25.12.2003 

EINE FRAGE DES STANDPUNKTS

Anmerkungen zur Aufklärungskritik

Anselm Jappe

Es wäre recht banal, der Aufklärungskritik einfach vorzuwerfen, sie sei selber noch dem aufklärerischen Denken verhaftet. Die verschiedenen Varianten dieses Vorwurfs sind durchaus überzeugend von Kurz selber widerlegt worden. Aber in einem Punkt scheint die Aufklärungskritik tatsächlich zutiefst aufklärerisch zu bleiben, ja aufklärerischer als die Aufklärung selbst zu sein: in dem Wunsch, tabula rasa zu machen, im Ikonoklasmus, im Bruch mit allen Traditionen. Wenn man „sich nur mit Zorn und Ekel vom geistigen Gesamtmüll des Abendlands abwenden“ kann (Robert Kurz, Blutige Vernunft in: Krisis 25 [2002], S. 66; im folgenden zit. als BV), dann bleibt tatsächlich nur noch der völlige Neuanfang, ohne auf irgend etwas Überliefertem aufbauen zu können.

Auch die Hegelsche Aufhebung kommt nun mit dem Rest des Aufklärungsdenkens auf den Müllhaufen der Geschichte. Bruch pur, ab morgen wird alles anders. Aber gerade diese Annahme unterscheidet die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihre bis heute andauernden Fortführungen von allen früheren Denkfiguren (wenn man von gewissen, auf jeden Fall anders gearteten, religiösen Ideen der Palingenese oder der zyklischen Welterneuerung absieht). Für die Aufklärer war die ganze Geschichte bis zu ihrer Ankunft ein einziger Irrtum gewesen, eine ununterbrochene Kette aus Verbrechen, Dummheit und Stumpfsinn. „Die bisherige Menschheit, so noch Kant in seinen sämtlichen Hauptwerken, sei in ihrem Denken auf systematische Fehler und Inkonsequenzen verfallen; sie habe sich der Irrationalität und falschen Neigungen hingegeben“ (BV, S. 72) – so faßt Kurz Kant zusammen. Aber er selber sieht das auch nicht sehr anders. Die Aufklärung (deren Pathos einen manchmal, trotz aller Kritik an ihr, immer noch anrühren kann) verglich gern sich selbst mit der Morgenröte, weil alle ihr vorangegangenen Jahrhunderte nur eine lange Nacht gewesen seien. In der Vorstellung, alles besser machen zu können und aus der eigenen Vernunft heraus, oder was man dafür hält, die Welt neu machen zu können, drückt sich bestens die Hybris und der Machbarkeitswahn der industriellen Warengesellschaft aus, für welche die Welt nur ein Material ist, in dem sich die reine Form zu ihrem höheren Ruhm realisieren kann. Die revolutionären Bewegungen der letzten 210 Jahre haben dementsprechend, als konzentriertester Ausdruck der aufklärerischen Logik, auch diese Vorstellung des völligen Neuanfangs auf die Spitze getrieben (und wirkten damit natürlich oft sympathisch gegenüber den Reformisten, die vieles an den schlecht bestehenden Verhältnissen rettenswert fanden): sei es die französische Revolution mit ihrem neuen Kalender, sei es die russische mit ihrem „neuen Menschen“, sei es die spanische, in der Buenaventura Durruti erklärte, das Proletariat würde nur Ruinen erben, aber das würde ihm keine Angst machen, sei es die chinesische Kulturrevolution mit ihrer radikalen Ablehnung der „vier alten: Ideen, Kultur, Sitten, Gebräuche“ und ihren Verwüstungsorgien. Atatürks Reformen, die sich auch auf Schrift und Sprache, Nachnamen und Zeitrechnung bezogen, sind ein anderes Beispiel. Stets wandte sich der neue Staat „voll Zorn und Ekel“ vom Müll der Vergangenheit ab, um eine neue Welt nach seinem Ebenbild zu schaffen. Dieselbe Haltung findet sich auch bei spätaufklärerischen Extremisten wie den Postmodernen und den rein partiellen Emanzipationsbestrebungen (warenförmige Emanzipation der Frauen, der Homosexuellen, der „Kolonialvölker“), bei denen die Gegenwart als die erste Epoche der Geschichte erscheint, in die überhaupt ein Lichtstrahl fällt nach Jahrtausenden.

