01.06.2004 

Zeitverschwendung Marktwirtschaft

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S. 225 – 246

Über die absurdeste Reproduktionsweise seit Menschengedenken

von Gaston Valdivia

Sie kennen das: Auf der Suche nach den begehrten Dingen des täglichen Bedarfs schieben Sie Ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt. Haben sie eine Dose Tomaten, eine Selleriestaude, eine Flasche Bier, oder was Herz und Magen sonst noch begehren mögen, identifiziert, suchen Sie zuallererst auf Regal oder Verpackung nach absonderlichen Zahlen und Symbolen, die in irgendeiner seltsamen Beziehung zu den jeweiligen Gütern stehen. Anschließend verstauen Sie ihren Fund im Einkaufswagen oder stellen ihn merklich enttäuscht zurück. Ist alles mehr oder weniger beisammen, geht es zielstrebig zu einer schmalen, virtuellen Gasse, in der sich vermutlich schon eine Menge Leute stauen. Irgendwann sind Sie dran. Sie stehen seitlich neben einem kleinen Fließband. Obwohl vor Ihnen die Bahn frei wäre, bleiben Sie stehen, als wäre da das unsichtbare Schutzschild des Raumschiffs Enterprise hochgefahren. Sie fangen an, alle zuvor sorgsam in den Wagen gestapelten Waren eine nach der anderen wieder herauszunehmen und auf das Fließband zu legen. Auf halber Fließbandlänge scheint sich die unsichtbare Barriere fortzusetzen und alle Waren aufzuhalten. Eine Hand streckt sich nach den Leckereien, nimmt sie hoch, scannt seltsame Zeichen ein und legt die Waren hinter der unsichtbaren Barriere wieder auf das Band, damit sie am Ende in eine Art Auffangbehälter hinabgleiten.

Für Sie ist das Schutzschild immer noch hochgefahren. Jetzt kramen Sie ein Ledertäschchen heraus, entnehmen ein paar bedruckte Papierzettel, reichen Sie dem Händchen und hören gleich eine Stimme fragen, ob Sie’s denn nicht kleiner hätten, und bekommen dann selber ein Zettelchen mit lauter Zahlen und vielleicht noch einige kleine Metallscheiben in die Hand gedrückt. Das ist das Zeichen, dass auch für Sie die Barriere heruntergefahren ist. Jetzt schieben Sie sich und den leeren Wagen weiter bis zu dem Auffangbehälter. Dort holen Sie sämtliche Beutestücke wieder heraus und packen Sie erneut in den Gitterwagen. Anschließend rollen Sie ihn zu einer Tischplatte, heben alle Waren wieder aus dem Wagen heraus und verstauen sie nacheinander in Tüten oder Taschen. Dann bugsieren Sie ihr leeres Gefährt in einen Stapel anderer säuberlich aufgereihter, leerer Gefährte, stecken ein Kettchen in einen Plastikverschluss, ziehen ein kleines Fach heraus, entfernen daraus eine Metallscheibe, die sie in der Tasche verstauen, und tapern samt Einkaufstaschen zu einem anderen Wagen, dieses Mal zu einem mit Motor. Vermutlich sinken Sie nach dem Einladen etwas erschöpft in den Sitz und beißen erst einmal kräftig in einen frisch erworbenen Schokoriegel. Geht’s noch? Haben Sie sich eigentlich schon einmal gefragt, was Sie da jedes Mal tun? Kommen Sie sich nicht bescheuert vor? Preise anschauen, einräumen, ausräumen, Zettel tauschen, einräumen, ausräumen, einpacken und das alles nur, um ein paar Lebensmittel verzehren zu dürfen?

…aber Sie müssen es tun

Doch diese absurden und zeitraubenden Tätigkeiten im Supermarkt sind nur Kleinigkeiten. Damit die unsichtbare Barriere, wo immer Sie auf Waren zugreifen möchten, wie geschmiert hoch- und herunterfährt, wird ein Monstrum am Leben erhalten, das sich nicht mit ein paar Prinzessinnen zufrieden gibt, sondern alle in der freien Markwirtschaft lebenden Menschen zu seiner zeitaufwendigen Lebenserhaltung mit Haut und Haar verspeist. Verfolgen wir seine Spur: Damit Sie Händchen an der Kasse ein Kärtchen oder einen Papierzettel überreichen können, muss es einen Ort geben, an dem ihr Anspruch darauf erfasst ist, richtig zugeordnet, geändert und hier und dort gemeldet wird. Der Ort ist ein aufwendig errichtetes und gut ausgestattetes Gebäude, in dem Menschen, die das in langen Jahren gelernt haben, den ganzen Tag mit Material hantieren und Geräte bedienen, die wiederum eigens für diese Zwecke her- und bereitgestellt werden müssen. Damit die Zahlen, nichts anderes als Geld, nicht in falsche Hände geraten, wird viel Material und Personal in diesem Gebäude und unzähligen anderen eingesetzt, die für diese Zwecke auch erst einmal gebaut und gepflegt sein wollen. Gepanzerte Fahrzeuge, gehärtete Stahlkästen, Alarmanlagen, Kameras, Computer und viele andere Geräte sind nur ein Teil dessen, was hierzu vonnöten ist. Die entstehenden Geldüberschüsse sollen wiederum so verteilt werden, wie es die hierarchischen Gepflogenheiten und das Gesetz vorsehen. Die angemessene Einhaltung überprüfen Menschen, die im Auftrag des Staates arbeiten und in noch größeren Gebäuden sitzen und die selber wiederum durch andere Menschen kontrolliert werden, die auch in Gebäuden sitzen. Nur so glauben sie sich vor unerwünschten Subtraktionen im komplexen Zahlenwerk sicher.

Wie aber gelangen die numerischen Repräsentanten des Geldes an den geweihten Ort, an dem man Ihnen dafür Geldscheine und Kärtchen –die Schlüssel zur Bedienung der Schutzschilde – aushändigt? Dazu müssen Sie in der Regel ihre Arbeitskraft für viele Stunden am Tag an jemanden verkaufen, der ihnen im Tausch dafür ihr Zahlendepot auffüllt und en passant sein eigenes gleich mit. Und wahrscheinlich gehören Sie zu den schätzungsweise 70% bis 80% aller Menschen, deren Arbeit wiederum zu nichts anderem dient, als den Schutzschildmechanismus in Gang zu halten. Vielleicht arbeiten Sie ja in der Bank, in der auch ihre Ziffern gespeichert werden, oder Sie produzieren die Geräte, die ziemlich laut Piepsen, wenn jemand die Barriere ohne entsprechendes Äquivalent überwinden möchte. Vielleicht kleben Sie Preisschilder an oder arbeiten in einer Fabrik für Überwachungskameras? Womöglich in einem Supermarkt als “Händchen” oder als Architekt für die Büroetagen einer Versicherung oder Sie verhaften von Berufs wegen PrivatbesitzverächterInnen?

Was immer Sie da jeweils tun – um es tun zu können, müssen Sie Entfernungen überbrücken. Sie wollen zur Arbeitsstätte gelangen und verwenden dazu wahrscheinlich ein privates oder geschäftliches Fahrzeug oder nutzen ein öffentliches Verkehrsmittel. Die Strecken, die Sie zurücklegen müssen, könnten recht lang und stauträchtig sein. Vielleicht arbeiten Sie gar als VertreterIn und Ihre Zeit geht hauptsächlich für nervende Fahrten drauf? Derweil haben Sie noch lange nicht eingekauft und noch nichts für Ihr Outfit und Ihr körperliches Wohlbefinden getan. Auch hier benötigen Sie Verkehrsmittel, und viel Zeit vergeht auf dem Weg zu den Tempeln des schönen Scheins, die Sie frequentieren, um für die Arbeit am nächsten Tag wieder fit und makellos zu sein.

