophie, die eigene Ohnmacht thematisiert und in Reaktion darauf eine Abkehr von der Rationalität vollzieht, bringt sie zugleich eine extreme Frauenfeindlichkeit hervor. Die Gewalt, die darin steckt, sich mit dem eigenen Ausgeliefertsein an die verobjektivierten Verhältnisse zu identifizieren, wird in einer Projektionsbewegung auf die Frauen veräußerlicht. Das Subjekt fühlt sich nur im Gefühl einer die rationale Verobjektivierung transzendierenden Verschmelzung mit einem imaginierten „Alleinen“ „erlöst“, und in dieser Abkehr von der wesentlich in den Frauen personifizierten sinnlichen Wirklichkeit ist auch der Wunsch nach deren Vernichtung und völligen Auslöschung impliziert.
Im „Normalbetrieb“ der bürgerlichen Verhältnisse, in dem das Subjekt sich aktiv auf die äußeren Objekte bezieht, kommt die offene Verachtung des Sinnlichen in der Regel nicht zum Ausdruck, wenngleich auch er seine zerstörerischen Potenzen entfaltet. Freud fasst beispielsweise die gesellschaftliche Arbeit als positiv und konstruktiv, wenn „man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur(!) übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann am Glück aller“ (Freud 1994, S. 44). In dieser Formulierung wird schon der gewaltvolle und herrschaftliche Charakter des bürgerlichen Normalbetriebs sichtbar, der aber dennoch von der offenen Destruktion zu unterscheiden ist. Da das Subjekt hier eine aktive Rolle zu spielen meint, und dies tatsächlich in gewissen Grenzen auch tut, drückt sich auch die Abwertung des Sinnlichen bzw. Weiblichen eher in der hierarchischen Geschlechterstruktur als mit offenem Hass aus. Das weibliche Objekt ist für die Vergegenständlichung des Triebs nötig, woraus zwar eine inferiore Stellung resultiert, aber nicht die Tendenz der Auslöschung. Es ist sozusagen die „normale“ Struktur der geschlechtlichen Abspaltung, im Gegensatz zu ihrem Extrem. Der Buchtitel „Galanterie und Verachtung“ von Heidemarie Bennent bringt genau diesen Unterschied zum Ausdruck: entweder Anerkennung auf herabgewürdigtem Niveau – galant ist die Haltung des Mannes zur unselbständigen Frau – oder Verachtung bis hin zur Vernichtung.
Verneinung des Willens
Da laut Schopenhauer alle empirische Erfahrung und alle sinnlichen Erscheinungen durch den Willen bestimmt sind, führt der Weg zur „Erlösung“ nur über die Negation aller seiner Äußerungsformen. Denn das Leiden an und in der Welt resultiert ja aus dem „principium individuationis“, also der Darstellung des Willens in den unzähligen und voneinander getrennten „Objektitäten“ aus denen sich die erfahrbare Wirklichkeit zusammensetzt. Der Wille als solcher ist freilich nicht aufhebbar, denn er wirkt ja als ontologisches Prinzip überall. Deshalb bleibt nur die Identifikation mit ihm. Im Zentrum dieses Prinzips herrscht absolute Ruhe; wer dorthin gelangt, befindet sich jenseits allen Drängens und Getriebenseins und verschmilzt mit dem Weltganzen. Der Weg dorthin führt über die Verneinung des äußeren Daseins im Erkenntnisakt der großen Ideen. Die Kritik an der modernen Gesellschaftlichkeit besteht also darin, tabula rasa mit allen Erscheinungen zu machen, die den empirischen Gesetzen unterworfen sind. Dies bedeutet für den Menschen, sich zuallererst verneinend mit seiner spezifischen und ihm zugänglichen Erscheinungsform des Willens zu konfrontieren, dem Leben und speziell seinem Leib: „Er erkennt das Ganze, fasst das Wesen desselben auf, und findet es in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerem Widerstreit und beständigem Leiden begriffen, sieht wohin er auch blickt, die leidenden Menschheit und die leidende Tierheit und eine hinschwindende Welt. … Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab“ (Schopenhauer 1892, S. 489).
Da die leibliche Existenz gleichzeitig eine Bejahung des Willens bedeutet, ergibt sich dessen Verneinung durch eine Verneinung des physischen Daseins in spezifischer Weise: nicht etwa durch Selbstmord, denn dies wäre nur eine Verlagerung bzw. eine Bestätigung des Willens, ein Kurzschluss gewissermaßen, der dem Leiden nur ausweichen wollte. Die Verneinung muss sich vielmehr in einer ausdrücklichen Bejahung des Leids vollziehen. Nur das Einverständnis mit dem unentrinnbaren und deshalb schicksalhaften Leiden (Nietzsches amor fati!) oder gar die bewusste Herbeiführung des Leids führt zur „Mortifikation des Willens“ (ebd., S. 489). Erst im asketischen Kampf gegen den im Leib und im Leben sich äußernden Willen kommt bei Schopenhauer der wahrhaft „freie“ Wille zum Ausdruck, der den Einzelnen über die schlechte Wirklichkeit erhebt: „Er verleugnet daher eben dieses in ihm erscheinende und schon durch seinen Leib ausgedrückte Wesen. … Wesentlich nichts Anderes, als Erscheinung des Willens, hört er auf, irgendetwas zu wollen, hütet sich seinen Willen an irgendetwas zu hängen, sucht die größte Gleichgültigkeit gegen alle Dinge in sich zu befestigen. … Sie (die Askese) verneint dadurch die über das individuelle Leben hinausgehende Bejahung des Willens und gibt damit die Anzeige, dass mit dem Leben dieses Leibes auch der Wille … sich aufhebt“ (ebd., S. 488).
Schopenhauer meint, dass nicht der Welteroberer, sondern vielmehr der Weltüberwinder, der „jenen Alles erfüllenden und in Allem treibenden und strebsamen Willen zum Leben aufgibt und verneint“ (ebd., S. 495), erst wirklich die „Freiheit“ und das „Nirwana“ gewinnt. „So zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens … statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung … jener Friede der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit…: nur die Erkenntnis ist geblieben, der Wille ist verschwunden“ (ebd., S. 527).
Schopenhauer tritt hier unumschränkt für eine in christlicher Tradition stehende Leidensethik ein, die auf der Verachtung alles Körperlichen beruht und den Sinn des Lebens darin sieht, das Kreuz auf sich zu nehmen.24 Das religiöse Erbe der modernen Vernunft, in deren Horizont letztlich auch Schopenhauer steht, ist überdeutlich. Die Kritik der Aufklärung steht hier allerdings in ungebrochener Tradition zu dieser selbst. Denn hinter Kants „Gefühl a priori“, d.h. der „Triebfeder“ des kategorischen Imperativs, verbirgt sich nichts anderes als der Masochismus moderner Abstraktion: In der Niederschlagung sinnlicher Bedürfnisse hatte sich schon das Kantische Gefühl geübt und damit den Weg zum Reich der Prinzipien geöffnet. Bei Schopenhauer geht es nun ebenso um die Abwendung von der sinnlichen Wirklichkeit: Gerade in einem Jenseits der wahren und sinnenfreien Erkenntnis kommt das Ich zu sich und ist nur dort wahrhaft frei.