Aber wenn, laut Kurz, die Aufklärung keine transzendierenden Momente der Emanzipation enthält, wo kommen diese – sofern man annimmt, daß es sie überhaupt gibt – dann eigentlich her? Wenn sie nicht vom Mond gefallen sein sollen, und wenn sie auch nicht, wie es die marxistische Aneignung der Aufklärungsideologie will, Abfallprodukt oder „dialektischer Umschlag“ der Aufklärungsideen selbst sind, müssen sie also schon bei Beginn der Aufklärung vorhanden gewesen sein. Das heißt, daß sie aus den voraufklärerischen Gesellschaftsformationen stammen. Wie ist es sonst überhaupt möglich, daß eine so ekel- und zornerregende Geschichte Menschen hervorgebracht hat, welche die Warengesellschaft zu kritisieren vermögen? Wie erklärt es sich eigentlich, daß die Warensubjekte nicht in der Warengesellschaft befangen sind wie die Ameisen im Ameisenhaufen? Zu behaupten, daß die Sinnlichkeit im Aufklärungskontext nur eine blutige und perverse sein kann (BV, S. 82), ist gerade ein Beispiel der subsumierenden Identitätslogik: es gab ja – gerade in der Romantik – nicht nur Bluträusche und Nekrophilie, sondern auch ganz andere Formen der Sinnlichkeit. In diesen äußerte sich eben das nicht in der Wertlogik Aufgehende. Wenn sich da nicht etwas Widerständiges regen würde, hätte ja die Aufklärung von Anfang an völlig gewonnen und wäre nach zwei Jahrhunderten keinerlei Widerstand mehr denkbar. Kurz’ Behauptung, die Wertlogik würde auch das von ihr Abgespaltene völlig überformen und verderben, steht überdies im Widerspruch zu seiner öfters wiederholten Bemerkung, in allen bisherigen Gesellschaftsformen, der aufklärerischen wie den vormodernen, habe es etwas an den Individuen gegeben, das nicht ganz in den Verhältnissen aufging (Robert Kurz, Negative Ontologie, in: Krisis 26 [2002], S. 24; im folgenden zit. als NO), denn stets hätten die sinnlich-sozialen Individuen mit ihrer eigenen negativen Form gerungen (NO, S. 28). Allerdings ist das sicher nicht so aufzufassen, als gäbe es einen immerwährenden Konflikt zwischen dem „eigentlichen“ Menschen und den verschiedenen ihn vergewaltigenden Verhältnissen. Eher scheint es sich um einen Konflikt zwischen verschiedenen Fetischismus- oder Vermittlungsformen zu handeln. Aber wenn die Menschheit nicht ganz in den Fetischverhältnissen aufgeht, was ist dann der Ursprung desjenigen Teils, der nicht aufgeht?

Man kann auch fragen: ist der moderne Warenfetischismus nur die Krönung einer traurigen Geschichte, in der stets die eine oder andere Fetischform herrschte1, so daß die Hoffnung, es könne eines Tages eine nichtfetischistische Gesellschaft geben, sich auf nichts stützen kann, was existiert oder existiert hat? Oder stellt der Warenfetischismus vielmehr einen kolossalen „Betriebsunfall“ der Geschichte dar, eine katastrophale Kehrtwendung inmitten einer Menschheitsentwicklung, die auch viele positive Züge aufwies (das scheint die Meinung z. B. eines Karl Polanyi zu sein)?