Egal worin ihre Arbeiten auch bestehen mögen, Sie führen sie selten glücklich noch in gemächlichem Rhythmus aus. In der Regel sind Sie einem Zeitmanagement unterworfen, das Ihnen in immer kürzerer Zeit immer mehr und intensivere Tätigkeiten abverlangt. Der geforderte Zeitrhythmus verfolgt Sie bis in die Küche und ins Schlafzimmer und beschleunigt auch noch ihren freizeitlichen Wanderschritt in einem Maße, als müssten Sie den Schwarzwald in einem Tag durchqueren.

Möglicherweise gehören Sie aber auch der zunehmenden Population an, die keinen Beitrag mehr zur Aufrechterhaltung dieser Absurdität leisten darf, aber ebenso gehetzt tagtäglich auf Arbeitssuche geht oder gestresst in den deprimierenden Räumen eines Sozialamts zahllose Stunden der Lebenszeit an sich vorüberziehen lassen muss. Derweil befassen sich andere im selben Gebäude in eben solch mieser Stimmung mit der Prüfung und Berechnung Ihrer Ansprüche, damit Sie am Ende einen armseligen Warenkorb Ihr Eigen nennen dürfen.

Im Labyrinth

Diesen hier erst im Ansatz angedeuteten Zustand feiern die Ideologen der Marktwirtschaft als die beste und wirtschaftlichste Existenzweise aller Zeiten. BetriebswirtInnen, VolkswirtInnen, PolitikerInnen und akademische BerufsideologInnen werden nicht müde, die Leistungskraft und unübertroffene Fähigkeit der Marktwirtschaft zur “optimalen Allokation aller Ressourcen” zu lobpreisen. Damit begründen sie die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber allen anderen vergangenen und allen überhaupt denkbaren künftigen Gesellschaftsformationen prophylaktisch gleich mit. Hochnäsig weisen sie darauf hin, dass noch niemals in der menschlichen Geschichte mit so geringem Zeitaufwand so viele Güter in solcher Qualität produziert worden seinen und blicken hämisch auf den “realen Sozialismus” ob dessen Fehlallokationen zurück.

In der Tat, in noch keiner menschlichen Gemeinschaft ist die Produktivkraftentwicklung derart schnell vorangetrieben worden wie in der freien Marktwirtschaft – allerdings auch ohne Rücksicht auf das menschliche Wohlbefinden. Die Effizienz der einzelnen Arbeitsabläufe, von der Planung über die Herstellung von Waren, deren Transport, Lagerung und Verkauf bis hin zu den Abrechnungssystemen, hat für sich genommen tatsächlich einmalige Standards erreicht. Einen derart ökonomischen Umgang mit Zeit gab es in der Hinsicht noch nie. Aber wie so häufig richtet sich der begeisterte Blick der IdeologInnen nur auf das Detail. Beim Anblick einer automatischen Fertigungsstraße verfallen sie in die gleiche romantischen Verklärung wie einstmals Anette von Droste-Hülshoff beim Anblick der kräuselnden Wellen am Bodensee. Verzückt schauen sie auf Automessen unter glänzende Motorhauben bulliger Edelkarossen, in denen die gesamte geistige und körperliche Potenz in Kraftmaschinen von höchstem Wirkungsgrad zusammengeballt ist, um am Ende doch nur einen gestressten Herren oder eine gestresste Dame vielleicht noch 5 Minuten schneller zu einem Geschäftstermin zu befördern.

Ganz wie sich der betriebswirtschaftliche Blick auf die Rentabilität eines einzelnen Betriebes reduziert, zentriert sich der technokratisch-ideologische Blick der MarktwirtschaftsapologetInnen auf den einzelnen Arbeitsablauf, die Funktionalität der Arbeitskraft und ihres Produkts. Aber wie sieht es mit dem Ganzen aus? Ich behaupte, dass es niemals zuvor eine derart zeitaufwendige gesellschaftliche Reproduktion wie die der modernen Marktwirtschaft gegeben hat! Sie hält Menschen in einem für jede andere Gesellschaft völlig unvorstellbaren Maß auf Trab und zwar nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Freizeit. Ihnen ist es bestenfalls erlaubt, nebenbei noch von den Früchten ihrer Anstrengungen zu kosten. In keiner anderen Gesellschaft hatten Produktion und Konsum derart verheerende Auswirkungen auf die ProduzentInnen und die Natur. Die Marktwirtschaft gleicht einem monströsen Zeit, Raum und Lebensenergie verschlingenden Labyrinth, das ausschließlich zu dem Zweck existiert, lebendige menschliche Arbeit unablässig in Geld und Kapital umzuwandeln.

Was für ein Mechanismus die Marktwirtschaft antreibt, lässt sich am besten mit folgender Metapher beschreiben: Wie umherirrende Ameisen bilden die Menschen mit ihren Leibern unablässig neue Labyrinthmuster,  jagen wechselweise durch die Gänge hindurch, picken rasch einige Krümel auf, die wiederum andere verstreut haben, um darauf sofort wieder Teil des unruhig wabernden Labyrinths zu werden. Wem die Luft ausgeht, der bricht zusammen um sogleich von anderen überrannt zu werden. Wer mehr Krümel als die anderen ergattern möchte, beschleunigt seinen Gang und setzt die Ellenbogen ein. Aus ihrer Bodenperspektive können die fleißigen IrrläuferInnen das Labyrinth allerdings nicht als solches erkennen. Die zahllosen Gassen erscheinen ihnen als der direkteste und einzig mögliche Weg zu den Krümeln, die ihre Existenz sichern. Obwohl sie alle ununterbrochen handeln, sind sie wiederum nur Getriebene des Labyrinths, das sie selbst unter Überwindung gigantischer Dimensionen von Zeit (und Raum) Tag für Tag erneuern.

Um die Metapher zu verlassen: Die notwendig verausgabte Zeit zur Herstellung der Gassen des Labyrinths, manifestiert sich im Geld, das sich als Barriere sowohl zwischen die Individuen als auch zwischen die Individuen und deren Erzeugnisse schiebt. So reproduziert sich ein verrücktes und historisch einmaliges Verhältnis: Nicht für ihre Reproduktion als Menschen verausgaben die Individuen primär ihre Zeit, sondern zur Herstellung der Barriere, die ihnen den Zugang zu ihren gesellschaftlich erzeugten Produkten verwehrt. Diese so verrückte wie bewusstlose und historisch einmalige Beziehung der Individuen zu ihrer Gesellschaftlichkeit, also das kapitalistische Labyrinth, lässt sich mit dem Begriff des “automatischen Subjekts”, den Karl Marx im Kontext der Analyse der Warenform eingeführt hat, auf den Punkt bringen. Das Ganze funktioniert als reiner Selbstzweck: Erhaltung der Produktion von Mehrwert durch die Produktion von Mehrwert oder schlicht, Selbstverwertung des Werts. Die Konstitution des “automatischen Subjekts” soll jetzt nicht weiter ausgeführt werden. Auch die hier ständig benutzten Begriffe Arbeit und Zeit will ich nicht näher durchleuchten.