Es ist alles andere als Zufall, dass auf dem Weg zu dieser Freiheit auch die christliche Ethik des Arbeitsleids zu finden ist: „Wir können nicht umhin, jedes Leiden, sowohl das selbstgefühlte wie das fremde, als eine wenigstens mögliche Annäherung zur Tugend und Heiligkeit, hingegen Genüsse und weltliche Befriedigung als Entfernung davon anzusehen. Dies geht so weit, dass jeder Mensch, der ein großes körperliches Leiden, oder ein schweres geistiges trägt, ja sogar jeder, der nur eine die größte Anstrengung erfordernde körperliche Arbeit im Schweiß seines Angesichts und mit sichtbarer Erschöpfung verrichtet, dies alles aber mit Geduld und ohne Murren, dass, sage ich, jeder solcher Mensch … uns gleichsam vorkommt wie ein Kranker, der eine schmerzhafte Kur anwendet, den durch sie verursachten Schmerz aber willig und sogar mit Befriedigung erträgt, indem er weiß, dass je mehr er leidet, desto mehr auch der Krankheitsstoff zerstört wird und daher der gegenwärtige Schmerz das Maß seiner Heilung ist“ (ebd., S. 509).
Durch die Qual „im Schweiße seines Angesichts“ trägt das männliche Arbeitssubjekt die Schuld seiner begrenzten irdischen Existenz ab. Es wird hier noch einmal deutlich, wie stark die moderne Gesellschaft, ganz in der Kontinuität der christlich-abendländischen Tradition, konstitutiv auf der Erzeugung von Leiden beruht. Daraus erklärt sich auch, weshalb dessen projektive Verarbeitung in der Konstruktion einer willensschwachen und verachtenswerten Weiblichkeit als Gegenbild zum heroisch sich selbst kasteienden Mann stets virulent und gleichzeitig prekär bleibt.
Angesichts der zunehmenden sozial-ökonomischen Verwerfungen besinnt sich der ach so liberale Aufklärungsverstand zunehmend auf diese Wurzeln. Angesichts der verheerenden Folgen der Flutkatastrophe im Indischen Ozean hat beispielsweise die Zeit das menschliche Existential des Leidens wieder entdeckt. In Verbindung mit der vom Westen immer stärker betonten christlich-abendländischen Tradition braut sich hier eine ziemlich ungemütliche ideologische Gemengelage zusammen. Nach dem Ende der „Spaßgesellschaft“ scheint die Ideologisierung der Leidensfähigkeit eine veritable Zukunftsperspektive zu haben. Angesichts der zunehmenden Risiken auf allen Ebenen sind zunehmend populistische Entsicherungs- und Leidensideologen gefragt, beispielsweise vom Schlage eines Reinhold Messner. Dieser veranstaltet seit Jahren schon Überlebenstage für risikofreudige Manager, in denen das männlich-grandiose Gefühl kultiviert wird, wieder einmal überlebt zu haben. Dies zählt wohl, angesichts des ökonomischen Krisenpotentials in den Unternehmen, mittlerweile zur emotionalen Grundausstattung in den Vorstandsetagen. Auch in der Wirtschaftswoche ist Messner mittlerweile als Risiko-Experte geschätzt. Was die ökonomische Entwicklung in den Metropolen vor allem behindere sei die lästige „Unsicherheitsvermeidung“, ließ er dort verlauten (Wirtschaftswoche 53/2004, S. 117): „Noch immer legt der Staat an vielen Stellen schützend seine Hand über seine Bürger“ (ebd.). Als Praktiker der Grenzgänge kann Messner dagegen als anschauliches Beispiel für die sich verallgemeinernde wirtschaftliche und soziale Entsicherung dienen: „Scheitern heißt, vor der Lebensgefahr zurückzuschrecken. Ich lerne, wenn ich gescheitert bin und nicht, wenn ich Erfolg habe. Nach den erfolgreichen Momenten wissen wir nicht, warum wir Erfolg hatten“ (ebd., S. 123).
Die Verwirklichung des Willens: Kant, Schopenhauer, Messner
Die Haltung Messners, seine Sucht nach Grenz-Expeditionen, ist keinesfalls nur ein Auswuchs extremer Individualisierung oder gar jenseits bürgerlicher Vernunft. Vielmehr bringt – wie oben ausgeführt – das Streben nach der Aufhebung des sinnlichen Daseins, die „Erkenntnis dieser Nichtheit“ (Messner, S. 218), eine übergreifende psychische Struktur bürgerlicher Subjektivität zum Ausdruck. Die Popularität und die ungebrochene Faszination für Messners Grenzgänge in die Todeszone sind alles andere als zufällig. Die bewusst wie zwanghaft herbeigeführte Konfrontation mit dem eigenen Tod, das Sich-Erleben-Wollen-und-Müssen im Sterben, der Kick, an den Rand der eigenen Existenz zu gelangen, verweist, dies dürfte bisher deutlich geworden sein, auf die innerliche Leere des männlichen Ichs und auf seine Distanz zu sozialen und sinnlichen Bezügen. Es ist schon eine auffällige Merkwürdigkeit, dass sich die „Lebenserkenntnis“ diesem Bewusstsein „vom eigenen Ende, vom eigenen Tode“ her aufdrängt.
Der Anspruch des Subjekts auf unbedingte Autonomie, nach Kant der Inbegriff menschlicher Würde, kennt im Grunde nur zwei Zustände: das Ohnmachtsgefühl angesichts der Fremdbestimmtheit der eigenen Existenz und die Allmachtsphantasien, d.h. die Illusion der absoluten individuellen Freiheit, Unabhängigkeit und Unbedingtheit. Die Grenzerfahrung des Todes erweist sich als Selbstermächtigung des Willens. Im versuchten Ausbruch aus der ohnmächtigen Situation der verobjektivierten Enge des Alltags und durch die Todesgefahr hindurch soll die Macht über sich selbst wiedergewonnen werden. Erst und gerade im Angesicht des Todes bestätigt sich die Autonomie des Willens. In der aktiven Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben versucht das abstrakte Selbst sich seiner zu versichern, indem es sich scheinbar jenseits der eigenen sinnlichen und sozialen Bedingungen setzt: „Später erst, als ich selbst schon alle Kontinente bereist hatte, ahnte ich, dass das Abenteuer nicht in fernen Ländern und nicht in Gipfelhöhen besteht, sondern einzig und allein in der Bereitschaft, den häuslichen Herd gegen eine ungewisse Lagerstätte zu vertauschen“ (Messner 1989, S. 30). „Heute noch kann ich auf jeden Berg klettern, wochenlang marschieren und im Notfall einen Mann mit bloßer Faust erschlagen. … Für eines fehlt mir heute wie damals die Ausdauer: mich ein für allemal der Obhut eines Sozialstaates anzuvertrauen. … So wurde ich süchtig nach diesen intensiven Erlebnissen am Berg, und ich habe gelernt, mich einzuschränken, um weiterzukommen. In der Freiheit gibt es den Verzicht, aber keine Grenzen“ (ebd., S. 35).