Die Frage ist also die nach dem Standpunkt der Kritik, eine Frage, die auch Ernst Lohoff in seiner Kritik an meinem Artikel „Gene, Werte, Bauernaufstände“ (Krisis 25 [2002]) aufwirft. Anders gesagt, woran gemessen ist die Warengesellschaft eigentlich schlecht? Gibt es einen positiven Vergleichsmaßstab, oder nur einen immanent-negativen? Wenn Kurz schreibt, vormoderne Zustände seien nicht vom Standpunkt der Moderne aus zu kritisieren, sondern von dem der Kritik an der Moderne aus (NO, S. 24), verschiebt er das Problem nur. Denn von welchem Standpunkt aus kritisiert man dann Moderne und Vormoderne zusammen? Beim Versuch, diesen Standpunkt zu benennen, können natürlich auch Elemente auftreten, die der „radikalen Wertkritik“ „fremd“ sind (Lohoff). Denn die Wertkritik ist eine Kritik an der Wertvergesellschaftung auf deren eigenem Boden, indem sie deren Unlebbarkeit und letztliche Unhaltbarkeit aufzeigt. Aber sie hat selber, als Wertkritik, keine positiven Maßstäbe. Sie kann nicht, wie es die marxistische Variante der Aufklärung tut, behaupten, der Kapitalismus erarbeite eigentlich positive Inhalte, die es ihm nur zu entreißen gelte. Für die Wertkritik erzeugt die Negativität der Wertvergesellschaftung nicht aus sich selbst heraus die Positivität. Die Wertkritik muß deshalb die positiven Maßstäbe zwangsläufig von außen aufnehmen und sich dabei auch von anderen Ansätzen inspirieren lassen, die versucht haben, das Unbehagen an der Warengesellschaft zu formulieren. Wenn es, wie Kurz fordert, darum geht, „alles bisherige Denken“ „neu zu differenzieren“ und „anders zu sortieren“ (NO, S. 32), dann kann dabei einzelnen Elementen der bürgerlichen Gegenaufklärung ebenso eine partielle Wahrheit zuerkannt werden wie manchen Bruchstücken des Arbeiterbewegungsmarxismus.

Es ist klar, daß kein existierendes Gegenmodell mehr als Vergleichsmaßstab angeführt werden kann, wie es die Verteidiger der UdSSR taten. Noch kann auf bessere Zustände verwiesen werden, die angeblich bis vor kurzem existiert haben, wie es die Ludditen oder andere Revoltierende während des Übergangs von der vormodernen zur modernen Gesellschaft gern taten. Auch die bloße Vorstellung einer besseren Zukunft, vom einfachen Schlaraffenland über die Rückkehr Christi bis zur schönsten Blochschen Utopie reicht nicht aus, da diesen Gegenbildern stets etwas Willkürliches anhaftet. Eine andere Möglichkeit – die Kurz selber wählt – besteht in der Behauptung, das emanzipative Moment beruhe auf dem Leiden, das die Warengesellschaft erzeugt, also auf dem Nicht-Aufgehen der realen Individuen in der gesellschaftlichen Subjektform des Arbeiters, Geldverdieners usw. Die Warengesellschaft sei einfach unerträglich, das brauche ebensowenig begründet zu werden wie das Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte. Leider legt gerade auf dieser Ebene der Mensch, jedenfalls der moderne, eine unangenehme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an den Tag. Sicher empfindet jeder körperliche Schmerzen als unangenehm, und zehn Stunden Steineklopfen am Tag würde auch kaum jemand unterhaltsam finden. Aber abgesehen von solchen Extrembeispielen läßt die Erfahrung des Leidens sich kaum verallgemeinern, da sie von Sozialisation und Gewöhnung abhängt. Den ganzen Tag mit Videospielen und „Playstations“ verbringen zu müssen, würde immer noch manchen Zeitgenossen wie eine Strafe aus dem achten Höllenkreis vorkommen. Aber für viele andere scheint es nichts Schöneres als das zu geben; und für diese wäre es umgekehrt eine Höllenpein, Marxens Fetischtheorie oder die Gedichte Góngoras lesen und interpretieren zu sollen. Ständig im Flugzeug von einer Konferenz zur anderen zu hetzen und in der Zwischenzeit ständig am Handy zu hängen, finden viele Manager so toll, daß sie unter Entzugserscheinungen leiden, wenn sie es nicht tun. Selbst manche Fabrikarbeiter der alten Schule litten angeblich unter Depressionen, wenn sie in Pension gingen. Jahrhundertelang fanden Millionen von Menschen Gefallen am Fasten, Wachen, Beten und Bußgürteltragen. Nicht einmal das physiologische Niveau ist ein zuverlässiger Maßstab: Menschen, die in Tokio oder Los Angeles aufgewachsen sind, haben angeblich Atemprobleme, wenn sie an die reine Luft kommen. Viele Menschen geben ihr in der Fabrik sauer verdientes Geld aus, um in Diskotheken Fabriklärm zu hören. Kurzum: worunter die Individuen leiden, das ist höchst variabel. Historisch gesehen sind es keineswegs die unerträglichsten Situationen, die den größten Widerstand hervorbringen, sonst müßte die indische Geschichte voller Revolutionen sein. Es hat auch schon größere Leiden und Widersprüche, Unerträglichkeiten und Unzumutbarkeiten als die in Westeuropa im Jahre 2002 herrschenden gegeben. Überdies sind die Revolten, die auf unmittelbar unerträglichen Situationen beruhen, oft die ziellosesten gewesen und sind am leichtesten zu manipulieren: wer nur aus Hunger revoltiert, ist auch mit einem Sack Mehl zufriedenzustellen. Historisch scheinen größere Umbrüche eher da zu entstehen, wo sich zum Unbehagen (das ja in irgendeiner Form überall und stets vorhanden ist) die konkrete Vorstellung von etwas Besserem gesellt, mag diese auch selber illusionär sein.

