19.10.2023 

Idealistischer Materialismus. Bruno Latour und die Prämissen einer unkritischen Theorie

von Nick Gietinger

von Nick Gietinger

Zuerst erschienen in Diskus 30.9.2023

„Sie denken, sie würden die Freiheit garantieren, indem sie sie
metaphysisch in die Ordnung der Dinge einschreiben.
Aber alles, was sie damit erreichen, ist,
dass sie die Menschen in ihrer Fähigkeit schwächen,
darüber nachzudenken, womit wir es eigentlich zu tun haben.“
Moishe Postone

In den letzten Jahren ist ein erstarktes Interesse an den sogenannten New Materialisms (Neue Materialismen, kurz: NM) zu beobachten. Die Denktradition wird schon länger in den anglophonen Ländern diskutiert, in den letzten Jahren erschienen aber auch Einführungen auf Deutsch1. Auf der im September vom Institut für Sozialforschung (IfS) organisierten Konferenz “Futuring Critical Theory” werden die Neuen Materialismen als eine von mehreren Möglichkeiten zur Erneuerung der Kritischen Theorie vorgeschlagen. Nach eigenem Bekunden werde die Kritische Theorie auf der Konferenz auf dem Prüfstand stehen: So sollen von ihr unbehandelte Themen wie die „globale Vernetzung gesellschaftlicher Phänomene“, die „stoffliche Dimension gesellschaftlicher Reproduktion“ behandelt sowie das „normative Rüstzeug“ der klassischen Kritischen Theorie infrage gestellt werden.

Dass die Konferenz dazu einlädt, die klassischen Analysen der Kritischen Theorie um diese aktuell verhandelten Themen zu ergänzen, ist vor dem Hintergrund des Ringens um gesellschaftliche Relevanz aller akademischen Einrichtungen nachvollziehbar. Da die “Frankfurter Schule” jedoch einer Denktradition zuzurechnen ist, die sich von den Neuen Materialismen durchaus unterscheidet, lohnt ein zweiter Blick auf die Frage nach den Möglichkeiten und vor allem nach Grenzen einer inhaltlichen Erweiterung in diese Richtung. Am Beispiel Bruno Latours, einem wichtigen Referenzpunkt der Neuen Materialismen und Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, sollen einige Überlegungen zu den unterschiedlichen Prämissen und ihren Auswirkungen angestellt werden.

Die „Oxford Research Encyclopedia of Literature“ nennt Latour und sein Buch Wir sind nie modern gewesen als „Sinnbildlich“ für das Argument der Neuen Materialismen.2 Und auch in einer aktuellen Einführung von Katharina Hoppe und Thomas Lenke wird Latour als wichtiger Stichwortgeber genannt.3 Auch wenn nicht alle Vertreter_innen der NM „Latourianer“ sind, gibt es eine klare Verwandtschaft. Graham Harman4 und Jane Bennett5 beziehen sich explizit auf Latour und auch im Werk Donna Haraways, einer langjährigen Kollegin und Freundin von Latour, finden sich zahlreiche Bezüge auf ihn (wenn auch mit kritischen Bemerkungen u. a. über seinen fehlenden feministischen Ansatz).

Der Neue Materialismus möchte sich einerseits von hegelianischen und marxistischen Denkrichtungen abgrenzen und gleichzeitig dem Relativismus und der Konzentration auf Sprache und Diskurse im Poststrukturalismus etwas entgegensetzen. Den Dingen, dem Materiellen bzw. den „nicht-menschlichen Akteuren“ soll mehr Wirkmächtigkeit zugesprochen werden.

In Frage gestellt wird damit das westliche Denken der Aufklärung mit seinem Dualismus von Subjekt und Objekt und den damit einhergehenden Trennungen von Subjektivität und Rationalität, Wahrheit und Ideologie, Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik etc. Eine Debatte, die so alt ist wie die erstmalige Formulierung dieses Dualismus durch Descartes: Schon im 17. Jahrhundert unterschied dieser den herrschenden Geist von der zu unterwerfenden Materie und erhielt dafür Widerspruch von seinem Zeitgenossen Baruch de Spinoza. Spinoza entwarf demgegenüber eine antidualistische Substanz, eine sogenannte monistische Philosophie. Sie sollte ohne eine Dichotomie auskommen, in der die eine Seite die andere beherrscht.