In der Erfahrungswelt des Reinhold Messner liegen für den Krisen-, Risiko- und Entsicherungsdiskurs alle ideologischen Versatzstücke schon parat, inklusive der liberalen Aversion gegen die soziale Sicherung. Die Bewegung hin zur Individualisierung wurde auch durch die Verallgemeinerung eines Diskurses von Unsicherheiten und Risiken flankiert. Unter der Bedingung sich zuspitzender materieller Risiken kann für das Flexi-Subjekt die Freiheit notfalls nur im Verzicht liegen. Dafür gibt es von der christlichen Leidensethik, über die Aufklärung bis hin zu Schopenhauer und der Gegenaufklärung eine lange Traditionslinie. Messner ist die individualisierte Karikatur des Entsicherungssubjekts: „Mir ging es … nicht um eine Eroberung draußen, sondern um eine Erfahrung in mir drinnen, um die Grenze meiner Fähigkeiten, um mein Begrenztsein. Ich ging wiederholt ‚bis ans Ende der Welt‘, um das Ende meiner Kraft, Angst, Leidensfähigkeit zu erfahren“ (Messner 1990, S. 7). Hier macht sich eine männlich-subjektive Tendenz geltend, die nicht mehr aktiv auf ein „Durcharbeiten der Objektivität“, wie man in Anlehnung an eine Hegelsche Terminologie sagen könnte, zielt, sondern das Subjekt situiert sich jenseits des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in einem Bereich „sinnlicher“ Tiefe.25 Nichts klingt heute unverständlicher, als die Forderung, die noch Freud stellte, nach einer reflexiven Subjektivität, die die „Affektentwicklung durch die Denkarbeit auf ein Mindestes … einzuschränken“ (Freud 2000, Bd. II, S. 572) hat. Der Bezug auf ein „Außen“ ist out und die Erfahrung in einem „Drinnen“ ist in. Hier wird auch deutlich, dass wir es auch mit einer Transformation der Geschlechterbilder zu tun haben. Denn der Mann steht nicht mehr nur für die Bereiche des Rationalen und Vernünftigen, sondern ebenso auch für das Affektive. Das hat aber rein gar nichts mit einer emanzipativen Aufhebung der modernen Geschlechterhierarchie zu tun. Vielmehr versucht das männliche Subjekt die ursprünglich dem Weiblichen zugeordnete Affektivität zu integrieren, indem diese mit typisch männlichen Attributen besetzt wird. Messner macht deutlich, dass es um eine Erfahrung und ein inneres Gefühl geht, das mit absoluter Stärke und Macht über seinen eigenen Körper verbunden ist. Auch steht nicht die selbstlose Sorge für andere im Mittelpunkt, wie es weibliche Stereotype fordern, sondern eine selbsthafte Sorge um sich. Das Affektive ist zentriert auf das autonome, von anderen separierte Erleben. Diese modifizierte männliche Subjektivität stellt eine spezifische Aneignung des Weiblichen dar, die das ehemals weiblich konnotierte Erleben mit dem männlichen Autonomiestreben verbindet.26
Diese Tendenz verweist indes auf eine grundsätzlichere Entwicklung. Im Freudschen System korreliert die Quantität der inneren Erregung, die nach Spannungsabfuhr verlangt, mit den äußeren, zur Verfügung stehenden Objekten, an denen sich diese Bedürfniserregung abbauen kann. Das äußere Objekt muss also dem inneren Befriedigungswunsch entsprechen. Messners Grenzbereich Todeszone sowie die positiv besetzte Verallgemeinerung des Risikos machen auf eine Veränderung der inneren Bedürftigkeit aufmerksam. Dem dialektischen Zirkel entsprechend, dass der empfundene Reiz, der nach Abfuhr und Ausgleich verlangt, seine Voraussetzung in der „versagenden Realität“ hat, bedeutet dann nichts anderes, als dass diese Objektivität immer weniger zu ertragen ist. Die Suche nach immer neuen, immer abwegigeren Objekten der Lust hängt somit direkt von der zunehmenden Fremdheit der warenförmigen Verhältnisse sowie der ins Extrem getriebenen Isolation der Einzelnen ab. Als Endpunkt bleibt nur die direkte Rückwendung in die eigene Innerlichkeit, ohne den Surrogatcharakter der Objektbeziehungen. Wenn aber die Außenwelt, einschließlich der eigenen Körperlichkeit, unfähig wird, Befriedigung zu stiften, so sind wir schließlich bei Schopenhauer angelangt: Der sekundäre Narzissmus transformiert sich in Nihilismus. Das Subjekt bezieht sich nun nicht mehr denkend und handelnd auf die äußere Objektwelt, die es zugleich als Ergebnis der Hemmung und Ablenkung der Triebenergie hervorbringt. Die „pathologische Verstärkung der unbewussten Erregung“ (Freud 2000, Bd. II, S. 541) ist nicht mehr in „konstruktive“ Bahnen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu lenken.
Die mit diesem nihilistischen Willens verbundene Haltung vermischt sich mit dem oben angesprochenen protestantischen Leidensethos, das die Menschen dazu treibt, bewusst an die Grenze ihrer körperlichen Leistungs- und damit auch Leidensfähigkeit zu gehen. Messner ist ein extremes Beispiel für die Verallgemeinerung dieses erzkapitalistischen Ethos und lässt zugleich erkennen, worauf es letztlich hinausläuft: auf die Erkenntnis der „Nichtheit“ (Messner, 1978, S. 218) des Daseins oder das Gewahrwerden seiner selbst als „verschwindendes Nichts“. Schopenhauer hatte schon als Zielpunkt der männlichen Freiheit das „Nichts“ angegeben inklusive konkreter Hinweise, wie es zu erreichen sei: Im Kampf mit den Naturkräften empfindet der Mensch „sich zugleich als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung, die der geringste Schlag jener Kräfte zertrümmern kann, hilflos gegen die gewaltige Natur, abhängig, dem Zufall Preis gegeben, ein verschwindendes Nichts, ungeheuren Mächten gegenüber; und dabei nun zugleich ein ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens … es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen frei und fremd allem Wollen und allen Nöten. Es ist der volle Eindruck des Erhabenen… Manche Gegenstände … erregen den Eindruck des Erhabenen dadurch, dass … wir ihnen gegenüber uns zu Nichts verkleinert fühlen und dennoch im Genusse ihres Anblicks schwelgen: der Art sind sehr hohe Berge…“ (Schopenhauer, S. 278).