Gerade das totalisierende Fortschreiten der Warenvergesellschaftung macht es immer schwieriger, das eigene Leiden überhaupt anzuerkennen bzw. darin mehr als ein vages Unbehagen oder die Folge eines individuellen Versagens zu sehen. Leiden wird vor allem da wahrgenommen, wo es als neu und fremd empfunden wird, weil die Individuen über einen Standpunkt, einen Maßstab verfügen, an dem gemessen das neue Leiden als nicht selbstverständlich erscheint. So ging der Widerstand in den norditalienischen Fabriken in den sechziger und siebziger Jahren vor allem von Einwanderern aus dem agrarischen Süditalien aus. Deren frühere Lebensumstände waren nicht unbedingt besser als die in der Fabrik. Aber sie boten einen hinreichenden Maßstab, um zum Beispiel die Absurdität des abstrakten Zeitmaßes erkennen zu können. Im 18. Jahrhundert hieß es in Großbritannien, eher könne man einen Hirsch vor den Pflug spannen als einen schottischen Highlander zum Arbeiten in der Fabrik bewegen. Es geht dabei gar nicht immer immer um den Vergleich mit einem tatsächlich erfahrenen „besseren Leben“, sondern oft eher um Vorstellungen der Art, daß gewisse Tätigkeiten „unwürdig“ oder „unmoralisch“ seien oder dem Herkommen widersprächen. Kurosawas Dersu Uzala fand es in der Stadt absonderlich, Wasser und Holz kaufen zu sollen.

Kurz selber benennt den Standpunkt, von dem aus der totalitäre Anspruch des Warenfetischismus bloßgestellt werden kann und an dem er praktisch zerschellt: die „wirklichen, sinnlich-sozialen Individuen gerade in ihrem qualitativen Verschiedensein“ (NO, S. 14), die an ihrer Nicht-Übereinstimmung mit den Fetischformen leiden: also der abgespaltene Bereich, alles, was nicht von der Wertform erfaßt ist und auch nie vollständig in sie zu zwängen ist. Aber wo kommen diese „wirklichen, sinnlich-sozialen Individuen“ her, die Kurz selbst der „abstrakten Sinnlichkeit“ der Aufklärungsphilosophie gegenüberstellt? Es handelt sich ja dabei keineswegs um den Menschen als biologisches Naturwesen, sondern um den Menschen als geschichtlich gewordenes, eben als soziales Wesen. Wie ist er entstanden? Doch wohl im Lauf einer vieltausendjährigen Entwicklung. Das nicht in der Wertvergesellschaftung aufgehende Individuum ist in seiner „Sinnlichkeit, praktischen Gegenständlichkeit und sozialen Bedürftigkeit“ (BV, S. 76) eindeutig ein historisches Produkt, ganz im Sinne von Marxens Pariser Manuskripten: „Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist […] Es versteht sich, daß das menschliche Auge anders genießt als das rohe, unmenschliche Auge, das menschliche Ohr anders als das rohe Ohr etc. […] Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur. Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. […] Also die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht, gehört dazu, sowohl um die Sinne des Menschen menschlich zu machen als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen“ (MEW 40/540-542).