Was die Zeit angeht, sind an dieser Stelle allerdings doch einige kurze Bemerkungen nötig, um meine Prämissen bei der Verwendung dieses Worts zu verdeutlichen. Der im Text in vielfältigsten Kombinationen vorkommende Begriff der Zeit, so z.B. “Zeitverschwendung”, “Zeitaufwand”, “Zeitverausgabung”, “Zeitbeschleunigung”, “Zeitverdichtung” (Ähnliches gilt für “Leistung”) wird absichtlich im üblichen Sinn des bürgerlichen Alltagsverstands verwendet, um die richtigen Assoziationen zu ermöglichen. Tatsächlich lässt sich Zeit aber weder “verschwenden” noch “aufwenden” noch “verausgaben” oder gar “verdichten”. Den bürgerlichen Zeitvorstellungen liegt die Einteilung von Ereignissen in exakte Einheiten – in “Zeitquanta” – zugrunde, womit die Zeit als quantifizierbare Größe “erfunden” ist und dem Alltagsverstand auch als eine dinghafte Menge erscheinen kann, über die man so oder so verfügen könnte. Daher die vielen Attribute, die ansonsten nur Dingen zugewiesen würden. Sie stellen moralische Urteile in Hinblick auf die “Verwendung” oder Wirkung der Zeit dar. Wer meint, er würde gerade seine Zeit “verschwenden”, hat eine andere Verausgabung im Sinn, die ihm/ihr nützlicher oder sinnvoller erscheint, wobei den Begriffen “Nutzen” und “Sinn” wiederum spezifisch kapitalistische Bedeutungen zu Grunde liegen. “Zeitbeschleunigung” oder “Zeitverdichtung” meinen schlicht, dass schneller gearbeitet, gehandelt und gedacht wird als zuvor. Dass im modernen Kapitalismus immer mehr und dies immer schneller erledigt werden muss, drücken die entsprechenden Attribute aus. “Ich habe keine Zeit” dürfte wohl die am häufigsten in diesem Kontext verwendet Phrase sein. Das kann so weit gehen, dass “die Zeit” selber als eine dingliche Last empfunden wird, die tonnenschwer auf das Gemüt drückt. Nicht wenige Menschen wünschen sich, die Zeit verschwände, damit sie endlich einmal “ihre Ruhe” haben.

Zum Thema Zeit verweise ich auf das spannende Buch von Whitrow “Die Erfindung der Zeit” und auf Norbert Elias Essay “Über die Zeit”.[1] Am Anfang des Textes von Withrow steht die These, der Kapitalismus sei eine unwirtschaftliche Wirtschaftsweise. Wirtschaftlichkeit ist für ihn identisch mit Rentabilität, bedeutet also nichts anderes, als dass kapitalistische Einzelbetriebe unter Einsatz möglichst geringer monetärer Mittel in kurzer Zeit möglichst hohe Warenberge ausstoßen und möglichst viel Gewinn erzielen. Was dabei mit den ProduzentInnen geschieht und unter welchen Bedingungen sie arbeiten, geht in diese Bestimmung nicht mit ein. Der Kapitalismus wird nur nach seiner einzelbetrieblichen Effizienz, dem Wirkungsgrad seiner Maschinen und der Prozessoren beurteilt. Die gesamtgesellschaftlichen Implikationen bleiben einfach ausgeklammert. In den folgenden Abschnitten werde ich zeigen, dass, was vom Standpunkt des Einzelbetriebs und des isolierten Wirtschaftssubjekts rationell erscheint, sich im gesellschaftlichen Gesamtkontext als aberwitzig und vom Standpunkt eines “schönen Lebens” aus gesehen als pure Zeitverschwendung erweist. Dazu folge ich nun all den für das Leben im Kapitalismus unerlässlichen Arbeiten, die ausschließlich der Aufrechterhaltung des verrückten Labyrinths dienen. Der größte Teil der heute verrichteten gesellschaftlichen Arbeit hat keinen anderen Zweck als den abstrusen, allen Gesellschaftsmitgliedern den direkten Zugang zum stofflichen Reichtum zu versperren.

Zeitverschwendung Warenzirkulation

Marktwirtschaft heißt, für den Markt wirtschaften, also fürs Kaufen und Verkaufen. Vorderhand springt denn auch die Existenz eines umfänglichen Bereichs ins Auge, der die täglich sich wiederholenden milliardenfachen Transaktionen ermöglicht: die Sphäre des Handels. Ganze Heerscharen von Menschen beschäftigen sich den ganzen Tag lang mit nichts anderem als dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Sie fahren oder laufen durch die Gegend, um anderen Kosmetika, Staubsauger und Computer anzudrehen; sie stehen in Läden, Markthallen und Kaufhäusern vor und hinter aufgetürmten Ware-bergen oder kauern vor auf verpesteten Gehsteigen ausgebreiteten Tüchern; sie hängen in schicken Büros an Telefon, Fax und PC, akquirieren und schließen Verträge ab; sie sitzen an Fließbandkassen oder quetschen sich durch verqualmte Kneipen, um eine Rose loszuwerden. Verkäufer verkaufen an Wiederverkäufer, die zum Wiederverkauf an andere Wiederverkäufer weiterverkaufen etc. pp. Wo verkauft wird, wird gekauft. Wiederum Abermillionen Menschen sitzen in speziellen Abteilungen und kaufen für ihre Produktions- und Dienstleistungsbetriebe Rohstoffe, Halbfabrikate, Maschinen, Waren und Arbeitskräfte ein. Und damit die KonsumentInnen endlich an die benötigten Waren kommen und ihre geliebten Schnäppchen machen können, vergehen zahllose Stunden im Stau, in Kaufhäusern und beim Schlange stehen vor Kassen und Bankschaltern.

Das die Tauschakte vermittelnde Geld muss in seinen unterschiedliche Existenzweisen stets aufs Neue geschaffen, verwaltet, weitergeleitet und abgesichert werden. Ob Bargeld, Schecks, Kreditkarten, schriftliche oder elektronische Überweisungen, alle monetären Transaktionen ziehen einen gewaltigen Rattenschwanz an Aktivitäten nach sich und erfordern einen Zeitaufwand, der ohne weiteres mit dem der Verkaufssphäre konkurrieren kann. Da ist zunächst die materielle Herstellung von Bargeld, Schecks, Überweisungsformularen und Wertpapieren; der weitaus größte Zeitaufwand fällt mit der Buchgeldschöpfung und der Abwicklung des Geldverkehrs an. Unzähliges Personal fristet zu diesem Zweck an Schaltern, Computern und Schreibtischen in den zahlreichen Banken und Kreditinstituten sein Dasein.

Geld ist Eigentum und steht daher niemandem per se und schon gar nicht in beliebiger Menge zu. Es muss daher vor unbefugtem Zugriff geschützt werden. Von den Bankangestellten und den NachtwächterInnen, den PolizeibeamtInnen und dem ComputerspezialistInnen bis zu den finster dreinblickenden schwarzen Sheriffs widmen sich zahllose Beschäftigte, tagein tagaus einzig und allein dem Schutz des monetären Eigentums. Eigentum und Habgier, Armut und Reichtum fordern zu Streit und Diebstahl heraus. Richter und Anwälte schlichten, richten und lassen in Gefängnissen sühnen, deren Erhaltung ebenfalls mit großem personellen Aufwand verbunden ist.