Der Alpinismus ist also gewissermaßen ein Sinnbild der Subjekt-Objekt-Struktur. Die Naturgewalt der Berge stellt eine objektivierte Metapher für unbezwingbare Gewalten und Schicksalsmächte dar, denen das vereinzelte Subjekt ausgesetzt ist. Einerseits steht es diesem Monumentalen, Großen und Unbezwingbaren ohnmächtig und ergeben gegenüber, andererseits versucht es doch den aktiven Part nicht zu verlieren. Die Praxis ist ein ständiges Hin und Her zwischen subjektivem Handeln und objektiver Bestimmtheit: „Ich wollte auf dieser höchsten natürlichen Höhe mich selbst erfahren und, wenn möglich, den Mount Everest in all seiner Größe und Härte erfassen“ (Messner 1978, S. 14). Was Messner im Angesicht der „Größe und Härte“ der Berge zu erfahren hofft, dies Gefühl des „Überschwenglichen“ und der „Bewunderung“ finden wir nicht zufällig schon beim Glanzlicht der westlichen Aufklärung, bei Kant. Bei diesem ging es noch etwas bescheidener, aber dafür genauso innig zu. Dort reichte noch „der bestirnte Himmel über mir“, um ein Gefühl für die Erhabenheit der Freiheit und des moralischen Gesetzes zu erwecken: „Der erste Anblick einer zahllosen Weltenmenge (das „unabsehlich-Große“ mit „Welten über Welten und Systemen von Systemen“, überdem noch „in grenzenlosen Zeiten“, K. L.) vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten wieder zurückgeben muss“ (Kant, A 289, 290). Der Bezug zur Freiheit des Willens freilich „erhebt dagegen meinen Wert … unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart“ (ebd.).
Die Gemeinschaft der alpinen Philosophen
Die postmoderne Karikatur des modernen Subjekts sucht sich ihre Wege: Sie wandelt freilich nicht nur als einsames Selbst auf den Pfaden der Gipfel dieser Welt, sondern auch in den Tiefen der medialen Öffentlichkeit. Dutzende von Büchern hat Messner bis dato veröffentlicht, in denen er neben den Klischeebildern einer unbezwingbaren Natur auch Ansätze einer theoretischen Reflexion über sein extremes Tun zum Besten gibt. Die ungewollte Ironie ist bei diesen Darstellungen aber immer gebrochen durch den praktischen Wahnwitz der Grenzsituationen, in die sich dieser Mensch begibt. Diese Lücke haben andere zu schließen versucht. Volker Caysa und Wilhelm Schmid ist dies sattsam gelungen. Ihr Buch über „Reinhold Messners Philosophie“, so der Titel eines Bändchens, das in der edition suhrkamp erschienen ist, übertrifft noch alles, was der Südtiroler Bergsteiger und Philosoph der Praxis sich bisher selbst über sein Tun zusammengereimt hat. Nicht nur dass die Autoren eine feine, weil ungewollte Karikatur von Messners Treiben in philosophisch geblähten Termini zeichnen. Sie dekonstruieren unbewusst damit auch die Begrifflichkeiten postmodernen Denkens. Nietzscheanisches und Heideggerisches Geraune trieft nur so aus diesen Betrachtungen über die „Suche nach den Grenzen des Daseins“ (Caysa/ Schmid, S. 38), so dass die Leserin bei der Lektüre ständig die Auflösung dieser Persiflage erwartet: „Mittels Risikopraktiken kann nicht nur die Selbstgefährdung im Sport extrem gesteigert werden, vielmehr verkörpert die gewollte Kraftanstrengung in Todesnähe auch den rigorosen Willen zur Selbstgestaltung. … Sein Selbst scheint nur noch einen echten Rivalen zu haben … die Naturkraft, die Messner nicht selbst sein kann … das ganz Andere, das ihn bedroht, wenn er es sich zu Eigen machen will, und das ihn zum Übermenschen macht, wenn er es besiegt“ (ebd., S. 41f.). Und weiter unten: „Durch die körpertechnische Bewältigung des Risikos wird es möglich, die ungeheuerlichsten Leiden, die unendliche Qual, den Verlust der körperlichen Kräfte, ja den Verlust des Körpers und des Denkens … als das Erlebnis der gedanklichen und körperlichen Ohnmacht, als Erfahrung der Selbstmächtigkeit, als Ereignis wahrzunehmen. Man verliert sich in der Extrembelastung, um sich dann anders wieder zu gewinnen. Wer dies wahrgenommen hat, wird sich abermals auf das Risiko … einlassen, um immer wieder zu erleben, neu geboren zu werden – das out of body and soul ist hier mit einem social born out verknüpft. … Dem Selbst ist dann, als würde es neu geboren, als würde es in ein neues Leben eintreten, als würde es der Wahrheit näher kommen. … Die Bewältigung des Schmerzes per Risikotechnik macht aus der äußersten Strapaze, Qual, Entbehrung, Einsamkeit und Angst eine Lust“ (ebd., S. 47).
