23.10.2008 

Der Kapitalismus ist ein Pflegefall

Die Auswirkungen der US-Immobilienkrise sind auch in Deutschland zu spüren. Nach der vermeintlichen »Reinigung« des Finanz­marktes soll die Weltwirtschaft wieder »gesund« wachsen.

Jungle World 5/08, 31.1.2008

Ernst Lohoff

Im Jahr 2007 jagte der Dax noch von einem Allzeit­hoch zum nächsten. Inzwischen haben die Auswirkungen der US-Immobilienkrise die Frankfurter Börse erreicht. Die Verluste, die der hiesige Bankensektor zu verzeichnen hat, ließen angesichts einer im Erlahmen begriffenen Weltkonjunktur die Aktienkurse fallen. Allein am 21. Januar gab der Dax um 7,1 Punkte nach – das war der größte Verlust eines Tages seit der Asien-Krise von 1998.

Die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten und deren Übergreifen auf Deutschland waren absehbar, und die Reaktionen sind es auch. Bundesminister Michael Glos (CSU) waltet seines Amtes und übt sich im Gesundbeten. Die Auswirkungen der US-Hypothekenkrise auf die deutschen Banken seien gering, und Deutschland befinde sich insgesamt auf einem guten Weg. Die Welt­geld­emittentin, die US-Notenbank, tut, was sie immer tut, wenn sich massenhaft fiktives Kapital in Schall und Rauch auflöst und Bankrotte anstehen: Sie erfüllt ihre Dealer-Funktion und versorgt die Finanzmärkte mit neuem Stoff, indem sie durch das Senken der Leitzinsen zusätzliche »Liquidität schöpft«. Das reicht aus, um die Lage erst einmal zu beruhigen.

Nimmermüde Anlageberater reden gern von »überfälligen Marktkorrekturen« und legen nahe, die Kursverluste böten eine besonders günstige Gelegenheit zum Einstieg ins Geschäft. Nicht zuletzt sind die Zeiten solcher Crashs aber auch Zei­ten verschärfter Kritik am Finanzmarktregime. Im Leitartikel der Zeit ist von der »Schuld der Banken« die Rede. Die Politiker werden aufgefordert, diese »künftig an die Kandare zu nehmen und strenger zu beaufsichtigen«. Nicht noch einmal sollen »Steuerzahler und Sparer« für das Versagen der Landes- und Geschäftsbanken »bluten müssen«. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben angekündigt, insbesondere »die bislang völlig unkontrollierten Hedgefonds ins Visier zu nehmen«. Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde schafft es, die Meinungen von Anlageberatern und Bankenkritikern zu vereinen, und interpretiert die von der Immobilienkrise ausgelöste »Reinigung« des US-Finanzmarktes als »Gesundung« der Weltwirtschaft.

Die Debatte könnte kaum wirklichkeitsfremder laufen. Zunächst einmal wird der »Korrektur­bedarf« auf groteske Weise falsch eingeschätzt. Mittel- und langfristig gesehen wuchs das internationale Finanzkapital bis zum Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts etwa im gleichen Maße wie die Bruttosozialprodukte der Staa­ten. Dagegen übertrafen die Kurssteigerungen das Wachstum der Bruttosozialprodukte von den »Reaganomics« der frühen achtziger Jahre bis heute um den Faktor 5 – trotz wiederholter Einbrüche. Nach klassischen volkswirtschaftlichen Kriterien bedürfte es demnach der Vernichtung von rund vier Fünfteln des existierenden globalen Finanzkapitals, um das Gleichgewicht zwischen Finanzüberbau und »Realwirtschaft« wieder herzustellen. Das hätte darüber hinaus unter einer irrealen Bedingung zu geschehen: Die Entwertung müsste für die Realwirtschaft folgenlos bleiben.

Hier scheint auch schon der Kern des Problems auf. Die Vorstellung, dass die Last des Finanz­über­baus und dessen Kapriolen die Weltwirtschaft an einem »gesunden« Wachstum hinderten, mag noch so gängig sein, sie stellt jedoch den realen Zusammenhang auf den Kopf. Ohne die angebliche Last würde das ganze kapitalistische System gar nicht funktionieren. Unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution kann es keine selbst tragenden Akkumulationsschübe mehr geben, sondern prinzipiell nur »ungesundes«, von der Dynamik des fiktiven Kapitals getriebenes Wachstum. Soll die Weltwirtschaft nicht zusammenbrechen, bleibt nur, nach dem Platzen einer Blase eine noch größere Blase entstehen zu lassen.