Aufbewahrtes Geld kann sich auf wundersame Weise vermehren: Hunderttausende BankerInnen, BrokerInnen, SpekulantInnen, Groß- und KleinanlegerInnen und unzählige andere GlücksritterInnen widmen sich weltweit dieser heiligen Mission. Wo sich BankerInnen tummeln, da sind auch Versicherungshaie nicht weit. Ihre Existenz verdanken sie der speziellen Manie der bürgerlichen Gesellschaft, jeden Schaden, sei er ideeller, sach- oder personenbezogener Art, in Geldquanta auszudrücken. Gefühle, Gedanken und Körper bilden ein Puzzle aus addierbaren Wertgrößen, die sich u. a. durch die Höhe des zu leistenden Tributs und die quantifizierten Auswirkungen eventueller Schadensfälle bestimmen. Raquel Welchs Busen macht 10 Mio. Dollar, mein Daumen vermutlich 5.000 Euro und der Kopf eines obdachlosen Menschen null Komma nix. Versicherungen verwalten nicht nur Geld, sie senden auch tausendfach HausiererInnen in die Lande, um die Leute nachdrücklich auf ihre bedrohlichen Lebensumstände aufmerksam zu machen.

Die allgemeine Absicherung und Kontrolle des in Geldeinheiten abstrahierten und quantifizierten Eigentums der Bürger erfordert eine ununterbrochene Zählung, Abrechnung, Kontrolle und Buchung in allen ökonomischen Bereichen und Sphären. Heerscharen von Berufstätigen bevölkern Büros, kaufmännische Abteilungen und Controlling-Firmen, um sich diesen ehrenwerten Arbeiten partiell oder mit ihrer gesamten Arbeitskraft zu verschreiben. Selbst beim kleinsten Handwerksbetrieb und der Arztpraxis um die Ecke fällt eine stetig wachsende Masse an steuertechnischen und kaufmännischen Tätigkeiten an, die zur eigentlichen Dienstleistung gar nichts beitragen.

Zeitverschwendung Menschenhilfe

Nun sollte man meinen, dass doch zumindest solche Tätigkeiten wie karitative Hilfsleistungen oder Hilfe zur Selbsthilfe für die Ärmsten dieser Welt von den Implikationen der Zeit-Wert-Logik verschont blieben. Leider lässt sich auch das nicht bejahen. Der weitaus größte Teil gezielter Hilfe wird durch Organisationen geplant und durchgeführt, die selber einem rigiden Abrechnungs- und Kontrollsystem unterliegen, damit, so fordern es die Finanziers, die Gelder nicht in die falschen Hände geraten. Je größer die Hilfsorganisation, desto größer der Verwaltungsapparat, der sie in Gang hält. Doch allein die Beantragung von Geldern zur Durchführung von Projekten (ob bei kirchlichen, nationalen oder internationalen Stellen) seitens einer winzigen Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) erfordert einen enormen Zeitaufwand für das Studium der Formalien, der sich später auf die akkurate Buchführung, die Berichterstattung, Prüfung und Rechenschaftslegung für den Fiskus usw. ausdehnt.

Nicht selten führt das zu dem paradoxen Zustand, dass nur der Einhaltung der gesetzten Normen wegen, die eigentlichen Intentionen zurückzutreten haben oder Zahlenwerke manipuliert werden müssen, damit die eigentliche Aufgabe erfüllt wer-den kann. Nicht selten geraten die Zielgruppen ganz aus den Augen und die Verwaltung wird, ganz analog zum automatischen Subjekt, zum reinen Unterhaltsselbstzweck der VerwalterInnen. Damit ein oder zwei Ingenieure Solarkochanlagen in einem afrikanischen Land aufstellen können, bedarf es sicherlich der drei- bis vierfachen Anzahl an Personen in allen darin verwickelten Institutionen und Behörden, die ihre Zeit der Bereitstellung des nötigen Verwaltungsrahmen widmen –von der Planung und Beurteilung über die Abrechnung bis hin zu allen eingebauten Kontrollen.

Zeitverschwendung Produktion

Um die Zirkulation mit all ihren damit verbundenen Arbeiten überhaupt materiell durchführbar machen zu lassen, bedarf es wiederum einer gigantischen Zeitverausgabung für die Produktion der Waren und einer ebenso überdimensionierten Aufwendung materieller Ressourcen. Die Produktionssphäre, die vielen GesellschaftskritikerInnen traditionell als die gute, bodenständige und erhaltenswerte Seite der Marktwirtschaft erscheint, ist durch und durch in den systemerhaltenden Kreislauf von Verschwendung menschlicher Lebenszeit mit eingebunden.

Zur Verteilung der Dienstleistungs- und Warenflut über den Markt wird der größte Teil des vorhandenen Produktions- und Logistikaggregats in Anspruch genommen. Dies beginnt bei den notwendigen Gebäuden, vom Wolkenkratzer über die Kaufhalle bis zur Pommesbude, die erst einmal gebaut sein wollen. Ein Blick auf Innenstädte und Gewerbegebiete lässt ahnen, welche umbauten Flächen ausschließlich diesem Zweck geopfert werden, während Wohnraum beengt und chronisch knapp bleibt. Verkaufs- und Transportfahrzeuge, Geschäftswagen; Regale, Lager, Gefriertruhen, Dekorationen; Registrierkassen und Geldkassetten; Pappe, Papier, Farben und Tinten für Werbeblätter, Verträge, Rechnungen, Kassenbons und Verkaufsverpackungen in gigantischen Mengen; Computer, Handys, Faxgeräte, Möbel, Kopierer, Bleistiftspitzer und Tausende andere Gegenstände mehr. Geschäftemachen verlangt nach Präsentation und Repräsentation. Textil-, Schmuck- und Lederindustrie halten hierfür unerschöpfliche Varianten von Bekleidung und sonstige Accessoires bereit.

Die Geldverwahrung, Geldvermehrung, Geld- und Eigentumssicherung erfordert Bankgebäude, Börsenlokale, Büroräume ohne Ende; sie setzt Keller, Bunker, Tresen, Rechner, Safes, Sicherungsanlagen, Kassetten, Überwachungskameras, Riegel, Panzerglas, zahllose kleine und große Türen, Schlösser und Sparschweinchen für die ganz Kleinen voraus, die mit Hilfe Letzterer schnellstmöglich die Prinzipien der Marktwirtschaft einüben sollen.

Auch mittelbar beeinflusst die Geldlogik die materielle Produktion. Unaufhaltsam hat sie alle alten Gemeinschaftsformen gesprengt und eine auf sich selbst zurückgeworfene Geldmonade zurückgelassen. Kleinfamilien- und Singledasein haben die Reproduktion und die Konsumgewohnheiten gründlich verändert. Die Versorgung der Kleinhaushalte mit Individual- oder Familienportionen potenziert die Verpackungsflut und macht besondere Produktionsanlagen zur Abfüllung von Minimalmengen in Flaschen, Dosen, Becher usw. notwendig. Der Rohstoffverbrauch schnellt dabei, trotz Recycling, unablässig in die Höhe. Jeder Haushalt verfügt über eine eigene nicht zu verachtende Mini-Infrastruktur, vom Herd über den Kühlschrank bis zur Wasch- und Geschirrspülmaschine.

Individuelles Wohnen erzwingt vielfach individuelle Mobilität und erzeugt zum anderen auch ein Bedürfnis nach einem eigenen Fahrzeug. Es versteht sich, dass es dazu eines riesigen materiellen, zeitlichen und räumlichen Aufwands zur Herstellung dieser in die Abermillionen gehenden Individualkarossen bedarf.

Auf Grund der Trennung von Wohnen, Arbeiten und Lernen sind wiederum spezielle Gebäude mit entsprechender Infrastruktur für begrenzte Zwecke nötig, die nur von autorisierten Personen in einem eng beschränkten Zeitrahmen genutzt werden. Trotz massenhaften Mangels an kostenlosen Räumen für Kommunikation und geselligen Zeitvertreib machen die Tore der Schulen und deren Sportplätze pünktlich dicht und können bestenfalls noch mit Sondererlaubnissen und repräsentativen Leumundszeugen partiell genutzt werden. Riesige Flächen und Räume von Firmen, Universitäten und anderen öffentlichen Gebäuden bleiben ungenutzt, obwohl sie locker mit Freizeitgerätschaften ausgestattet und als nette öffentliche Treffpunkte fungieren könnten.