Hier haben wir nun den Schopenhauerschen Nihilismus gewissermaßen in postmodern gewendeter Reinform vor uns, nur mit dem „Fortschritt“, dass das Leid nicht mehr als Leid benannt werden darf, sondern in sein lustvolles Gegenteil umdefiniert wird. Ausgehend von der verobjektivierten Welt des Verstandes und der entfremdeten Ohnmacht der Körperlichkeit setzt sich das männliche Subjekt aktiv in ein Leidensverhältnis bis zur physischen Grenze, um durch die auf Jenseitiges zielende Lust an den Qualen sich selbst, d.h. seine sinnliche Begrenztheit zu besiegen. Die Verachtung des Weiblichen ist hier nicht explizit. Dies ist jedoch nur eine Folge der fiktionalen Aneignung des Abgespaltenen. Die Frau ist gewissermaßen ganz überflüssig geworden und daher ausgelöscht: Sogar die Gebärfähigkeit ist jetzt eine männliche Eigenschaft geworden. Freilich trägt sie ziemlich spezifische und bezeichnende Züge: Sein Leben, seine sinnliche Existenz aufs Spiel zu setzen, führt zu einem „Körpererlebnis als Geburt“ (ebd., S. 40).27 Das Subjekt inszeniert eine Situation, in der es eine radikale Gegenüberstellung zwischen dem Anspruch auf Allmacht und dem Scheitern gibt. Durch das Wagnis des eigenen Lebens gewinnt man sich erst selbst. Der Wille geht bis an die Grenze der körperlichen Leistungs- und Leidensfähigkeit und sucht möglichst lange an dieser Grenze zu verweilen. Das Besondere besteht freilich darin, die Linie nicht zu überschreiten. Der Wille gibt sich, nach der Herstellung der Grenzsituation, dem eigenen Dasein gegenüber als fürsorglich und besorgt. Man könnte dies als extreme Formulierung des Foucaultschen Diktums der „Sorge um sich selbst“ identifizieren. Hier liegt auch der Kern dessen, was als Kunst erlebt wird: die Inszenierung eines Arrangements, in der das sinnliche wie soziale Dasein bis hin zur Gefahr des Todes aufgelöst wurde, um dann die vordem entfremdete Existenz als Ergebnis der eigenen Schöpfung zu erfahren und genießen zu können. Dadurch wird aber die körperlich-sinnliche Zeugung und Geburt völlig belanglos, essentiell dagegen ist nunmehr die selbstgeheckte „Zeugung“ und der selbstbezügliche Ursprung. In dieser Wiedergeburt erschafft sich das männliche Subjekt selbst als ein von allen äußeren Bedingungen freies Wesen. Seine Existenz hat es sich und nur sich zu verdanken. „Wie er sein Leben immer selbst bestimmt hat, so will er auch den ‚eigenen Weltuntergang‘ in der Hand haben“ (ebd., S. 46). Durch den selbstbestimmten Untergang und das „Durchkommen im Umkommen“ wird das männliche Subjekt erst wahrhaft selbstbestimmt.28 „Er scheint keine Menschen mehr als Widerpart zu haben, sondern nur noch das Heilige, Göttliche. In der Auseinandersetzung mit der nichtmenschlichen Naturgewalt findet Messner nicht nur das Göttliche, sondern auch den ‚Gott in sich‘ in einer gottlosen Zeit. Dieses ganz Andere ist nur Medium, um sich selbst in radikaler Art und Weise anders zu erleben und sich über alle anderen Menschen zu erheben. Nicht der direkte, Mann gegen Mann ausgetragene Wettkampf ist daher sein Medium, sondern der Kampf des Menschen mit der nichtmenschlichen Naturgewalt“ (ebd., S. 42).
Es ist also nicht nur die Legitimation oder besser Propaganda des vereinzelten Einzelwillens, der mit allen Lebensrisiken selbstbestimmt umzugehen hat, sondern ganz offen wird die weitere Marschrichtung in Richtung (selbst-)destruktiven Wahnsinns auch schon angegeben. Es braucht keinerlei Phantasie, um zu erkennen, dass außerhalb der westlichen Zentren und auch zunehmend in diesen die Messnerschen Männlichkeitskarikaturen nicht nur einen fiktiven Kampf ausfechten. Der postmoderne männliche Nihilismus nimmt einen sehr realen Charakter an, indem er über die individualisierte und eingehegte Form der Auseinandersetzung mit sich und der Natur hinausgeht. Letztlich kommt es nur auf eines an: alles in seiner Hand zu haben, den eigenen, aber notfalls auch den Weltuntergang der anderen.
Epilog: Ist das bürgerliche Subjekt nur ein Fassaden-Ich?
Sicherlich könnte man den Erfahrungsbereich, der in der Todeszone gesucht wird, auch als typisches Betätigungsfeld des „freien“ Willens interpretieren, der sich aus dem Konsumangebot der Warenwelt eben das Extremerlebnis seines möglichen Todes auswählt. Nach dieser Anschauung hätte sich damit der inhaltsleere Wille im Spiel der Möglichkeiten nur ein weiteres Angebot erschlossen. Die Werbung wäre um eine Facette „reicher“: Nicht jede Woche eine neue Welt, sondern zur Abwechslung halt mal keine. In dem gleichzeitig vorliegenden Beitrag „Die Schizophrenie des modernen Individuums“ von Peter Klein wird die bürgerliche Subjektivität vorwiegend auf dieser Ebene kritisiert. Der „Fassadenmensch“ (S. 81) ist demnach das flache Subjekt, das aus den eindimensionalen Beliebigkeiten des Warenangebots die sich bietenden „Chancen und Möglichkeiten“ (S. 75) auswählt. Hier soll dem Aspekt der unendlichen Schalheit und Abgeschmacktheit des flachen Konsumwillens natürlich nicht widersprochen werden. Jedoch verfällt diese Perspektive selbst einer Eindimensionalität, wenn das zentrale Moment der negativen Rückseite des „freien“ Willens und der geschlechtlichen Abspaltung außer Acht gelassen wird. Die bloße Gegenüberstellung von abstraktem wie inhaltslosem Subjektatom einerseits und versachlichter Objektivität andererseits bleibt auf der Ebene der Kantschen Dualität des „intelligiblen“ und „empirischen“ Charakters stehen, ohne deren Vermittlungsform in den Blick zu bekommen. Das Wichtige an der Freudschen Theorie ist gerade das Herausstellen der zwanghaften inneren Dynamik und des nicht zu lösenden Widerspruchs zwischen „Allmacht und Ohnmacht“ (Bösch) des männlichen Subjekts, d.h. die widersprüchliche Vermittlungsbewegung zwischen Subjekt und Objekt. Die Vorstellung eines äußerlichen Verhältnisses zwischen Subjektivität und Objektivität, wie Klein sie mit seinem „neuen Dualismus“ (S. 61) formuliert, bleibt dagegen theoretisch selbst vor der Fassade der Warengesellschaft stehen. In der Analyse der reinen Subjekt-Objekt-Dichotomie wird die irrationale Rückseite und die Abspaltung allenfalls als Durchsetzungsphänomen zugelassen. Doch das Verhältnis der Verkehrung von Allgemeinheit und Besonderem in Form der zwanghaften Bedürftigkeit des sekundären Narzissmus ist integrales Moment dieser Form und nicht nur ein temporärer Aspekt, der vielleicht einmal wichtig war, aber inzwischen seine Relevanz verloren hat. Da sich Klein nur auf das äußerlich bleibende Verhältnis der Objektivitäten zum „freien“ Wille bezieht, entgeht ihm der gesamte „psychogenetische Unterbau“ (Regina Becker-Schmidt). Damit wird aber auch das Problem der geschlechtlichen Abspaltung und der daraus folgenden modernen Sexualität als bloß objektivierter Gegenstandsbereich behandelt. Die nachträgliche Verwandlung und Einpassung abgespaltener, weiblich eingeschriebener Gefühlssphären unter die Marktgesetze ist schon ausreichender Beleg dafür, dass es den „Unterbau“ einschließlich des hierarchischen Geschlechterverhältnisses gar nicht gibt: „Dieser Mechanismus (der Projektion von Eigenem in ein Anderes, K. L.) wird nun in dem Maße hinfällig, in dem die dabei entstehenden Stereotypen (der ‚edle Wilde‘, die ‚einfühlsame Frau‘ etc.) sich ihrerseits objektivieren. Sie werden dadurch zu ‚wertfrei‘ registrierbaren ‚Tatsachen des Lebens‘, die das jeweilige (jetzt abstrakt zu nennende) Individuum bloß noch auf äußerliche Weise betreffen“ (S. 90f.).