Diese spinozistische Philosophietradition erlebte unter anderem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Persönlichkeiten wie Gilles Deleuze, Michel Foucault oder Michel Serres einen neuen Aufschwung. Gegen die hegelianische Philosophie des Subjekts, der Geschichte und der Totalität wurde Spinoza ins Feld geführt. Immanenz gegen Totalität, Handlung gegen Struktur, Freiheit gegen Determination. An diese Tradition schloss Bruno Latour in den 80er Jahren an. Mit dem Rüstzeug der monistischen Tradition sezierte er mit den Science Studies den Wissenschaftsbetrieb und wies darauf hin, dass die dualistische Trennung, welche die modernen Wissenschaftler_innen erzeugen würden, eigentlich nicht real sei. Statt von dualistisch angelegten Subjekten und Objekten sprach er mit Bezug auf Michel Serres von Quasi-Objekten, also Phänomenen, die weder Subjekt noch Objekt seien.6 Die Bezeichnung dieser Quasi-Objekte hat viele Namen. An anderer Stelle nennt Latour sie auch Hybride. Donna Haraway übernahm dieses Konzept und gab ihnen in ihrem berühmten Manifest den Namen „Cyborgs“7.

Ein Hauptthema in Latours Werk findet sich etwa in seinem bereits erwähnten Buch Wir sind nie modern gewesen (1991) formuliert, nämlich die Frage danach, was die Moderne auszeichne. In dieser Fragestellung scheint eine Gemeinsamkeit mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu liegen. Doch gerade in der Beantwortung dieser Frage findet Latour eine eigene Definition der Moderne, die zu einer zentralen Prämisse für die NM geworden ist und in deutlichem Widerspruch zu den Analysen der IfS-Begründer steht.

Kritik und moderne Verfassung

Für Latour zeichnet sich die Art, wie in der Moderne Kritik geäußert wird, dadurch aus, dass sie die naiven Meinungen der Menschen als eine Erscheinung abtue und ein verborgenes Wesen, etwas Unumstößliches und somit unabhängig von den Menschen Existierendes, zur Erklärung heranziehe.8 Nur ein völlig neutraler Beobachter, der Wissenschaftler (sic!), durchschaue somit die wahre Ursache eines Phänomens.9 Laut Latour behauptet das Moderne Denken zudem, dass wir in einer dualistisch verfassten Welt leben würden. Die anfangs aufgezählten Dualismen würden dabei von der modernen Philosophie zur Realität erklärt werden. Diese Auffassung kritisiert Latour: Seiner Meinung nach würden die Dualismen erst nach einer ursprünglich nicht-dualistischen Praxis getrennt werden. Diese ursprüngliche Praxis nennt er „Übersetzungen“. Latour macht somit zwei Ebenen auf. Erstens: Die „Übersetzung“-Ebene als ein Netz aus nicht klar zuordenbaren Subjekt-Objekt Relationen. Also Hybriden, die nicht im Dualismus zwischen Kultur und Natur, Wissenschaft und Politik, Menschen und nicht-menschlichen Wesen, aufgehen. Die zweite Ebene ist für Latour die moderne Ebene. Sie besteht aus einer nachträglichen „Reinigung“, in der die Modernen die vorherigen Übersetzungen nach ihrer modernen dualistischen Verfassung trennen. Die Modernen hielten nur die zweite Ebene für die Realität, für Latour sollen aber beide Praxen zusammen gedacht werden. Erst wenn wir beide Ebenen in den Blick bekämen, wären wir nicht mehr modern. Paradoxerweise bleibt bei ihm am Ende nur die ontologisch gesetzte Übersetzungsebene übrig. Der Trennungsebene wird keine ernsthafte Wirkmächtigkeit mehr zugesprochen.

Zwar wehrt sich Latour gegen den offensichtlichen Vorwurf, er habe hier eigentlich seine eigene moderne Kritik entworfen10, so ganz lässt sich der Vorwurf jedoch nicht von der Hand weisen. Denn wenn Latour aufdeckt, dass wir eigentlich nicht modern und die Dualismen nicht echt sind, dann kann der Fakt, dass wir so denken, nur auf eine falsche Wahrnehmung zurückgeführt werden. Somit wäre die Trennung aber keine Praxis, sondern eben eine falsche Denkweise. Es entsteht also der alte Dualismus zwischen Handeln und Denken, den Latour ja eigentlich auflösen wollte. Laut Latour, der das moderne Denken als die moderne Verfassung bezeichnet, besitzt diese nur eine einzige reale Wirkung: Sie erlaube es uns, die Natur grenzenlos auszubeuten.11 Folgt man Latours Theorie, kann die Naturausbeutung aber keine echte Praxis sein. Wenn sie das wäre, wären wir ja modern. Stattdessen muss sie für Latour nur eine Sichtweise bzw. Denkart, und deswegen eben keine Realität sein.