Die praktische Politik trägt dem Rechnung. So fordern die Wirtschaftspolitiker aller Länder einerseits, die Transparenz an den Finanzmärkten zu verbessern, und fördern andererseits das Verstecken fauler Kredite. Die gleiche Logik liegt zugrunde, wenn die amerikanische Notenbank die Zinsen senkt. Es gilt, die anstehenden Wertberich­tigungen solange zu verhindern, bis die Verluste von gestern gegenüber neuen fiktiven Gewinnen nicht mehr so ins Gewicht fallen. Das war genau der Weg, auf dem vor ein paar Jahren der Niedergang der so genannten New Economy »bewältigt« wurde.

Same procedure as every year? Nicht unbedingt. Ein zentraler Unsicherheitsfaktor liegt im weiteren Schicksal des Dollars. Seit den achtziger Jahren fiel die transnationale fiktive Kapitalschöpfung mit der exzessiven Verschuldung der USA zusam­men. Die transnational agierenden Finanz­inves­toren rechneten sich reich, indem sie gigantische Mengen von Geldkapital an sich zogen, zusätzlich wirkte der defizit-finanzierte Konsum der west­lichen Vormacht als permanentes globales Konjunkturprogramm. Im Jahr 2007 importierten die USA 800 Milliarden Dollar, immerhin 60 Prozent der »globalen Nettoersparnis«.

Die Schlüsselfunktion, die den USA bei der Produktion von Finanzmarktblasen zukommt, ist indes an ihre Rolle als Weltgeldemittent gebunden. Nur der Weltgeldemittent kann Defizite »decken«, indem er »sein Geld« einem expandierenden und von daher aufnahmefähigen Finanz­über­bau im großen Stil zur Verfügung stellt. Die Weltgeldfunktion des Dollars ist allerdings gerade als Folge der exzessiven Verschuldung (allein zwischen 1991 und 2006 stieg die Auslandsverschuldung der USA von 500 Milliarden auf über 2,1 Bil­lionen Dollar) hochgradig prekär geworden. Bis zum Ende des Booms der New Economy folgte der Dollarkurs im Wesentlichen den Zyklen des fiktiven Kapitals. Hausses stärkten den Dollar, in Abschwungphasen gab er wieder nach.

Bei der gerade zu Ende gehenden weltwirtschaft­lichen Boomphase ist dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt. Bereits zu Beginn der Krise steht der Dollar im Verhältnis zur zweitwichtigsten Weltwährung, dem Euro, so schlecht wie nie. Gerade die neuen global-political players, insbesondere die chinesische Sonderzonenwirtschaft, aber auch die russische Rohstoff-Renten-Ökonomie haben in den vergangenen Jahren in großen Umfang Währungsreserven und Dollarguthaben angesammelt und stehen vor einem Dilemma. Entweder sie müssen weiter massenhaft US-amerikanisches Schwundgeld annehmen, oder das auf­gehäufte Schwundgeld verliert noch einmal rasant an Wert. Bis vor wenigen Jahren ließ sich die internationale Geldpolitik noch zwischen New York, Frankfurt und Tokio austarieren. Mittlerweile reden auch Moskau und Peking mit. Das erleichtert das weltkapitalistische Kollektivprojekt der Krisenvertagung nicht gerade.

Das gilt umso mehr, als die Wiederkehr eines längst vergessen geglaubten Phänomens alles entscheidend kompliziert: die globale Inflation. Die Krise des Fordismus in den siebziger Jahren hatte nicht nur die Wachstumsziffern sinken lassen, sondern auch die Entwertung des Geldmediums beschleunigt. In den OECD-Staaten lag die jährliche Inflationsrate damals bei rund zehn Prozent. Das Entstehen von enormen Mengen fik­tiven Kapitals seit den achtziger Jahren trieb nicht nur die Wachstumsziffern wieder nach oben, sondern löste auch für ein Vierteljahrhundert das Problem der Geldwertstabilität. Damit könnte es ohne das baldige Entstehen einer neuen Blase vorbei sein. Das Anziehen der Preise in den beiden vergangenen Jahren in den Wirtschaftsna­tionen und die Renaissance des Goldes, das 2007 zu seit Jahrzehnten nicht mehr erreichten Preisen gehandelt wurde, verheißen in dieser Hinsicht nichts Gutes.