Der kritische Fokus beschränkt sich hier auf die Ebene der fertigen Resultate, d.h. der verobjektivierten Projektionen. Die stets präsente dunkle Rückseite der Vernunft muss dazu kurzerhand wegdefiniert oder in graue Vorzeiten gebannt werden. Analog zum Marxschen Ansatz wäre aber die eigentliche Aufgabe der Kritik, die Entstehung- und Bewegungsgesetze in ihrer historischen Prozesshaftigkeit herauszuarbeiten und nicht bei den fertigen Formen stehen zu bleiben.
Ein offensichtliches Manko dieser Fassadenkritik ist die Frage der unlösbaren Widersprüche in der Subjektkonstitution. Durch die theoretische Verwandlung des vermittelten und paradoxen Subjekt-Objekt-Verhältnisses und der Abspaltung in die flache Struktur der Objektivitäten und des inhaltslosen Willens verliert sich die entscheidende Widerspruchsebene. Dem abstrakten Individuum muss es nach der Logik, die ihm Klein zuspricht, nämlich keinerlei Schwierigkeiten bereiten, sich auf die famosen „Chancen und Möglichkeiten“ zu beziehen, denn dies ist schließlich sein Element, in dem es sich bewegt. Aus der bloßen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt kann letztlich nicht einmal schlüssig erklärt werden, weshalb denn z.B. das „leere Ich“ so zwanghaft bedürftig nach immer neuen Befriedigungen umhergetrieben wird. Die Aussage, das „leere Ich“ strebe danach, voll zu werden, bleibt ebenso leer wie sein Inhalt. Zur Klärung der widersprüchlichen Dynamik der „zwanghaften Bedürftigkeit“ (Bösch) in der Warengesellschaft kann die Kritik auf der Ebene der äußeren Dualität nichts betragen. Stattdessen wird der dualen Subjektbeziehung eine rein objektive, vernünftige und letztlich enthistorisierte Form zugesprochen. Allenfalls in der Durchsetzungsphase der Warengesellschaft soll es „sozial und geographisch ‚unvernünftig‘ gebliebene Regionen“ (S. 90) gegeben haben. Dass es in dem flachen und rein sachlichen Subjekt-Objekt-Verhältnis nun doch eine Widerspruchsebene gibt, folgt bei Klein aber nicht aus dem immanenten prozessierenden Widerspruch des (männlichen) Subjekts. Vielmehr muss dafür eine äußere, „existentielle Ebene des Daseins“ (S. 87) eingezogen werden, die jenseits der modernen Subjektkonstitution verortet wird. Mit der „unmittelbaren Existenz“, der „Sinnenwelt“ oder etwa dem bloßen „Spüren“ (S. 87f.) scheinen Widerständigkeiten gefunden, die den abstrakten Willen an Grenzen stoßen lassen. Ausgerechnet das von Kant schon vorgezeichnete negative Gegenbild seiner abstrakten Vernunft, nämlich „Gefühl, Antrieb und Neigung“, muss zu diesem Behufe auftreten. Tatsächlich drücken die „pathologischen Bedingungen“ (Kant) der Sinnlichkeit jedoch nur die spezifisch negative Rückseite der modernen Rationalität aus, die gleichursprünglich mit dieser entsteht.29 Die scheinbar so „existentielle Ebene“ erweist sich also als das vorher nur ausgeblendete immanente Gegenteil der Rationalität. Wurde das Subjekt-Objekt-Verhältnis als oberflächliche Beliebigkeit des freien Willens in Beziehung zu den Objekten gefasst und damit der immanente Widerspruch von Unbewusstem und Abspaltung übersehen und ausgeblendet, so kehrt gewissermaßen das „Vergessene“ wieder zurück. Als „Revier der unmittelbaren Existenz“ (S. 88) soll diese Ebene des „Gefühls, des Antriebs und der Neigung“ (ebd.) das Reservoir für den Widerstand gegen die Leere und Abstraktheit der Form bilden, der dann „zu unkontrollierbaren, unvorhersehbaren Eruptionen“ (ebd.) führt. Die aus dem Subjekt-Objekt-Dualismus ausgeblendeten widersprüchlichen Momente kehren in naturalisierter Form als „Bereich des Fühlens und Spürens“ (S. 89) wieder. Dieses Erklärungsmuster ist nun freilich nicht gerade neu. Freud selbst hatte den als ontologisch gesetzten destruktiven Trieb ominös aus dem Somatischen hergeleitet, ohne doch den prozessierenden Widerspruch der Triebdynamik im Subjekt – also die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt – damit aus dem Auge zu verlieren. Das „existentielle Spüren“, dieser „Kessel voll brodelnder Erregung“ (Freud, zit. nach Zentner 1995, S. 97), findet nun auch in Kleins statischem Subjekt-Objekt-Verständnis wieder Verwendung, allerdings in schlecht abstrakter Weise. Freud, darin besteht ja sein Verdienst, hat die gegenseitige Entsprechung und Vermittlung zwischen dem Wunsch nach Entgrenzung und der versagenden Realität herausgearbeitet. Bei Klein dagegen dienen die letztlich zum destruktiven Trieb naturalisierten Emotionen nur noch als Einspeiseleitung für einen emotionalen Druckcontainer. An der Zerreißgrenze muss sich die angestaute Energie gegen die den Druck aufbauende Vernunft eruptiv entladen.
Die Konsequenzen dieser ins Physikalische und Physiologische neigenden Anschauung für den Gehalt von Gesellschaftskritik sind nicht zu unterschätzen, denn damit wird neben der Ausblendung der Abspaltung eine „Demokratisierung“ der Destruktion behauptet. Das bedeutet, dass die Brocken des Druckcontainers unspezifisch nach allen Richtungen auseinander fliegen: „Die Energie, die sich in solchen Ausbrüchen entlädt, stammt – natürlich – von der existenziellen Ebene des Daseins, aber damit ist keine Richtung vorgegeben“ (S. 93). In dieser Triebphysik wird eine für die radikale Kritik nötige wie unumgängliche Erkenntnis und Differenzierung über sexistische, rassistische und antisemitische Bewusstseins- und Verarbeitungsformen ausgeblendet, die gerade in der Zuspitzung des sozial-ökonomischen Krisenverlaufs immer offener werden. Die „ausbrechende Energie“ ist nicht blind, beliebig und undifferenziert, wie Klein behauptet, sondern verläuft nach inneren „Gesetzmäßigkeiten“ der eigenen negativen projektiven Zuschreibungen. Angesichts der ideologisch immens aufgeladenen Verwerfungen in der Krise der Warengesellschaft wirkt ein solcher Ansatz, gelinde gesagt, hilflos.