Der nicht wertförmige Mensch liegt also nicht nur in der Zukunft, sondern ist, wenngleich in der Form von Disjecta membra, bereits vorhanden. Und zwar nicht als ein göttlicher Funken in den Seelen, sondern als Ergebnis einer historischen Entwicklung, ein Ergebnis, das wohl im wesentlichen schon am Ende des Neolithikums und bei der Entstehung der agrarischen Hochkulturen vorhanden war, auch wenn es sich in den darauffolgenden Jahrtausenden stark ausdifferenziert hat. Wie kommt es sonst überhaupt, daß wir uns nach Frieden und Schönheit, Liebe und Freundschaft, Harmonie und Anregung, Geruhsamkeit und Konvivialität sehnen? Es handelt sich dabei ja um kein biologisches Erbe, wie es das Zurückziehen der Hand von der heißen Herdplatte ist. In der Tat kann dieser Prozeß der Menschwerdung im emphatischen Sinne stets scheitern, individuell wie kollektiv.

Aber wenn dieser „reale Mensch“ einen positiven Abstoßungspunkt von der Wertlogik abgibt, können doch auch die Verhältnisse und die Prozesse, die ihn hervorgebracht haben, nicht völlig schlecht gewesen sein. Sie waren jedoch fetischistische Verhältnisse, ohne Zweifel. Auf dieses Paradox sind zwei Antworten denkbar, weil es zwei verschiedene mögliche Auffassungen von „Fetischismus“ gibt, die auch im wertkritischen Kontext nicht immer auseinandergehalten werden. Entweder meint Fetischismus eine Art von durch Dinge vermittelte Herrschaftsverhältnisse. In diesem Sinne war zum Beispiel der Feudalismus ein durch den Bodenbesitz vermitteltes Fetischsystem. Kurz’ Behauptung, die früheren Fetischformen hätten den Menschen noch verhältnismäßig locker gesessen, eben wie Masken, scheint dieser Auffassung des Fetischismus als etwas den Individuen Auferlegtes nahezustehen. Frühere Fetischformen in diesem Sinne waren weit weniger totalitär als der Warenfetisch, sie brausten gewissermaßen über die realen Gesellschaften hinweg und beschränkten sich darauf, deren Mehrprodukt abzusaugen und zu verprassen. Weit weniger als der Kapitalismus trugen sie selbst dazu bei, dieses Mehrprodukt herzustellen. Die wirkliche Menschheitsgeschichte ging gewissermaßen unterhalb dieser Oberfläche vor sich, und auf dieser Ebene kann man tatsächlich, zumindest auf gewisse Epochen und Regionen bezogen, so etwas wie einen „Fortschritt“ feststellen: seien es die Verbesserungen in der Landwirtschaft oder der Seefahrt oder dem Transportwesen während des Mittelalters (Einführung der Dreifelderwirtschaft, des Räderpflugs, der Wasser- und der Windmühle, des Kompasses, des Steigbügels), seien es kulturelle Fortschritte, wie die Verfeinerung des Rhythmusgefühls in der Entwicklung der europäischen Lyrik ab 1100. Die politische Macht wirkte hier oft als reiner Störfaktor: wenn die Nahrungsmittel, die ein europäischer Bauer zur Verfügung hatte, ab dem Ende des Mittelalters ständig unter dem mittelalterlichen Niveau lagen, war das keineswegs einer verringerten Produktivität der Felder als solcher geschuldet. Die Hungersnöte des 17. Jahrhunderts waren nicht in erster Linie der mangelnden Produktivkraftentwicklung geschuldet, denn auf der Ebene der Ernteerträge war die frühe Neuzeit tatsächlich „fortgeschrittener“ als das Mittelalter. Es besteht deshalb Grund zu meinen, die Menschheit habe sich nach und nach von ihrer Naturverhaftetheit befreit und hätte sich, bei Sprengung ihrer politischen Fesseln, zu emanzipativen Zuständen fortentwickeln können. In diese, im großen Ganzen und trotz schwerster Rückschläge aufsteigende Linie wäre die Warengesellschaft ab der „Feuerwaffenrevolution“ dann wie ein Blitz eingeschlagen. Darum geht es ja auch bei der Aufklärungskritik, wie sie bereits im Schwarzbuch Kapitalismus dargelegt wurde: die Wertvergesellschaftung legte sich wie ein Leichentuch über Verhältnisse, die, wenn sie schon nicht wirklich selbstbestimmt waren, es doch zumindest hätten werden können oder es ansatzweise waren, da sie nicht durch Geld und Ware, Wert und Recht, Arbeit und Staat vermittelt waren. Die Aufklärungskritik gibt selber zu, daß es in den von der Aufklärungsideologie „pauschal abqualifizierten agrarischen Gesellschaften vormoderner Verhältnisse“ nicht nur „dumpfe Viehherdenstruktur“ ohne jede „Individualität“ gab (NO, S. 2), sondern auch positive Anknüpfungspunkte. Sicher, es sind nur Anknüpfungspunkte. Aber diese können immerhin einen teilweisen Vergleichsmaßstab abgeben. Und natürlich geht es auch immer um die „verschütteten Möglichkeiten“. Damit sind nicht nur die gescheiterten Revolten gemeint, sondern alle Formen, in denen die vorkapitalistischen Kulturen eine Vorstellung davon gegeben haben, wozu sie in der Lage gewesen wären: in Musik und Lyrik, Gesang und Epos, Mythos und Religion.