Die von Latour entworfenen Kategorien werden von ihm nicht kohärent verwendet. Sein begriffliches Durcheinander konterkariert seinen eigenen antidualistischen Anspruch. In Latours Konzeption bleibt so am Ende eine symmetrische Ebene übrig, von Latour „symmetrische Anthropologie“ genannt, in der es nur noch qualitativ unterschiedslose Hybride gibt12. Sämtliche Unterscheidungen, auch in der Geschichte zwischen Vormoderne und Moderne, Wissenschaft und religiösem Weltbild etc., werden von ihm aufgelöst. Die hybriden Gesellschaften würden sich nur durch quantitative Unterschiede13 auszeichnen. Dadurch will Latour den „modernen Exzeptionalismus“ infrage stellen. Eine berechtigte Kritik am Historischen Materialismus schwingt hier ins komplette Gegenteil um. Von den Unterschieden, Brüchen und Linearitäten springt Latour vermittlungslos zur Auslöschung der Geschichte.

Da die vorherigen Kulturen alle immer schon hybrid handelten und dachten, und wir eigentlich auch, verstärkt sich zunehmend der Verdacht, Latour hege einen heimlichen Idealismus. Denn wenn wir nie modern gewesen sind, dann hat die Reinigung ihre Wirkmächtigkeit verloren. Wenn die Reinigung nicht relevant ist, warum wird sie dann als Praxis von Latour erwähnt? Ist es dann eine rein ideelle Praxis? Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass der Vorwurf des Idealismus nicht von der Hand zu weisen ist.

Kollektive statt Totalität

Neben den Begriffen der Kritik und der Geschichte (bzw. der Moderne), wird auch der Begriff der Totalität bzw. der Gesellschaft von Latour verworfen. Im Gegensatz zur Herangehensweise Max Horkheimers, wonach „die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien zugleich seine Verurteilung [enthält]“14, entscheidet sich Latour dazu, die Kategorie der Totalität vollkommen über Bord zu werfen. Er spricht lieber von Netzen und Kollektiven15, da diese der Politik wieder Spielraum für Handlungsfähigkeit zurückgeben würden. Latour geht sogar so weit zu behaupten, dass das alleinige Sprechen über die Totalität dieselbe stärke und uns handlungsunfähig mache: „Jede Totalisierung, auch die kritische, befördert den Totalitarismus“16. Nun könnte man es aber auch genau umgedreht sehen: Erst ein richtiges Verständnis der Totalität wäre dazu in der Lage, die Totalität abzuschaffen. Dafür müsste man aber über sie reden.

Latour setzt sich, und das scheint ein allgemeiner Trend der NM zu sein, nirgendwo eingehend mit den verschiedenen Konzeptionen der Totalität bei Hegel, Marx, der Frankfurter Schule oder alternativen Interpretationen der marxschen Theorie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinander. Stattdessen werden Strohmann-Argumente aufgebaut, welche dann mit Leichtigkeit delegitimiert werden können. So bemüht Latour zum Beispiel an einer Stelle die Metapher eines Schienen-, Telefon-, Wasser- oder Fernsehnetzes, also technischen Netzen. Diese würden zwar viele Orte abdecken, seien aber tatsächlich nie vollkommen global, universell oder total, denn: „Es ist unmöglich, mit der Bahn nach Malpy zu fahren, einem kleinen Dorf in der Auvergne, oder nach Market Drayton, einer Kleinstadt in Staffordshire.“17

Jedoch hat keiner der Vertreter der „hegelianischen“ Schule jemals von einem Schienen- oder Telefonnetz gesprochen, wenn der Begriff verwendet wurde.18 Die Ziellosigkeit von Latours Argument ist beispielhaft für seine Behandlung der kritischen Begriffe. Statt einer Auseinandersetzung mit den Vertretern der hegelianischen Schule wird einfach phänomenologisch auf Dinge gezeigt. Somit wird auch klar: Es gibt bei Latour, im Gegensatz zu Horkheimer, keine Vorstellung von einem kritischen Totalitätsbegriff, welcher die Totalität kritisiert, ohne sie zu leugnen.

Mit der Ablehnung des Begriffs Totalität versuchen Latour und andere Vertreter der NM (die seine theoretischen Prämissen übernehmen) einer realen Ohnmacht zu entfliehen. Es gibt laut Latour Platz für politischen Widerstand. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist jedoch die Reflektion über die Form, in der die Politik im Kapitalismus auftritt. Es wird von einer ahistorischen „Politik“ gesprochen, die, dem Gedanken der Totalität entflohen, endlich etwas bewirken könne. Ansätze, die sich diese theoretischen Prämissen aneignen, laufen jedoch Gefahr, die kapitalistischen Zustände zu reproduzieren, indem ihre Form und Wirkmächtigkeit geleugnet wird. Denn Handlungsfähigkeit im Kapitalismus ist nur durch Einschränkungen zu erkaufen, etwa der Unterwerfung unter den Imperativ des Wachstums, dem Zwang, sich über Arbeit zu vermitteln oder der Einpreisung der Natur.19