Fußnoten
1 Der Terminus „Grenzerfahrungen“ wurde schon in den 20er Jahren populär. Karl Jaspers sprach von „Grenzsituationen“ und in Ernst Jüngers „Schule“ des „neuen Menschen“ sollte im „Kampf als inneres Erlebnis“ an das Eigentliche und Innerste des Lebens herangerückt werden (siehe Kiesel, S. 510).
2 Derridas Begriff der „différance“ lässt diese grundlegende Ebene völlig außer Acht, so dass die vermeintlich neuen Denk- und Darstellungsformen durch Dekonstruktion, die er geltend macht, immanent bleiben, ja diese selber ein Ausdruck des stetigen Differenzierungsdrucks in der Warengesellschaft sind.
3 Faltsch Wagoni ist ein Kabarett- und Gesangsduo aus München.
4 John Holloway hat in seinem vielbeachteten Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ das Grundproblem der gesellschaftlichen Trennung als das Zerbrechen des Flusses eines Tuns vom Getanen charakterisiert, was auch als Umschreibung der fetischistischen Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige gelesen werden kann. So weit, so gut. Problematisch wird es aber dann, wenn Holloway der Produktion ein lebendiges Fließen einer kreativen Kraft andichtet, die ein zu befreiendes „An sich“ darstellt, und andererseits die Sphäre des Tauschs für die Trennung verantwortlich macht: „Die Ware ist selbstverständlich ein Produkt gesellschaftlichen Tuns, aber die Tatsache, dass sie für den Austausch auf dem Markt hergestellt wurde, zerreißt den Fluss des Tuns“ (Holloway, S. 62). Diese von der Kritischen Theorie übernommene und zu kurz greifende Fixierung auf die Zirkulationssphäre, verbindet sich mit einer unhistorischen Sichtweise einer nur äußerlich überformten Schaffenskraft der Subjekte, die laut Holloway die emanzipatorische Kraft repräsentiert.
5 Oder wie es John Holloway ausdrückt: die „philosophische Begleitmusik zur Etablierung kapitalistischer Verhältnisse“ (Holloway, S. 84).
6 Zur Verkehrung gesellschaftlicher Heteronomie in die individuelle Selbstgesetzgebung: siehe „Die Höllenfahrt des Selbst“ von Karl-Heinz Wedel, S. 74ff., in: krisis 26.
7 Wie sich die „Freiheit“ der Selbstständigkeit in den puren Zwang verwandelt, müssen momentan alle erleben, die den Repressionen der Arbeitslosenverwaltung ausgesetzt sind. Dabei wird deutlich, dass das (neo-)liberale Selbstbestimmungsrecht ganz selbstverständlich die Streichung jeder Fürsorge und die ausschließliche Eigenvorsorge, bis in die materielle Verelendung hinein, bedeutet.
8 Zu den Aspekten dieser Subjektkonstitution siehe „Die Höllenfahrt des Selbst“ von Karl-Heinz Wedel, S. 60ff., in: krisis 26.
9 Roswitha Scholz‘ Buch „Das Geschlecht des Kapitalismus“ enthält wichtige Passagen (z.B. den Abschnitt über die „modifizierte Wert-Abspaltungstheorie“), in denen sie den grundsätzlichen Bruch innerhalb des warenförmigen „Universalismus“ herausstellt.
10 Ich werde mich dabei, neben einigen erläuternden Zitaten von Freud, im Wesentlichen auf den Artikel von Robert Bösch „Zwischen Allmacht und Ohnmacht“ in: krisis 23 stützen.
11 Auch Robert Kurz bezieht sich in seinem jüngst wieder publizierten Aufsatz „Subjektlose Herrschaft“ auf die Freudsche Theorie des Unbewussten, ohne deren Tiefendimension jedoch auszuschöpfen. Kurz bezieht die Begrifflichkeiten von Trieb, Es, Ich und Über-Ich nur äußerlich auf die unbewusste Subjektform der warenförmigen Fetischkonstitution (siehe Kurz 2004, S. 190ff.). Dadurch entgeht ihm aber der zentrale Inhalt der Freudschen Theorie, der für eine kritische Gesellschaftstheorie fruchtbar zu machen wäre: das Subjekt-Objekt-Verhältnis in seiner zirkulären Struktur als Verquickung von Primär- und Sekundärprozess, d.h. von Todes- und Lebenstrieb. Die von Roswitha Scholz immer wieder zu Recht eingeklagte Bedeutung einer eigenständigen „sozialpsychologischen Dimension“ (Scholz 2000, S. 19) in der Kritik des modernen Androzentrismus muss aber, will sie Ernst machen mit ihrem bisher weitgehend nur programmatisch formulierten Anliegen, die Inhalte der Freudschen Psychoanalyse nach ihrem spezifischen wie „kritischen“ Gehalt untersuchen, ohne sie vorschnell in den „Theorie-Konzeptionen von Kant, Marx und Freud systematisch (zu) vereinheitlichen“ (Kurz 2004, S. 195).
12 Auch wenn Freud zentrale Momente des Subjekt-Objekt-Verhältnisses offengelegt hat, so entging ihm als bürgerlichem Theoretiker freilich in Gänze der Zusammenhang mit der auf Arbeit und Warenproduktion basierenden Gesellschaft. Dies macht folgendes Zitat besonders deutlich, in dem Freud die „Sublimierung der Triebe“ mit Hilfe der Arbeit empfiehlt: „Und dennoch wird Arbeit als Weg zum Glück von den Menschen wenig geschätzt. Man drängt sich nicht zu ihr wie zu anderen Möglichkeiten der Befriedigung. Die große Mehrzahl der Menschen arbeitet notgedrungen, und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu des Menschen leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab“ (Freud 1994, S. 47).
13 Hier bietet sich keineswegs zufällig ein Verweis auf die zirkuläre Struktur der zentralen Marxschen Begriffe der „toten“ und „lebendigen Arbeit“ an. Die „tote Arbeit“ wendet als Voraussetzung die „lebendige“ an und liegt ihr insofern zu Grunde. Doch in der kreisförmigen Rückkopplungsbewegung des Werts sind „tote“ und „lebendige Arbeit“ nur jeweils verschiedene Aggregatszustände, die sich gegenseitig zur Voraussetzung haben.