Von einem wertkritischen Standpunkt aus ist allerdings festzustellen, daß die fetischistische Struktur einer Gesellschaft, auch einer vormodernen, in einer unbewußten alltäglichen Bewußtseins- und Handlungsstruktur besteht, die nicht nur die Machtstrukturen, sondern auch die mikrologische Ebene umfaßt. So gesehen waren, auch dort, wo es in den Agrargesellschaften mehr oder weniger selbstbestimmte Reproduktionsverhältnisse gab, trotzdem Grund und Boden das eigentliche soziale Subjekt, das „automatische Subjekt“. In diesem Fall ist „Fetischismus“ letztlich identisch mit „entfremdeter“ oder „unbewußter gesellschaftlicher Vermittlung“, als „gemeinsame Unterwerfung unter entfremdete, verselbständigte Formverhältnisse“ (NO, S. 26). Alle bisherigen Gesellschaften waren nicht nur vom Fetischismus äußerlich beherrscht, sie waren fetischistisch konstituiert. Dann aber ist das in den letzten 8000 Jahren entstandene reale, soziale, sinnliche Individuum auch das Ergebnis von Fetischverhältnissen. Deren Endresultat wäre dann also eher zwiespältig als rein negativ2. Die „zivilisatorische Mission“, die sich Aufklärung und Kapitalismus so gern auf ihre Fahnen schreiben, kann mit viel mehr Recht der vorkapitalistischen Geschichte zugeschrieben werden3. Und zwar, um mit dieser so umzugehen, wie es der Marxismus – zu Unrecht – mit der „zivilisatorischen Mission“ des Kapitalismus tun wollte: sie nicht als ein anzubetendes Erbe betrachten, sondern als einen Ansatzpunkt, den es, unter veränderten Umständen, weiterzuführen gilt. Es gibt genug Grund, sich von der Aufklärung mit Zorn und Ekel abzuwenden. Aber nicht unbedingt vom ganzen „Abendland“. Und was soll das schon heißen? Von seinen Philosophen? Das ist oft berechtigt. Aber auch von seiner Musik? Von seiner Literatur? Von der traditionellen Architektur4? Natürlich kann keine einzelne vergangene Gesellschaft als positiver Maßstab dienen und hatte es wohl jede, oder fast jede, verdient, zugrunde zu gehen. Es ist in der Gesamtheit ihrer Lebensäußerungen, daß sich eine „Menschheit“ entwickelt hat, die tatsächlich für sich in Anspruch nehmen kann, mit ihren tierischen Verwandten nicht mehr als ein paar Gene gemeinsam zu haben und die sogar manchmal Resultate von „einmaliger Großartigkeit“ (Lohoff) hervorgebracht hat. Sicher, angesichts der heutigen, von Aufklärung und Wertvergesellschaftung durchgeformten Menschen können solche Äußerungen komisch oder verwegen klingen.