Dasein ohne Man

Wie so viele poststrukturalistische Theoretiker_innen ist Bruno Latour von Martin Heidegger beeinflusst. Denn auch Heidegger ordnet sich in eine anti-dualistische Philosophietradition ein, die sich als Gegenpol zur klassisch aufklärerischen Philosophie sieht. Heideggers existenzialistische Philosophie ist davon geprägt, dass eine eigentliche, phänomenologische Welt, die sich jedem Einzelnen individuell eröffnet, einer abstrakt-mechanistischen und anonymen, modernen Welt (dem „Man“) und der Naturwissenschaft gegenübergestellt wird. Dadurch seien die Menschen „Seinsvergessen“. Der Einzelne, das Dasein, solle sich durch seine Entschlossenheit dem „Man“ erwehren und sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen, sein Sein erkennen.

Latour kritisiert nun an Heidegger, dass er die Moderne zu ernst genommen habe, dabei sei sie ja gar nicht die echte Realität. Heidegger sei also auf die Modernen und ihre Verfassung hereingefallen. Dementsprechend reinigt Latour Heideggers Philosophie vollkommen von der Kritik an der Moderne und ihrer abstrakten Welt. Eigentlich sei die phänomenologische Methode die Beschreibung der Realität und wir alle gar nicht „Seinsvergessen“20. Latour möchte also „das unmögliche Projekt Heideggers durch[führen].“21 Die einzige Kritik, an welche die Kritische Theorie bei aller Gegensätzlichkeit vielleicht noch kritisch anknüpfen könnte22, nämlich die Kritik der Moderne, wird somit ebenfalls einkassiert. Zurück bleibt eine harmlose phänomenologische Theorie, die in einem beschreibenden Positivismus endet.

Kritik an instrumenteller Vernunft

Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass eine kritische Theorie das instrumentelle Denken der Aufklärung affirmieren sollte. Ganz im Gegenteil ist die Kritik der Moderne für eine kritische Theorie unserer Zeit unabdingbar. Aber nicht jede Denkrichtung, die sich auf Hegel, Marx oder die Frankfurter Schule bezieht, affirmiert deshalb zwangsläufig eine absolute Beherrschung der Natur, ist somit zwangsläufig cartesianisch oder totalitär.

Es gibt beispielsweise eine Denkrichtung in der Tradition Alfred Sohn-Rethels, die sich in den 70er und 80er Jahren vor allem am Otto-Suhr-Institut in Berlin erkenntnistheoretischen Fragen stellte und die die moderne Denkweise kritisch aus der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur heraus zu erklären versuchte.23 Ein Ansatz, den man auch als soziale oder materialistische Erklärung bezeichnen könnte, da sie die Ideen aus der (alltäglichen) Praxis der Menschen, ihren sozialen Beziehungsweisen untereinander und mit der Natur zu erklären versucht. Hier wird Kapitalismus nicht nur „ökonomisch“ verstanden, sondern als Existenzweise. Diese im heutigen Universitätsbetrieb leider verschüttete Tradition berief sich in einer unorthodoxen Lesart auf Marx und kritisierte sowohl den orthodoxen Marxismus als auch die bürgerliche und poststrukturalistische Theoriebildung. Die Bücher aus dieser Zeit beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, sich dem Begriff der Totalität kritisch zu nähern, ohne die instrumentelle Aufklärung zu affirmieren. Ganz im Gegenteil wird die Moderne durch die Beschäftigung mit der unangenehmen Realität (Totalität, Geschichte, Fetisch) überhaupt erst erklär- und dadurch auch kritisierbar. Wenn man sich der kritischen Auseinandersetzung einfach entzieht, wird man die Begriffe nicht verstehen und somit auch nicht abschaffen können. Diese alternative, an Marx anknüpfende Theorietradition bietet auch einen unorthodoxen Begriff der Geschichte, welcher versucht die moderne Existenzweise aus sozialen Strukturen (und dazu gehört nicht nur die Mehrwertabschöpfung) zu erklären. Erklärungen für die Entstehung der Moderne lassen Latour und einige Theorien des NM hingegen vermissen.24

Positivismus

Latours Methode zielt darauf ab, die Welt zu beschreiben, statt sie kritisch zu hinterfragen. So schreiben Lars Gertenbach und Henning Laux in einer aktuellen Einführung:

„Während also das Modell der Erklärung das soziale Geschehen auf möglichst wenige Elemente und Wirkzusammenhänge reduziert und das Modell des Verstehens den Beobachtungsbereich der Soziologie anthropozentrisch verkürzt, erlaubt es nach Latour einzig das Modell der Beschreibung, die Liste der soziologisch relevanten Entitäten offen zu halten und den unterschiedlichen Assoziationen zu folgen. In einem ersten Schritt folgt die ANT [Akteur-Netzwerk-Theorie] daher der Ethnomethodologie, weil auch sie den Fokus der Forschung vom Warum auf das Wie verlagert.“25

Was dann als Kritik übrigbliebt, ist das Hinweisen auf die nicht-menschlichen Akteure bzw. das Auflösen der Dualismen. Man könnte sagen, Latours Ansatz ist eine inner-wissenschaftliche Kritik an der Ethnomethodologie und ihrer Beschränkung auf Menschen und ihre Handlungen.