Zeitverschwendung Transport

Der gesamte Produktions- und damit Zeitaufwand wird weiter dadurch potenziert, dass die produzierten Waren, ob nun Produktionsmittel-oder Konsumgüter, ausschließlich nach Kostengesichtspunkten und nicht nach Kriterien der Streckenersparnis an die EmpfängerInnen gebracht werden. Eine Studie von 1992 förderte die Gesamttransportleistung zu Tage, die in einem simplen Früchtejoghurt steckt. Bis alle zur Herstellung notwendigen Ingredienzien und sämtliche Verpackungsbestandteile zusammengefunden und in den Supermarkt gelangt sind, hat er sage und schreibe 7.587 LKW-Kilometer zurückgelegt.[2] Ein weiteres bekannt gewordenes Beispiel beleuchtet drastisch, wie wenig die auf Kostenminimierung bezogene betriebswirtschaftliche Rationalität mit einer Minimierung des gesellschaftlichen Aufwands zu tun hat. Es geht um so etwas scheinbar unverdächtiges wie Orangensaft. Davon konsumieren die durstigen Bundesdeutschen ca. 21 Liter pro Jahr, was nicht gerade wenig ist, bedenkt man, dass die geschätzte Orange nicht in mitteleuropäischen Breitengraden gedeiht. 80 Prozent der für die Saftherstellung notwendigen Orangen stammen aus Brasilien. 12.000 km legen sie auf ihrem Weg zum Konsumenten zurück. Hinzu kommt, dass zur Erzeugung eines einzigen Liters O-Saft die 22-fache Menge an Wasser verbraucht wird. Damit liegt der Orangensaft aus brasilianischem Anbau aber im Vergleich zu US-amerikanischen Säften noch sehr günstig. In den Vereinigten Staaten, wo die Orangenplantagen künstlich bewässert werden müssen, entfallen auf einen Liter des begehrten Getränks 1.000 Liter Wasser und 2 Liter Treibstoff.[3] Noch irrwitziger steht es mit der Produktion komplexer industrieller Güter wie z.B. Fahrzeugen. Die Rohstoffe und Bestandteile zur Herstellung von Volkswagen-Automobilen stammen aus allen Kontinenten und legen, zusammengenommen, Millionen von Kilometern zurück. Wie die verzweigten und verzwickten Wege der elektronischen und mechanischen Einzelteile für die 55.000 Produkte des Siemens-Imperiums verlaufen, können nicht einmal mehr die eigenen Manager angeben.[4]

Kreuz und quer werden so Millionen Tonnen von Gütern selbst minimalster Preisvorteile wegen über den gesamten Globus bugsiert. Und so rauschen in stickige Laderäume eingepferchte arme Schweine auf langen Asphaltbahnen nicht selten mehrmals aneinander vorbei und legen Tausende Kilometer zurück, um irgendwo auf der Welt ein Konto um ein paar Ziffern zu erhöhen. Dieser Streckenaufwand reduziert sich auch dann nicht, wenn die Schweine vom irdischen Leid erlöst, als tiefgefrorene Schweinhälften durch die Landschaft schaukeln. All diese Wege und die in diesem Zusammenhang verschleuderten Ressourcen sagen eigentlich schon alles über den täglichen Wahnsinn der marktwirtschaftlichen Kreisläufe aus. Es handelt sich jedoch nur um einen kleinen Aspekt davon, und leider gehen die in der Regel ökologisch inspirierten KritikerInnen mit ihren Unmutsäußerungen nicht über dieses Teilproblem hinaus. Von der ganzen Dimension scheinen sie nichts zu ahnen. Das ist jedoch auch nicht weiter verwunderlich, schließlich haben die politisch etablierten ÖkologInnen längst ihr Faible für die Mechanismen des Marktes entdeckt und konkurrieren kräftig mit den Liberalen in puncto marktwirtschaftlichem Sachverstand und Realismus.

Zeitverschwendung durch Zeitbeschleunigung

Als wäre die Überwindung derart gigantischer räumlicher Dimensionen nicht schon genug, erhöht sich der enorme Materialeinsatz und paradoxerweise auch der Zeitaufwand durch den zwanghaften Beschleunigungsdrang. Das allgemeine Phänomen der Geschwindigkeitserhöhung in nahezu allen Lebensäußerungen plagt die Menschen in Form von Stress, Hektik, Hetze, Genervtheit, Aggressivität oder einfach nur unendlicher Müdigkeit. In der Literatur hat dieser immer schnellere Lebensrhythmus inzwischen viele Namen: “Zeitverdichtung”, “Zeitbeschleunigung”, “Zeitkompression”, “Zeitdruck” usw.

Damit die Waren immer schneller produziert, transportiert und an die Frau gebracht werden können, muss in erheblichem Umfang wertvolles Knowhow und jede Menge Zeit für irgendwelche Fitzelchen teuer erkaufter Zeitersparnis aufgebracht werden. Nicht irgendein Motor wird benötigt, sondern einer, der eine Blechkiste von 0 auf 100 in 7 Sekunden katapultiert und mit mindestens 200 Stundenkilometern eine Autobahn entlang preschen kann. Um einen immer dichteren und schnelleren Verkehrsflusses zu gewährleisten, muss extra gesicherter Raum auf dem Land und in den Städten geschaffen werden, der in Form von Millionen Straßenkilometern die Siedlungsräume wie rasend pulsierende Adern durchdringt. Die langsamen VerkehrsteilnehmerInnen werden per Gesetz und gerne auch durch rabiate AutofahrerInnen in ihre Schranken verwiesen. Breite Gehwege, Platz für Fahrräder auf den Straßen, Bewegungsraum für Kinder? Fehlanzeige. Aber Autos sind noch nicht schnell und universell genug, um in wenigen Stunden und ohne Stau einen Geschäftstermin in einem entfernteren Ort oder gar in Übersee wahrzunehmen. In immer größerer Zahl werden Hochgeschwindigkeitszüge und Flugmaschinen benötigt, zu deren Einsatz und Wartung ein riesiges Infrastrukturaggregat bereitgehalten werden muss. Und nicht zuletzt wollen die vom Zeitdruck geplagten, erholungsbedürftigen Menschen einen auf die Minute genau getimten Urlaub verbringen, dessen Zeitraum in Arbeitsverträgen penibel festgehalten ist. Zur Bewältigung der wachsenden Warenströme reichen die überdimensionierten Transportmittel längst nicht mehr aus. Auch die Möglichkeit der Überwindung großer terrestrischer und maritimer Distanzen muss gewährleistet sein. Entsprechende Maschinen, Motoren, Turbinen und andere Komponenten müssen dies ermöglichen. Gigantische Lern-, Forschungs- und Erfahrungszeit fließt als Knowhow in die Ausreizung aller physikalischer Möglichkeiten, um noch das letzte Quäntchen Beschleunigung herauszukitzeln.