Natürlich gibt es keine „Natur“, die nicht schon jeweils von der Gesellschaft überformt wäre. Es gibt keine Natur, die als Maßstab anzurufen wäre, an der die Falschheit der Warengesellschaft sich als solche erweist, und erst recht keine Natur, die als normative Setzung dienen kann im Sinne eines Ausgangspunkts, von dem sich zu entfernen Sünde sei. Aber es gibt eine „Natur“ im Rahmen der Menschheitsentwicklung. So wie von einer „relativen Ontologie“ (obwohl das eigentlich ein Oxymoron ist) im Rahmen der geschichtlichen Fetischverhältnisse gesprochen werden kann – also Umstände, die nicht zu „dem Menschen“ als solchen gehören, die aber mehr oder weniger in allen Formen der bisherigen „Vorgeschichte“ aufgefunden werden können – so kann auch von einer binnengeschichtlichen „Natur“ gesprochen werden5. Jenes „sozial-sinnliche“ Wesen, das sich heute gegen die Zumutungen des Kapitalismus wehrt, hat sich im wesentlichen von der neolithischen Revolution bis zur Ankunft der industriellen Revolution mit erstaunlicher Konstanz und Einheitlichkeit erhalten. In diesem Rahmen kann es als „natürlich“ betrachtet werden. Diese „Natur“ ist kein Ursprung, sondern selber ein geschichtliches Produkt im ständigen Werden6. Die Landwirtschaft ist, wie Lohoff selber zugibt, im höchsten Maße eine historisch gewordene Natur – aber stets auf einer Naturbasis. Die Warengesellschaft versucht, ein Wesen nach ihrem eigenen Ebenbilde zu schaffen, das nichts als die Warengesellschaft kennt. Aber bis ihr das nicht gelingt, stößt sie immer wieder auf den „alten Adam“, der die Warengesellschaft, zumindest hin und wieder, als die Zumutung erlebt, die sie ist. Im Lauf der Jahrtausende hat sich ein „quasi-natürliches“ Substrat herausgebildet. So ist es in diesem geschichtlichen Rahmen „natürlich“, gekochte Speisen sitzend und in Ruhe zu verzehren, während stehend einen Hamburger herunterzuschlingen als „unnatürlich“ erscheint – obwohl die McDonald’s-Besucher darunter durchaus nicht so zu leiden scheinen, wie man leidet, wenn man die Hand auf eine heiße Herdplatte legt.

Laut Lohoff sind nicht alle Erfindungen der Warengesellschaft bloß deshalb zu verwerfen, weil sie Erfindungen der Warengesellschaft sind7. Es ist sicher richtig, zwischen „apokalyptischen“ Techniken wie der Atomenergie oder den Gentechnologien, die Experimente in Lebensgröße mit nicht rückgängig zu machenden Folgen sind, und anderen Technologien wie der Informatik zu unterscheiden. Aber die „apokalyptischen“ Techniken sind auch leicht zu kritisieren und stehen sowieso im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Schwieriger ist es, den subtilen und unterirdischen Veränderungen im Menschsein nachzuspüren, welche von den scheinbar harmloseren Technologien ausgehen. Hier entsteht Stück für Stück der „neue Mensch“ der Warengesellschaft, bis es auch da kein Zurück mehr gibt. Es ist keine Wertkritik nötig, um einen Plutoniumreaktor abzulehnen. Aber vielleicht ist sie nötig, um ohne Rückgriff auf konventionelle Moralvorstellungen aufzuzeigen, warum das Versprechen der Biotechnologien, unfruchtbaren Paaren oder Homosexuellen das Kinderkriegen zu ermöglichen, nichts Menschenfreundliches an sich hat, sondern nur ein weiterer Schritt zum vollautomatischen Subjekt ist.