Aufgrund dessen muss er sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht eigentlich ein Positivist ist. Etwas, das Latour auch nicht leugnet: „(…) ich bin, letztlich, ein naiver Realist, ein Positivist.“26 Dieser Positivismus ist nur die logische Folge einer jeden Theorie, die es tunlichst vermeidet, von einer Totalität oder einem Wesen zu sprechen. Dass eine positivistische Theorie zur Erneuerung der Kritischen Theorie beitragen soll, erscheint in Hinblick auf die scharfe Positivismuskritik der Frankfurter Schule absurd.

Neoliberalismus

In einer Würdigung des französischen Soziologen Gabriel Tarde27, der Latour maßgeblich beeinflusst hat, plädiert Latour für eine ökonomische Theorie, die frei sein müsse von Wesen, Stabilität und vorhersehbaren Gesetzen. Denn: Die Ökonomie lasse sich nicht kontrollieren und unter allgemeine Prinzipien fassen. Deshalb spricht sich Latour mit Tarde dafür aus, die Ökonomie anders zu denken, um der Politik ihre Gestaltungskraft zurückgeben zu können:

„Wenn man, ernstlich, akzeptierte, diese Immanenz ohne jegliche Transzendenz zu entfalten, könnte man dann nicht wieder von neuem Politik machen? Eine Politik, welche die Anhänger Mammons, des Gottes der Vorsehung und der automatischen Harmonie wie auch die des Staates uns seit so langem zu praktizieren verbieten – ja, diese Politik der Freiheit. Also Liberalismus?“28

Latour möchte sich nicht „fürchten“ vor dem Begriff des Liberalismus, schließlich ziele er auf eine Politik der „Freiheit“. Hier zeigt sich die naive Übernahme des neoliberalen Jargons, welcher nur die notwendige Folge ist, wenn man keinen gesellschaftlichen Begriff von Freiheit hat. Denn Freiheit im Kapitalismus hat einen spezifischen Charakter: Die Freiheit, innerhalb von Arbeit, Geld und Eigentum handeln zu können.

Statt sich anzuschauen, ob die Rede von Gesetzen und Einschränkungen nicht vielleicht doch einer Realität in der alltäglichen kapitalistischen Praxis entsprechen, wird einfach behauptet, das Problem liege schlicht im Denken, der falschen Einstellung. Dass die Politik keine Handlungsfähigkeit hat, liegt laut Latour und Tarde nicht an kapitalistischen Sachzwängen, sondern einfach an der falschen Denkweise, der falschen ökonomischen Theorie. Hier zeigt sich sehr gut, wie die fehlende Reflexion über die kapitalistische Form, in der die Politik heutzutage stattfindet, direkt in die Affirmation des Kapitalismus führt.

So ist es auch kein Zufall, dass Latours Versuch, die Ökonomie von Gesetzen zu befreien, sehr nach der neoliberalen ökonomischen Theorie Friedrich August von Hayeks klingt. Latour gibt an einer Stelle sogar zu, dass Tarde mit Hayek bis auf Hayeks Sozialdarwinismus „…vieles gemeinsam hätte…“29.

Wer hat den Kapitalismus abgeschafft?

„[Es] gibt wieder eine politische Aufgabe!“, freut sich Latour auf der letzten Seite von Wir sind nie modern gewesen.30 Mit einer „auf die Dinge ausgeweitete[n] Demokratie“31 wäre laut Latour die Einschränkung der modernen Verfassung aufgehoben und es wäre endlich möglich zu handeln. Latours Ziel ist also klar: Die Widerstände, denen die Politik heute begegnet, ist eigentlich nicht die reale Praxis, sondern die moderne Verfassung, welche in den Köpfen herumspukt.32

Das Verlangen danach, die der Politik Sachzwänge aufdrückende Struktur zu ignorieren, muss vor dem historischen Hintergrund der Situation der linken Bewegungen in den 70er und 80er Jahren gelesen werden: Die Revolution blieb aus und Ausweglosigkeit machte sich breit. Um dem etwas entgegenzusetzen, versuchte man einfach nicht mehr über den Kapitalismus zu reden, denn der schränkt ja ein. Mit fatalen Folgen, denn damit folgten sie laut Moishe Postone einem Pfad, der parallel zu den Wirtschaftswissenschaften begangen wurde: dem Neoliberalismus33:

„Die Linke hat nicht erkannt, dass sie Teil derselben Welle ist wie der Neoliberalismus. Auch im Neoliberalismus dreht sich alles um agency, das ist seine Ideologie. In einem gewissen Sinn reagieren beide, die Linken und die Neoliberalen, auf die Formen der 1950er und 1960er Jahre: den fordistischen Keynesianismus im Westen und die Planwirtschaft im Osten. Und es ist jeweils eine ziemlich einseitige Reaktion. Es gibt insofern ein Kontinuum zwischen den Linken, die über agency sprechen, und dem rechten Flügel, der in der ökonomischen Abteilung meiner Universität in Chicago sitzt: den Chicago Boys. Sie lieben es ebenfalls über agency zu sprechen.“34

Kritische Theorie muss die Realität, also die Moderne, beschreiben können, um die Widersprüche zu kritisieren, die durch ihre Dualismen auftreten. Latour hingegen beschreibt eine Realität, die gar nicht kritisiert werden soll, nämlich eine hybride, nicht-moderne und widerspruchslose Welt. Das Problem wird damit einseitig auf die Denkweise verlagert: Diese müssten wir nur ändern, um zu erkennen, dass wir gar nicht modern sind. Aber wenn, wie Latour behauptet, die Welt wirklich nicht modern wäre, müssten wir sie dann noch kritisieren?35

Wenn heute – vor allem im akademischen Betrieb – von Kritischer Theorie gesprochen wird, dann erhält man oftmals den Eindruck, die Kategorien der Kritischen Theorie seien veraltet. Die Kolloquien und Konferenzen (etwa des IfS) zeugen davon. Will der von Latour inspirierte NM als „neue Kritische Theorie“ bezeichnet werden können, dann müsste er erklären können, weshalb die Kategorien der Frankfurter Schule wie etwa der Fetisch, der Kapitalismus oder die Totalität einer alten Zeit angehören und heute nicht mehr gültig sind. Wann hat diese heimliche Revolution stattgefunden? Wer hat den Kapitalismus abgeschafft?

Sicherlich gibt es berechtigte Kritik an den Kategorien der Frankfurter Schule.36 Es erscheint aber kontraproduktiv, sie vollkommen zu verwerfen. Dadurch kippt man das Kind mit dem Bade aus und entfernt sich von der kapitalistischen Realität. Und das alles nur, um eine vermeintliche Handlungsfähigkeit zu ergreifen.37 So wird das abstrakte Handeln selbst zum Fetisch, zum Selbstzweck. Die kapitalistischen Kategorien werden übernommen und als emanzipatorisch dargestellt. Etwas, das sich sehr gut bei Latour nachzeichnen lässt und das teilweise auch auf andere Vertreter_innen der Neuen Materialismen zutrifft.

Die Ablehnung der zentralen Kategorien der Kritischen Theorie und eine von Entfremdung gereinigte Heidegger-Philosophie führt geradewegs zur Apologie politischer Reformen innerhalb des Kapitalismus, die in ähnlicher Form auch schon angewendet werden,38 und einer Affirmation des Neoliberalismus.

Bruno Latour ist niemand, der an die Kritische Theorie anknüpfen wollte. Im Gegenteil ersetzt er die Kritische Theorie durch etwas vollkommen anderes. Mit seinem Programm ist Latour näher an Popper, Hayek und Heidegger als an Horkheimer, Marcuse und Adorno. Der Begriff einer Kritischen Theorie wird hier so weit ausgetauscht, dass man sich fragt, warum die neuen Theorien überhaupt als Kritische Theorie bezeichnet werden wollen.

Fußnoten

1 Gertenbach, Lars/Laux, Henning (2019): Zur Aktualität von Bruno Latour. Wiesbaden: Springer und Hoppe, Katharina/Lemke, Thomas (2021): Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg: Junius.

2 https://www.academia.edu/40286307/New_Materialisms_preprint

3 Hoppe/Lemke 2021, 11.

4 U. a. Harman, Graham (2009): Prince of Networks. Bruno Latour and Metaphysics. Melbourne: re.press.

5 Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. Durham/London: Duke University Press.

6 Serre nimmt dafür in seinem Buch „Der Parasit“ (Serre, Michel (1987): Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.) das Beispiel des Fußballs, nach dem sich die Fußballspielenden richten müssen, wenn sie ein Fußballspiel bestreiten. Während des Spiels sei nie ganz auszumachen wer nun Subjekt, also Herrscher, und wer Objekt, also Beherrschter sei. Der Fußball, oder die Spielenden?

7 Haraway, Donna (1985): Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s. In: Socialist Review. Band 80, 1985, S. 65–108.

8 Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag., 49 f.