Das Phänomen der Beschleunigung hat sich längst verallgemeinert und macht daher auch vor den Sphären der Freizeit und des Privaten nicht Halt. Die Organisation des Haushalts, insbesondere bei den so genannten Alleinerziehenden, erfordert zunehmend ein Zeitmanagement, das locker mit dem der Industrie konkurrieren könnte. Aufgaben wie Haushaltspflege, Kochen, Behörden-, Banken- und Versicherungskram, Sport, Hobby, Kontakte, Besuche, Einkäufe und andere Erledigungen halten die Personen beständig auf Trab. Ach ja, und da gibt es auch noch die Kinder, einer unter vielen Posten, die im Rahmen der Einhaltung des rigiden Zeitmanagements abgearbeitet werden müssen. Ruhig halten und möglichst häufig abschieben, ist die viel praktizierte, oft nicht gewollte Lösung, die, wie könnte es anders sein, eine weitere Arbeitssphäre erforderlich macht, nämlich die der Kinderbetreuung und Freizeitunterhaltung. Und wenn die Zeit nicht einmal mehr ausreicht, um die Kleinen zu den Orten ihrer Betreuung und schulischen Indoktrination zu bringen, dann hängt man ihnen einen Schlüssel um den Hals, stülpt ihnen den billigsten Fahrradhelm über den Kopf und setzt sie auf ein zu groß geratenes BMX-Bike, damit sie schnell und alleine ihren Zielort erreichen. Angesichts so vieler Plackerei, ziehen viele doch lieber ein pflegeleichtes Haustier vor und sparen sogar noch dabei. So ein Fiffi widerspricht nicht und wedelt noch unterwürfig mit dem Schwanz, auch wenn sein gestresstes Herrchen/Frauchen mal nach ihm tritt. Nicht wenige bezeichnen ihre Tierchen schon als ihre “Kinder”. Auf die Dimensionen der Versorgungsindustrie für diese Art vierbeiniger “Kinder” sei nur am Rande verwiesen.[5]

Wer keine Zeit mehr für die Kontaktpflege findet, beauftragt eine Partneragentur, wer es nicht mal mehr zum Kochen schafft, bestellt sich eine Pizza. Unzählige Dienstleistungen entstehen, um den permanenten individuellen Zeitmangel auszugleichen. Es versteht sich, dass die dort Arbeitenden selber auch nie genügend Zeit haben. Der schnelle Rhythmus wird derart internalisiert, dass er sich selbst in so unverdächtigen Betätigungen wie dem Musizieren artikuliert. Die Musikforschung hat kürzlich herausgefunden, dass die klassische Musik heutzutage schneller gespielt wird als zu Lebzeiten ihrer Komponisten. Am deutlichsten artikuliert sich der Geschwindigkeitswahn allerdings im Sport. Immer schneller laufen, springen, schwimmen, fahren, fliegen usw.: Das erfordert und befördert immer neue Technologien, Trainingsmethoden, Geräte, legale und illegale Drogen und medizinisches Fachpersonal und Rehabilitationskliniken.

Zeitverschwendung Gesundheit

Die dramatischen gesundheitlichen Folgen der Arbeit an sich und ihrer beständigen Intensivierung fordert, wie der extreme Sport, seinen Tribut. Eine gewaltige Gesundheitsindustrie befasst sich mit den Konsequenzen und stellt Arbeitskräfte, Wissen, Forschung, Anwendung, Betreuung, Pflege, Esoterik, Tantra, Yoga, Naturheilkunde und christlichen Beistand in gewaltigem Umfang und mit einem entsprechenden räumlichen und materiellen Aufwand bereit. Ob das tatsächlich alles der Gesundung dient, sei dahingestellt. KritikerInnen des Gesundheitswesen behaupten, der heute praktizierte medikamentöse und operative Aufwand würde zumindest so viele Kranke wie Geheilte produzieren. Von dem üblichen Standpunkt einer kurzfristigen und schnellen Wiederherstellung der Arbeitskraft aus gesehen, spielt das aber keine Rolle. Um die Langzeitgeschädigten müssen sich die ArbeitgeberInnen jedenfalls nicht kümmern. Es würde mich übrigens nicht wundern, wenn zur Reduzierung der Krankheitsdauer um eine Stunde oder, im umgekehrten Fall, zur medizinisch bedingten Herstellung einer Krankheitsstunde das Fünffache oder mehr an Arbeitszeit innerhalb des Gesundheitskomplexes verausgabt würde.

Zeitverschwendung Lernen

Damit die Menschen überhaupt in der Lage sind, die milliardenfachen Tauschvorgänge und die dazu erforderlichen Arbeiten in all ihren Aspekten adäquat auszuführen, müssen sie erst entsprechend zugerichtet werden. Dazu bedarf es der Eltern und ganzer Legionen von LehrerInnen, DozentInnen, ProfessorInnen, UnterweiserInnen und anderer SpezialistInnen. Der Zeitaufwand zur Vermittlung des Produktions- und Zirkulationswissens an Schulen, Berufsschulen und Universitäten lässt sich, glaube ich, ganz gut vorstellen. Wer meint, nur der Staat verschwende seine Zeit für Bürokratie, der irrt gewaltig. Gerade der private Bildungssektor wirft ein bezeichnendes Licht auf die dort zwingend erforderliche Zeitverschwendung. Allein um eine einzige Schulklasse für eine Umschulung einzurichten, bedarf es, neben den LehrerInnen, mindestens 5 bis 6 Personen, die sich um alle Belange der Verwaltung an den verschiedensten zuständigen Orten kümmern.

Weniger auffällig, aber um so wichtiger für die richtige “Investition in unsere Zukunft”, sind die ersten Kindheitsjahre, die zumeist im Rahmen der familiären Umgebung und des Kinderhorts verbracht werden. Viele Stunden gehen mit Kampf und Krampf ins Land und viele Tränen fließen, bis die widerspenstigen Kinder endlich verstehen, dass sie sich begehrte Dinge nicht einfach nehmen dürfen. Jahre vergehen, bis sie verstehen, was ihnen und was anderen gehört, und noch ein wenig länger, bis sie sich dementsprechend untadelig verhalten. Liebe Kinder, versteht es endlich: Eine Puppe ist keine Puppe, sondern eine Ware im Wert von 29,99 Euro – einfach nehmen, ist Diebstahl.

Wie viel Erziehungsarbeit muss geleistet werden, bis im Restaurant der Teller leer gegessen wird, selbst wenn der Bauch schon platzt. Schließlich hat man dafür “geblutet”, und dem Wirt wird erst recht nichts geschenkt! Welche Zurichtung ist erforderlich, bis ein Mensch vor der gefüllten Schaufensterauslage verhungert, anstatt sich zu nehmen, was er zum Leben braucht? Wie viel Zeit verstreicht, bis man Gefühle investiert und nur gegen entsprechende Äquivalente eintauscht? Man braucht nur einen Augenblick darüber nachzudenken, wie viele Gespräche und Auseinandersetzungen sich um Geld und Preise drehen, um zu wissen, wie lange ein Mensch braucht, bis er endlich in vollem Brustton der Überzeugung herausschreien kann: “GEIZ IST GEIL!” Wie viel Zeit letzten Endes in die Verhaltens- und Wissensproduktion zur Gewährleistung der Warenzirkulation unmittelbar und mittelbar eingeht, lässt sich beim besten Willen nicht auseinander klamüsern und quantifizieren. Es ist jedoch sicherlich nicht übertrieben, mindestens ein Drittel der gesamten Lernzeit dafür zu veranschlagen.

Zeitverschwendung Arbeitssuche

Immer mehr Menschen können im mörderischen Existenzkampf nicht mehr mithalten, und immer mehr Menschen werden für die Profitproduktion nicht mehr benötigt. Lockert die Zeitdiktatur wenigstens für diese ihren Griff? Wohl kaum, zumindest tun Politik und Arbeitslosenverwaltung ihr Möglichstes, um das zu verhindern. Der CDU-Spitzenpolitiker Friedrich Merz macht keinen Hehl daraus, worin das prinzipielle Ziel im Umgang mit Dauerarbeitslosen heute besteht. Ob die Job-Agenturen ihren Anspruch genüge tun und ihren Klienten zu einem Arbeitsplatz verhelfen können, ist nicht das Primäre, erklärte er im August 2003 in einem ZDF-Interview offenherzig. Hauptsache die Arbeitslosen würden auf Trab gehalten und hätten keine Zeit irgendetwas anderes zu tun, als Arbeit zu suchen.