1Der Kapitalismus ist laut Kurz die „bösartige Zusammenfassung einer negativen Leidensgeschichte [gibt es denn auch eine positive?] der Menschheit“ (NO, S. 27), das „Wertsubjekt“ hat die „Leidensgeschichte der Menschheit“ „unerträglich zugespitzt“ (NO, S. 31).

2Man könnte hier einwenden, daß, wenn fetischistische Gesellschaftsformationen sich durch einzelne positive Resultate rechtfertigen können, dann auch der Kapitalismus einiges in die Waagschale zu werfen hat, angefangen bei der Zahnbehandlung mit Narkose. Aber es geht eben nicht um einzelne Resultate, sondern darum, welche Art Mensch von einer gewissen Fetischform herausgebildet wird, und da ist der Kapitalismus von einer historisch nicht zu überbietenden Negativität.

3Wenn Marx die ganze bisherige Geschichte als reine „Vorgeschichte“ betrachtet, bedeutet das ja keine Verachtung aller bisherigen Menschheitsentwicklung, sondern eine Ablehnung der jeweiligen politischen Umstände – sofern diese Kennzeichnung nicht sowieso selber in ein aufklärerisches Geschichtsschema einzuordnen ist, dem Marx in vieler Hinsicht durchaus nicht fernstand.

4Es handelt sich hierbei keineswegs um die bildungsbürgerliche Attitude, welche eine Gesellschaftsformation an ihren „kulturellen Werten“ mißt und gern das Massenelend einer Epoche übersieht, wenn diese einen Bach oder einen Goethe für den erlesenen Genuß der Happy few hervorgebracht hat. Aber hier geht es auch um die kollektiven und anonymen Schöpfungen im Alltag, wie die traditionelle Musik und Dichtkunst, in deren Ausübung viele Gesellschaften den eigentlichen Inhalt des Lebens sahen. Und gemeint ist hier auch die „Kultur“ im weiteren Sinne, die Bauweise, Kleidung, Kunsthandwerk, Jagd, Spiele, Wettbewerbe, Reiten usw. einschließt.

5„Die in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen […] Damit der ‘Mensch ‘ zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis des ‘Menschen als Menschen’ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Entwicklungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen“ (MEW 40, 543-544).

6Vielleicht ist die deutsche Linke – die bekanntlich ständig aus den Fehlern der Vergangenheit lernen will – ja tatsächlich besonders sensibel für die Gefahren, die von der reaktionären, und typisch deutschen, Beschwörung der Natur als normative Setzung ausgehen. Vielleicht dient dieser Vorwurf aber auch nur als Spielmarke bei Sektenkämpfen, bei denen ein Deutscher den anderen Deutschen Deutscher schilt und derjenige, der gegen Tierquälerei ist, deshalb schnell zum Nazi erklärt wird. Ansätze, die als Alternative zur Warengesellschaft die Rückkehr in die Steinzeit oder ins Mittelalter vorschlagen, haben zur Zeit einen gewissen Erfolg in den USA (vor allem die „Deep ecology“ von John Zerzan) und in Frankreich (z. B. Michel Bounan), aber ohne daß deren Gegner deswegen gleich „Nazis“ schreien.

7Teflonpfannen ist ganz handgreiflich vorzuwerfen, daß sie krebserregend sind, und nicht moralisch, daß sie ein Nebenprodukt der Rüstungs- und Raumfahrtindustrie sind. Auch die Autobahn ist nicht einfach deswegen schlecht, weil Hitler sie gebaut hat. Aber es ist kein Zufall, daß er sie gebaut hat. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.