9 Damit sind auch der Marxismus und die Fetischkritik gemeint. Ziel einer Kritischen Theorie für unsere Zeit könnte demgegenüber sein, ein historisch spezifisches Wesen zu identifizieren, das abgeschafft werden kann und somit nicht ontologisch ist. Für eine Kritik an Latours Kritik an Marx Fetischkritik siehe (White, Hylton (2013): Materiality, Form, and Context: Marx Contra Latour. In: Victorian Studies, vol. 55, no. 4, pp. 667–82.).

10 Latour 2008, 55

11 Latour behauptet in einer sehr fragwürdigen Konstruktion, aufgrund der Gleichzeitigkeit von Übersetzung und Reinigung wäre es möglich immer mehr Hybride herzustellen. Deshalb wären die Modernen unbesiegbar. Die Natur wird also nicht zerstört oder bis ins Unendliche ausgebeutet aufgrund der kapitalistischen Existenzweise, sondern weil die Modernen aufgrund ihrer Verfassung „unbesiegbar“ wären.

12 Haraway knüpft daran mit ihrem Konzept der „naturecultures“ an. Zur Kritik dieses Begriffs siehe (Stache, Christian (2017): Kapitalismus und Naturzerstörung: Zur kritischen Theorie des gesellschaftlichen Naturverhältnisses. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich., 61 ff.).

13 Diese Auffassung, alle Ereignisse auf eine Ebene zu reduzieren, reiht sich ein in die aktuelle Debatte um die „Multidirektionale Erinnerung“ angestoßen durch A. Dirk Moses. In seiner Kritik an Moses neuestem Buch schreibt der Historiker Stephan Malinowski, Moses schaffe „durch seine Dekontextualisierung eine analytische Nacht, in der alle Katzen grau sind.“ Und dass „derartig aufgeweichten Kategorien“ der direkte Weg in die Banalität wären. (Malinowski, 27.08.2023, https://zeitung.faz.net/fas/feuilleton/2023-08-27/b3878584100c6841d25aad74fbb4479c/?GEPC=s9) Etwas ähnliches könnte man Latour auch vorwerfen, wenn er Vormoderne und Moderne einfach nicht mehr unterscheiden möchte. So wie Moses den Holocaust von dem Krieg gegen den Terror oder der Vernichtung der Azteken nicht unterscheiden möchte, möchte Latour die moderne Wissenschaft nicht von der vormodernen Lebensweise unterscheiden. Wenn bei Moses wie Malinowski ihm unterstellt „zu allen Zeiten viele Menschen an vielen Orten umgebracht wurden“(Malinowski), wird bei Latour „zu allen Zeiten viele Hybride an vielen Orten produziert“.

14 Horkheimer, Max (2011): Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer Verlag., 225

15 Kollektive seien beispielsweise Zusammenschlüsse von Wissenschaftler_innen, Konzernen, Politiker_innen, Menschen und nicht-menschlichen Wesen. Diese müssten ständig ihre Stabilität erhalten und könnten aber auch wieder verschwinden. Somit geben sie mehr Handlungsspielraum als eine Transzendente Totalität.

16 Latour 2008, 166. Das gleiche gilt auch für den Kapitalismus. In einem Vortrag (Latour, Bruno: (2014): On some of the affects of capitalism. http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/136-AFFECTS-OF-K-COPENHAGUE.pdf) in dem Latour den Kapitalismus diskutiert, spricht er von der „giftigen Idee des Kapitalismus“. Hier spricht Latour vom Kapitalismus als etwas, das in den Köpfen der Menschen spukt und sie dadurch hoffnungslos macht. Da es nicht gelang den Kapitalismus zu stürzen, sollte man es vielleicht lassen. „Its not capitalism you should revolutionize but rather your ways of thinking.“ Solche Sätze erinnern heutzutage an Motivationscoachs: Alles eine Frage des Mindsets. Der Idealismus Latours wird mit der Abschlussthese des Vortrags offensichtlich: „Economists have hitherto only changed the world in various ways, the point is now to interpret it.” Auch wenn das Wort die ganze Zeit verwendet wird, ist in diesem Vortrag nicht klar, was er denn mit Kapitalismus meint.

17 Latour 2008, 166

18 Man hat den Eindruck, dass Latour sich nie mit der Frankfurter Schule auseinandergesetzt hat. Seine Kritik zielt meist auf die klassischen Sozialtheorien, den Marxismus oder die Postmodernen, welche er als kritische Theorie bezeichnet.

19 Etwas, das Latour dann auch fordert. Die politische Handlungsfähigkeit endet dann bei einer Abwandlung des banalen CO2 Äquivalent, das längst schon gang und gebe ist und bei dem höchst fraglich ist ob es den Klimawandel aufhalten wird. Zur Kritik an dieser Lösung bei Latour siehe: (Tellmann, Ute (2016): Politische Ökologie, Kalkulation und die De-Materialisierung der Dingpolitik. In: Soziale Welt, 67. Jahrg., H. 3, Themenheft: Bruno Latours neue politische Soziologie, pp. 333-351.)