Die Praxis der Arbeitsämter folgt dieser programmatischen Ausrichtung in steigendem Maße. Für die erfolgreiche Arbeitsvermittlung völlig sinnfreie Maßnahmen werden bei Strafe von Sperrzeiten erzwungen: zahlreiche blödsinnige Qualifizierungs- und Weiterbildungskurse, Bewerbungstrainings und insbesondere die beliebten Profilings, nicht selten gleich mehrfach hintereinander, die natürlich jedes Mal andere Ergebnisse zeitigen. Nicht zu vergessen der neueste Trend, Arbeitslose mit Nachdruck in die Selbständigkeit zu komplimentieren, wohl wissend, dass der größte Teil der Ich-AGs wenig später wieder zugrunde geht. Dahinter steckt Methode: Diese Menschen sollen kurzfristig aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden und mittelfristig jedweden Leistungsanspruch verlieren. Wer dabei nicht mitmacht, hat permanent seine aktive Arbeitssuche nachzuweisen, das heißt, er beschäftigt sich, seine Kontrolleure bei den Ämtern und die Personalbüros allerorten damit, eine Flut aussichtsloser Bewerbungen zu schreiben, zu sichten und zu beantworten. Zehntausende müssen arbeiten, nur damit Hunderttausende von Arbeitslosen ihre Tage mit irgendwelchen Arbeitsersatzhandlungen zubringen. Ein ganzer Arbeitskomplex ist entstanden, dessen einziger Inhalt im Diebstahl der Lebenszeit und -lust von unverwertbaren Menschen besteht.

Legal, Illegal, Scheißegal

Wo Millionen zeitweilig oder definitiv vom legalen Gelderwerb ausgeschlossen sind, drängen sich unweigerlich Gedanken über neue Geldquellen auf. Nicht wenige fühlen sich durch den Konkurrenzkampf erst recht beflügelt, in die Grauzonen der Illegalität auszuweichen. Gleichzeitig wird das Reich des legalen Gelderwerbs um bisherige Tabubereiche erweitert. Lebensäußerungen und Naturressourcen, die man bis dato für nicht kommerzialisierbar gehalten hat, kommen am nächsten Morgen schon als neueste Waren und Dienstleistungen auf den Markt. Marketingkampagnen werben mit den gesundheitlichen Möglichkeiten der Biotechnologie, um endlich die Patentierung aller menschlichen, tierischen und pflanzlichen Gene durchsetzen zu können, immer das Ziel fest im Auge, auch noch dem kleinsten DNS-Strang einen Preisstempel aufdrücken zu können. Geht es nicht ganz legal, dann eben illegal: Menschen werden vermietet oder als Sklaven verkauft, als Ersatzteillager gehalten und bei Bedarf zur Operation frisch auf den Tisch serviert. Prostitution und Kindervergewaltigung, verharmlosend Missbrauch oder Schändung genannt, sind feste Bestandteile einer weltumspannenden Dienstleistungsbranche geworden, die seltsame Gelüste und Herrschaftsfantasien gestresster Männer aus den Metropolen des Kapitalismus bedient.

Zeitverschwendung Politik und Staat

Zu guter Letzt soll noch die Rede auf den Staat kommen, der großen Klammer, die das ganze Labyrinth mit der nötigen Gewalt zusammenhält. Er kann sich selber nur reproduzieren, indem er sich beständig Finanzmittel verschafft. Er überwacht das Finanz- und Eigentumsgebaren der BürgerInnen und organisiert die Umverteilung von Geldwerten. Dazu unterhält er ein Heer von Fachleuten. Tausende von Finanzbeamten überprüfen Daten, nehmen Rückzahlungen vor, mahnen Nachzahlungen an und leiten Gelder an die Staatskasse weiter, die dort von einem enormen Stab an Sachkundigen und weniger Sachkundigen auf allen Ebenen verwaltet, verteilt oder eingesackt werden. Nicht jeder hat es gern, wenn Big Brother gierig auf seine Geldbörse schielt. Zum Schutz davor wacht das Heer an SteuerberaterInnen, SteueranwältInnen, GeldwäscherInnen, FluchtgeldvermittlerInnen, AnlageberaterInnen und anderen ehrenwerten Gestalten, die stets in ausreichender Zahl für solche Fälle zur Verfügung stehen. Weltweit sitzen Tausende PolitikerInnen[6] in riesigen Gebäuden, um Gesetze vorzubereiten, Gesetze zu beraten und Gesetze zu erlassen.

Wozu so viele Gesetze? Was ist es wert, so aufwendig bedacht zu werden? Es ist das Eigentum, das die inzwischen eingehend beschriebenen Umwege gehen muss, bis es die einen haben und die anderen nicht. Zweidrittel aller Gesetze betreffen das private und öffentliche Eigentum und die Ahndung seiner Missachtung. Die Sühne und Entschädigung für Beschädigung oder Entwendung von materiellem und geistigem Eigentum steht an aller erster Stelle. Gesetze über die Verursachung, Ahndung und Entschädigung seelischer Schäden sind sekundär, in Deutschland wird man sie vergeblich suchen. “Hart sein, Mann sein”, so will es hierzulande seit den Zeiten Friedrich des Großen das königlich-preußische Erbe. Was nicht in Geldwert quantifizierbar erscheint, kann im Bewusstsein auch nicht als Schaden existieren. Millionen Menschen sorgen weltweit für die Einhaltung der Gesetze und die Bestrafungen, und nicht wenige davon lassen gemeinsam mit den Ertappten in Gebäuden mit vergitterten Fenstern ihre Lebenszeit an sich vorübergehen.

Während sich PolitikerInnen und deren Beraterstäbe in gleich bleibender Zahl mit Ideologieproduktion und Umverteilung nach überaus kuriosen Kriterien befassen, wächst mit den neuen Technologien auch die Schar der in der Juristerei tätigen ExpertInnen und IT-SpezialistInnen beständig an. Die Sicherung des digitalen Eigentums ist in der Tat eine Aufgabe nahezu überirdischen Ausmaßes und garantiert zahlreiche lukrative Jobs. Überwachungsgesetze, die in die privatesten Bereiche der BürgerInnen eingreifen, sekundieren Kanzleien, die auf Überwachung und Feststellung von Datenpiraten und Urheberrechtsverletzern spezialisiert sind, und Abertausende ProgrammiererInnen müssen ununterbrochen Bill Gates offen gelassene Türchen schließen. Und nicht zu vergessen die Hunderttausenden HeldInnen, die das Eigentum ihrer Bürger und ihrer Staaten verteidigen, wenn nötig auch in Afrika oder am Hindukusch.