14 Diese Formulierung der Abspaltung macht zugleich auf ein grundsätzliches Defizit in der begrifflichen Analyse aufmerksam: Für die jeweils konkrete Gestalt des Geschlechterverhältnisses wie für die persönlichen Beziehungen der Einzelnen überhaupt, ist nicht nur die allgemeine psychosoziale Konstitution bestimmend, wie sie hier beschrieben wird, sondern genauso eine Vielzahl kulturell-symbolischer Formen, wie individuelle Aspekte der besonderen Lebenspraxis.
15 Vgl. dazu Zentner (1995). Zentners Arbeit bleibt weitgehend auf der Ebene des philologischen Vergleichs der Begrifflichkeiten. In dem äußerlichen Nachweis weitgehender terminologischer Übereinstimmung verkennt er dabei die wichtige Differenz: Die Perspektive Schopenhauers ist nicht die psychische „Gesundheit“ des (männlichen) Subjekts, sondern dessen Entgrenzung in der „Weltüberwindung“. Dennoch enthält es aufschlussreiche Passagen, z.B. über die folgenreiche Begegnung Schopenhauers mit der Psychiatrie und speziell mit einem Patienten namens Ernst Hoeffner. Von diesem stammt folgendes, seine eigene Krankheit reflektierendes Zitat: „Es ist nichts gefährlicher, wie wenn ein Mensch, den man plötzlich von alle dem trennt, worin er sein Leben wie es ihm möglich wurde, suchte und fand“ (ebd., S. 28). Der aus dieser grundlegenden Erfahrung resultierende „Gemüthskranke“ zeichnet sich durch folgenden „bösen Willen“ aus: „Solange nun derselbe mit seinem Vermögen in der Welt dahin strebt, und sich, so viel ihm möglich wird, von der Welt zuzueignen, und so die in ihm rege werdenden Verlangen zu stillen, knüpft er so manches Band, welches er fürchten muss: denn … wer in den Gegenständen die die Welt als etwas aufstellt sein Leben sucht und findet, der sucht auch zugleich seiner Natur nach die ganze Welt an sich zu reißen: denn ein Theil derselben giebt ihm immer noch nicht das was er seiner Bestimmung gemäß sucht“ (ebd., S. 28f.). Hier ist schon der von Schopenhauer gewählte Ausweg des Durchschneidens jedes (sozialen) Bandes durch die Askese als Möglichkeit vorgedacht Die gesellschaftlich konstituierte Trennung wird durch das Subjekt affirmiert und mit eigener Hand weitergetrieben.
16 Freud hat den Zwangscharakter der Kultur zwar auch beschrieben, aber bei ihm ist dieser letztlich legitimatorisch im Sinne der notwenigen Kontrolle des egoistischen Trieblebens ins Positive gesetzt: Dieser Egoismus bedeutet, dass „jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll. … Die Kultur muss also gegen den Einzelnen verteidigt werden“ (Freud 2000, S. 140).
17 Dieses individuelle Moment unterscheidet diese Form der Transzendenz vom regressiven Zug der Blut-und-Boden-Ideologien in der Durchsetzungsphase kapitalistischer Gesellschaften. Das Aufgehobensein in der völkischen Gemeinschaft ist im postmodernen Zeitalter durch den Individualismus gebrochen.
18 Siehe Kant, S. 174.
19 Dieses metaphysische Bedürfnis füttert einen ganzen Industriezweig esoterischer Heilslehren.
20 Der Monismus z.B. eines Ernst Haeckel oder Wilhelm Ostwald nimmt deshalb auch explizit Bezug auf Schopenhauer.
21 Ein gern geltend gemachter positiver Aspekt der Schopenhauerschen Philosophie ist seine Mitleidsethik. Der moralisch Gute „fühlt sich allen Wesen im Innern verwandt, nimmt unmittelbar Theil an ihrem Wohl und Wehe“ (zit. nach Schmidt, S. 87). Das Problem dieser Solidarität ist allerdings, dass sie nicht direkt ein zwischenmenschliches Verhältnis ausdrückt, sondern sich auf das allgemeine Ausgeliefertsein an den Willen bezieht, das laut Schopenhauer allem Leiden zu Grunde liegt. Die mit dem positiven Bezug zur Willenskategorie verknüpfte Misanthropie und vor allem Misogynie scheint dann überhaupt nicht mehr aufzufallen: Alfred Schmidt nennt es „behutsam“, wenn Schopenhauer die „Menschenwelt“ als „feindliches Nicht-Ich“ (d.h. das Weibliche) und das Jenseitige als „Ich noch einmal“ (also das Männliche) identifiziert. Nach dieser Lesart müsste man wohl auch der gewaltvollen Durchsetzung des modernen Patriarchats jenes Attribut zuordnen (siehe Schmidt, S. 87).
22 „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“ (Schmitt, S. 43).
23 Bennent zitiert aus einer anderen Schopenhauer-Ausgabe: SW steht für: Sämtliche Werke. Im übrigen Text wird stets aus Schopenhauer (1892) zitiert.
24 Alfred Schmidt hat auf den expliziten Pietismus der Schopenhauerschen Erlösungsphantasien hingewiesen. Wobei der Pietismus insgesamt die Aufklärung vorbereitet hat (vgl. Schmidt, S. 17).
25 An dieses Bestreben, sich in ein Jenseits der als äußerlich und fremd empfundenen Realität zu retten, lassen sich rassistische und nationalistische Haltungen unmittelbar anschließen. Dann wird die Regression zu einer existentiellen Verknüpfung mit einer ethnisch oder rassisch besetzten Grundströmung. In der fundamentalen Verbundenheit mit diesen als elementar gesetzten Kräften geht es dann um die Frage des gemeinsamen Bestehens oder Untergehens.
26 Christina von Braun hat diese Entwicklung schon für das ausgehende 19. Jahrhundert konstatiert. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom „männlichen Hysteriker“ (vgl. von Braun 1999, S. 404ff.).
27 Christina von Braun hat in ihrem Buch „NICHTICH“ sehr detailliert die Transformation von Männlichkeit beschrieben. Ein Moment ist dabei der Wechsel der Männerrolle vom zeugenden zum „gebärenden Prinzip“ (siehe von Braun 1999, S. 241ff.).
28 In Hegels Herr- und Knechtverhältnis geht es im Grunde um nichts anderes: Die Selbstbestimmung erwächst aus dem Wagnis des Todes (siehe dazu Ernst Lohoff: Gewaltordnung und Vernichtungslogik, in: krisis 27).
29 Siehe dazu den Artikel „Die Höllenfahrt des Selbst“ von Karl-Heinz Wedel, S. 63ff., in: krisis 26.
Literatur
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