20 Latour 2008, 87

21 Latour 2008, 90

22 Etwas, das Herbert Marcuse bekanntermaßen versuchte. Seine damalige Kritik an Heidegger passt auch heute noch auf Latour: „Die Richtung der ökonomischen Bewegung aber kann als geschichtliche Faktizität nur aus der Analyse des konkreten geschichtlichen Zustandes abgenommen werden und ist der Phänomenologie der Geschichtlichkeit als Grundstruktur des Daseins nicht erreichbar. – Stets muß eine solche ökonomisch-geschichtliche Analyse jeder Theorie einer geschichtlichen Tat vorangegangen sein, denn sie legt erst den Boden frei, auf dem diese Tat als notwendige Veränderung geschehen kann.“ (Marcuse, Herbert/Schmidt, Alfred (1973): Existenzialistische Marx-Interpretation. Frankfurt am Main: EVA., 80 f.). Somit kritisiert Marcuse hier auch einen ahistorischen Begriff von Politik, der sich nicht über seine eigenen gesellschaftlichen Bedingungen aufklärt.

23 Zu nennen wären hier unter anderem Manfred Dahlmann, Bodo von Greiff, Rudolf Wolfgang Müller, Norbert Kapferer oder Elvira Scheich und Claus Peter Ortlieb.

24 Das dualistische Weltbild sei nämlich – und hier denkt Latour ganz im Geiste Nietzsches, durch verschiedene Philosophen oder Gruppen „erfunden“ worden. Diese konnten sich in bestimmten historischen Situationen durchsetzen und ihre Annahmen seien bis heute unhinterfragt hingenommen worden. Diese Auffassung gleicht stellenweise der Idee eines Geniekults oder einer Verschwörung, in dem einzelne Menschen oder Gruppen die Denkweise ganzer Kontinente vorgeben.

25 Gertenbach/Laux 2019, 133 f.

26 Latour, Bruno: (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 270.

27 Latour, Bruno/Lepinay, Vincent (2010): Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

28 Latour/Lepinay 2010, 14

29 Latour/Lepinay 2010, 108

30 Latour 2008, 192.

31 Latour 2008, 188.

32 In einer Einführung zu den neuen Materialismen kritisieren Katharina Hoppe und Thomas Lemke, dass das Auflösen der Dualismen nicht der Weisheit letzter Schluss ist und der Kapitalismus und Technokratie in den Neuen Materialismen zu häufig unhinterfragt bleiben (Hoppe/Lemke 2021, 144 und 165). Fraglich ist, ob dieses liberale Politikverständnis nicht in den Prämissen der NM (wie sie hier beispielhaft an Bruno Latour aufgezeigt wurden) schon angelegt und der Theorie immanent ist.

33 Diese Parallelisierung sehen Hoppe und Lemke ebenfalls, für sie ist diese Analogie jedoch „zu schematisch und vereinfachend.“ (Hoppe/Lemke 2021, 155).

34 https://www.youtube.com/watch?v=eqjiznDQ3Ho (Min. 14:37)

35 Eine Ausnahme ist Donna Haraway, auch wenn sie sonst viel von Latour übernimmt. Sie nimmt den Begriff Kapitalismus ernst und sieht in der Dialektik der Aufklärung eine „…verbündete Kritik an Fortschritt und Modernisierung…“ (Haraway (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt/New York: Campus., 253) Außerdem hat sie eine notwendige Kritik am Arbeitsfetisch des traditionellen Marxismus. Gleichzeitig ist leider, wie bei so vielen Vertreter_innen der NM, nicht klar, was sie eigentlich unter Kapitalismus versteht. Auch Karen Barad kritisiert Latour für seine unkritische Übernahme des liberalen Staats (Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Durham/London: Duke University Press, 58).

36 Moishe Postone hat das beispielsweise getan (Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und Gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg: ca-ira Verlag, 141 ff.).

37 Es gibt hier auch eine Ähnlichkeit zu Heidegger Existenzialphilosophie, in der das Dasein sein Schicksal in der Entschlossenheit ergreifen muss. Gegen jeden Widerstand des „Man“. Hier gilt wieder die Kritik von Marcuse an Heidegger, dass man wissen muss mit was man es zu tun hat, bevor man zur „Tat“ schreitet. Die „Politik“ ist nicht einfach so da, genauso wie das „In-der-Welt-sein“ nicht im Vakuum stattfindet.

38 Hoppe/Lemke (2021, 156 f.) geben Beispiele und laut Ute Tellmann findet bei Latour eine „De-Materialisierung der Dingpolitik“, also das Einführen der klassischen technokratischen Kalkulation durch die Hintertür, statt (Tellmann 2016).