Wir könn(t)en auch anders

Wie viel Zeit letztlich für alle Umwege der Marktwirtschaft – trotz aller technologischer Errungenschaften – verausgabt wird, würde sich selbst bei intensivster empirischer Forschung kaum ermitteln lassen. Dennoch wäre es sicher sinnvoll, einigen der oben angeführten Beispielen einmal im Detail auf den Grund zu gehen. Um einen Eindruck der Dimension dieser marktwirtschaftlichen Zeitverschwendung zu vermitteln, denke ich, reichen die Beispiele aber völlig aus. Nach meiner zugegebenermaßen groben Schätzung dürften so um die 70 bis 80 Prozent der insgesamt “verausgabten Zeit” in den Zentren des modernen Kapitalismus dem goldenen Kalb des Warentauschs geopfert werden. Mit meiner Kritik an der Zeitverschwendung im modernen Kapitalismus will ich selbstverständlich nicht eine Erhöhung der technischen Effizienz dieses aberwitzigen Gesellschaftssystems einklagen. Das ist auch gar nicht nötig. Der Kapitalismus wäre kein Kapitalismus, wenn er nicht auch daran arbeiten würde, bestimmte Umwege des Labyrinths leichter und schneller passierbar zu machen. Die mikroelektronische Revolution lässt auch ohne weiteres etwa die direkte Warenzustellung unter Verzicht auf Barzahlung zu. Ansätze dazu gibt es ja bereits. Nicht anders als in der Produktion, wird auch bei den Dienstleistungen und im Bereich der Kommerzialisierung rationalisiert. Das alles mündet aber keineswegs in einer Selbstaufhebung des Labyrinths, sondern macht seine unausgesetzte Herstellung um so hektischer und aggressiver. Die Logik ist immer dieselbe: Können die Leute nicht mehr zahlen, muss die Produktion auf kaufkräftige Kundschaft umgestellt oder notfalls eingestellt werden. Obwohl die moderne Gesellschaft ein Produktivitätsniveau erreicht hat, das eine materielle Versorgung der gesamten Menschheit und die Beseitigung zahlreicher psychischer Elendserscheinungen ermöglichen würde, drängt sie immer mehr Menschen an der Rand der Reproduktion oder ganz aus dem Leben und macht die Arbeit und den Lebensalltag des weitaus größten Teils der Menschen immer gehetzter, brutaler, autorepressiver und unsicherer.

Es kann daher nur um einen Schlussstrich gehen, was nichts anderes heißt, als dass Arbeit, Tausch und Eigentum überwunden werden. Erst in einer Gesellschaft ohne Tausch und Arbeit könnte sich nach und nach ein anderer Zeitbezug einstellen und Begriffe wie Effizienz oder Leistung wären vermutlich sinnlos. Welche Bedeutung von Zeit sich unter diesen Bedingungen entwickeln und auf welche Aspekte der Tätigkeiten und Produkte Priorität gelegt würde, könnten die Menschen weitestgehend selber bestimmen. An die Stelle von Arbeit könnte so etwas wie kreativer Müßiggang treten, dessen wesentlicher Inhalt die genüssliche Betätigung und nicht ein aufgezwungenes Zeit-Leistungsverhältnis wäre.

Nach welchen Prioritäten ein von der Warenförmigkeit befreites, dennoch aber natürlich hoch entwickeltes Produktionsaggregat eingesetzt würde, wäre eine Frage der Übereinkunft. Was die Abschaffung des “automatischen Subjekts” und seiner Rastlosigkeit für das Wohnen, die menschlichen Beziehungen, die Kommunikation und andere Aspekte des Lebens bedeuten könnte, möchte ich hier nicht weiter ausführen. Es ist aber sowohl legitim wie inspirierend sich in eine solche Zukunft so weit wie möglich hineinzudenken.

Endnoten

[1] G. J. Whitrow, Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991, S. 20/21. Whitrow beschreibt detailliert die historisch unterschiedlichen Arten des Zeitsinns. Er spricht indes unterschiedslos von Reflexion, ohne zwischen verschiedenen Denkformen zu unterscheiden. Eine waren-formkritische Position kann sich damit aber nicht begnügen. Sie muss die vornehmlich von Psychologen und Ethnologen angestoßene Debatte über Denkformen mit aufgreifen und die Genesis des abstrakt-logischen und theoretischen Denkens mit zum Gegenstand machen. Eine anschauliche Zusammenfassung des derzeitigen Forschungsstandes auf diesem Gebiet bietet Isolde Demele in “Abstraktes Denken und Entwicklung – Der unvermeidliche Bruch mit der Tradition”, Frankfurt 1988.
Elias, Norbert, Über die Zeit, Frankfurt 1984. Norbert Elias scheint die Thesen seines Zeitgenossen Sohn-Rethel über den Zusammenhang von Warenform und Denkform entweder nicht gekannt oder verworfen zu haben, was insofern nicht verwunderlich wäre, als er sich in seinen Werken immer schon vorwiegend auf der phänomenologischen und weniger der analytischen Ebene bewegt hat.

[2] Stefanie Böge: Die Auswirkungen des Straßengüterverkehrs auf den Raum – Die Erfassung und Bewegung von Transportvorgängen in einem Produktlebenszyklus. Diplomarbeit am Fachbereich Raumplanung der Universität Dortmund, Juni 1992. Auszug in: Psychologie Heute, Mai 1994, S. 30. In der Zeitschrift Stern erschien hierzu ebenfalls eine spektakulär aufgemachte Reportage “Ein Joghurt geht auf Reisen”.

[3] Sascha Kranendonk, Stefan Bringezu: Major material flows associated with orange juice consumption in Germany. Fresenius Environmental Bulletin, Vol. 2 No. 8, August 1993. Abdruck in Friedrich Schmidt-Bleek “Wie viel Umwelt braucht der Mensch.” MIPS – Das Maß für ökologisches Wirtschaften. Auszug in: Psychologie Heute, Mai 1994, S. 25. In den zugrunde liegenden Aufsätzen geht es nicht nur um eine Kritik an den zurückgelegten Strecken, sie enthalten auch eine Bewertung dessen, was nützlich, verträglich oder eben schädlich sei. Ich möchte nicht unbedingt auf Orangensaft verzichten müssen, plädiere aber für eine möglichst ökorationale Produktion und Distribution.

[4] vgl. Der Spiegel 2/1993, S. 107

[5] Eine kleine Anekdote dazu kann ich mir nicht verkneifen. Als ich mit einem Freund, der gerade aus der Provinz eines südamerikanischen Landes zu Besuch gekommen war, durch die langen Reihen eines Supermarkts schlenderte, kam dieser empört zu mir gerannt und fragte, wieso in Deutschland so viele Katzen und Hunde verspeist würden. Auf meine verdutzte Frage hin, wie er denn auf diese Idee käme, führte er mich zu zwei ellenlangen Regalen mit Dosen, Paketen, Schachteln, Flaschen und Gläsern, die alle mit niedlichen Tiergesichtern geschmückt waren. Ich bin sicher, er glaubt mir bis heute nicht, dass es sich dabei um Futter für die Tiere und nicht um tierische Mahlzeiten gehandelt hat.

[6] Georg Kreisler fragt in einem seiner berühmten Lieder mit schwarzem Wiener Humor: …aber was für Ticker sind die Politiker, woher kommen sie und was woll’n sie von der Welt?” Deutsche PolitikerInnen sind im allgemeinen Personen, die in der Regel von Berufs wegen die Ideologie der Marktwirtschaft auf einem geistigen Niveau anpreisen, das sie seit Pisa den deutschen SchülerInnen unterstellen. Tatsächlich beherrschen Sie selber noch nicht einmal den Dreisatz. Was antworten PolitikerInnen auf folgende Frage: “Ein Unternehmen beschäftigt 100 ArbeiterInnen bei einer 35 Stundenwoche, um 500 Fahrzeuge am Tag zu produzieren. Um wie viel Stunden muss die Arbeitszeit verändert werden, wenn bei gleichbleibendem Output 10 weitere Arbeitskräfte eingestellt werden sollen?” Die Antwort deutscher PolitikerInnen lautet: “7 Stunden mehr – ohne Lohnausgleich.”