31.12.2004 

Zu den Morden von Madrid

spanische Version

Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber.
Brecht

von Lorenz Glatz

200 Menschen wurden wahllos bei Anschlägen gegen Pendlerzüge in Madrid ermordet, über 1000 verletzt – die Politiker aller zivilisierten Länder gaben ihrer Empörung Ausdruck, Millionen Menschen in Spanien und in anderen Ländern demonstrierten für Verfassung und Demokratie und gegen den Terror. Die Gesellschaft will ihre Ordnung verteidigen. Nur auf dem Boden dieser Ordnung, an die sich die Massen in demokratischer Selbstbeherrschung gebunden haben, darf gestritten werden. Nation, Staat, Eigentum, Arbeit werden als festes Fundament beschworen. Auch die Antiimperialisten machen da keine Ausnahme – der “nationale Befreiungskampf”, ja selbst der “islamische Widerstand” sind für sie nur Methoden, die heiligen Grundprinzipien zu wahrer Geltung zu bringen.

In die Wut und Trauer mischt sich aber eine abgrundtiefe Angst, die weit über die unmittelbare und durchaus begründete Furcht vor weiteren Anschlägen hinausgeht. Einerseits weitet sich hier eine neue Art Terrorismus auf Europa aus, der kein politisch umschreibbares Ziel mehr hat – weder im Sinn eines Zwecks, dass es dabei also noch realistischerweise um eine Staatsgründung oder die Eroberung einer Staatsmacht ginge, noch in der Bedeutung eines Fadenkreuzes, in das eine bestimmte Personengruppe genommen würde. An die Stelle brutaler, aber rationaler, politisch begrenzter Absichten tritt zunehmend der (un)moralisch-irrationale nicht eingrenzbare Anspruch auf Rache und Bestrafung, wenn nicht nackter Blutrausch. “Ihr liebt das Leben und wir lieben den Tod” heißt es in einem Bekennervideo nach den Attentaten von Madrid, von denen ebendort gesagt wird: “Dies ist eine Antwort auf die Verbrechen, die ihr in der Welt verübt habt” – und die offenbar umstandslos irgendwelchen Leuten, ja selbst Schulkindern und Säuglingen zugeordnet werden können.

Das Label der Tätergruppen ist keineswegs eindeutig. Es gibt nicht nur diverseste islamische Fundamentalisten von Al Kaida bis zu den algerischen Banditen, sondern ebenso gut christliche wie die Lord’s Resistance Army in Uganda und faschistoide Haufen wie die Attentäter von Oklahoma City in God’s own country. Die Anschläge und Massaker richten sich nicht bloß gegen “Imperialisten” und “Ungläubige”, auch “Landsleute” werden wahllos in die Luft gesprengt wie im amerikanischen Midwest und Nachbarn aus einer anderen Ethnie zerstückelt wie in Ruanda. Der Amoklauf von an den Widersprüchen der herrschenden Ordnung durchgeknallten Individuen ist dabei, sich zur gesellschaftlichen Kraft zu erweitern, der Affekt gefriert zu eiskalter Logistik.

Das führt zum “Andererseits” des tiefen Schocks, den der neue Terrorismus weltweit und nun auch in Europa auslöst. Alles, zu dessen Verteidigung gegen den Terror die Massen aufgerufen werden und sich selber aufrufen, ist fragwürdiger denn je. Die Arbeitsgesellschaft macht aus Mitmenschen Konkurrenten, produziert Arbeitslosigkeit und Elend und macht Aggressivität und Depression zur gängigen Seelenverfassung. Die Staaten werden zu Selbstbedienungsläden für transnationale Konzerne, die Verwertung auch nur noch simulieren können. Die Demokratie entpuppt sich als Selbstunterdrückung und Verdummung. Der Fortschritt zerstört Mensch und Natur, und der Schutz und die Verbreitung von freedom and democrazy braucht Einschüchterung, Bespitzelung, Polizeistaat, militärische Intervention und Besetzung in einem Ausmaß wie nie zuvor. Kurz: Genau das, was hier verteidigt werden soll, reizt zu Amoklauf und Terror, die ihrerseits wiederum die gesellschaftliche Krise weiter anheizen, sodass alle Anti-Terror-Maßnahmen (von der Repression durch die Herrn Bush & Co. bis zum Ausweichmanöver der spanischen Wähler), die in dieser Gesellschaft zur Verfügung stehen, über kurz oder lang nur den Prozess beschleunigen können, der genau das bewirkt, was sie bekämpfen bzw. vermeiden möchten. Ein lebensfeindliches System wie das kapitalistische kann auf Dauer eben nur das hervorbringen, was in ihm angelegt ist: Mord und Vernichtung.