28.03.2012 

Die große Entwertung – Einleitung


English Version

Ernst Lohoff/Norbert Trenkle

Selten klang Walther Rathenaus fast hundert Jahre altes Diktum „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“ so bedrohlich wie heute. Die Ökonomie, das Allerheiligste dieser Gesellschaft und zugleich ihr praktischer Dreh- und Angelpunkt, ist außer Rand und Band geraten. Bis vor Kurzem galt sie noch als Hort einer höheren Vernunft, heute fühlt sich der gesunde Menschenverstand bei der Lektüre der Wirtschaftsnachrichten regelmäßig in eine Irrenanstalt versetzt. Seitdem im Herbst 2008 die Subprime-Krise die globalen Finanzmärkte an der Rand des Zusammenbruchs brachte, hat sich die Weltkonjunktur immer nur kurzfristig stabilisiert. Kaum hatten die politischen Macher und ihre Wirtschaftsauguren zweckoptimistisch das „Ende der Krise“ verkündet, standen sogleich neue Hiobsbotschaften ins Haus. Sobald ein Brandherd unter neuen Frischgeldmassen begraben wurde, loderte das Feuer schon an zwei, drei anderen Ecken des kapitalistischen Weltsystems wieder auf. Zwar gelang es den Regierungen und Notenbanken, durch die Notverstaatlichung fauler Kredite, eine Politik des billigsten Geldes, und das massive Hochfahren der Staatsverschuldung den drohenden globalen Wirtschaftskollaps zunächst einmal abzuwenden; doch damit haben sie nur den nächsten, noch größeren Krisenschub vorbereitet. Jetzt droht das Platzen der Staatsblasen die Weltwirtschaft in den Abgrund zu ziehen.
Ein kakophonisches Stimmengewirr begleitet diese dramatische Entwicklung. Heerscharen von Rezeptblockzückern erklären dem werten Publikum, an welchem Punkt „unsere Wirtschaft“ vom Pfad marktwirtschaftlicher Tugend abgewichen sei und mit welchen Therapien ihr die abhandengekommene ökonomische Vernunft wieder eingetrichtert werden könne. Die Autoren dieses Buchs beteiligen sich nicht an diesem Geschäft. Schon die der laufenden Debatte zugrunde liegende Basisannahme, die derzeitige Krise ließe sich auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise lösen, halten sie für grundverkehrt. Die vermeintliche „Entartung“ der glorreichen Marktwirtschaft, die für den verheerenden gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Weltsystems verantwortlich gemacht wird, ist in Wirklichkeit als ein Entpuppungsprozess zu fassen. Es zeigt sich, dass die kapitalistische Produktionsweise eine zutiefst irrationale Form der Reichtumsproduktion darstellt, die auf Selbstzerstörung hin programmiert ist. Die Entfesselung der Finanzmärkte, die Spekulation, die überbordende Staatsverschuldung oder was sonst noch auf dem Markt der Meinungen als Ursache der gegenwärtigen Malaise angeboten wird, sind in Wahrheit nur Symptome eines viel tiefer reichenden Krisenprozesses. Wir haben es nicht mit irgendwelchen „Fehlentwicklungen“ zu tun, die sich wieder rückgängig machen ließen, vielmehr sind die Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems selbst in Auflösung begriffen.
Dieser Gedanke ist in der öffentlichen Debatte tabu. Und zwar nicht trotz, sondern wegen der marktschreierischen „Kapitalismuskritik“, die uns aus allen Medien entgegenschallt. Denn diese beschränkt sich weitgehend auf plumpe Finanzmarktschelte – mal mehr, mal weniger unterfüttert mit personifizierender Hetze gegen „Banker und Spekulanten“ – und verdrängt gerade damit die naheliegende Einsicht, dass das System der kapitalistischen Reichtumsproduktion selbst unhaltbar werden könnte. Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken einer fundamentalen Krise, das herrschende Bewusstsein aber drängt mit aller Kraft von dieser Wirklichkeit weg. Freilich liegt die Angst vor einer großen Katastrophe in der Luft. Doch diese bleibt diffus und kanalisiert sich entweder in esoterischen Weltuntergangsphantasien wie einer angeblichen Prophezeiung der Maya, wild-wuchernden, teils antisemitischen Verschwörungsphantasien und individuellen Fluchtversuchen aus dem Alltag, oder sie wird von den notorischen Gesundbetern, die nicht müde werden, die Krise kleinzureden, mittels der von ihnen ausgeteilten Beruhigungspillen gedämpft.
Stummer Hintergrund dieser schizophrenen Stimmungslage ist sicherlich die sozialpsychologische Zurichtung der modernen Individuen nach dreißig Jahren radikaler Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, die eine andere Form gesellschaftlichen Verkehrs als den über Ware, abstrakte Arbeitskraftverausgabung und Geld unmöglich erscheinen lässt. Hinzu kommt noch das mit dem Zusammenbruch des sogenannten Realsozialismus zum Common sense aufgestiegene Dogma von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus. Zwar war der „Realsozialismus“ nie etwas anderes als eine autoritäre Variante kapitalistischer Modernisierung, unterlegt mit einer bizarren Ideologie der „Diktatur des Proletariats“, und stand insofern keinesfalls für eine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation; doch allein seine Existenz erschien vielen als Beweis dafür, dass es eine Alternative zur Ausrichtung aller gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der ökonomischen Rationalität geben könne. Daher hat sein Untergang nicht etwa den Horizont emanzipativen Denken erweitert, sondern hat im Gegenteil die Alternativlosigkeit der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise in den Köpfen zementiert. Indem aber schon die bloße Möglichkeit einer emanzipativen Überwindung des Kapitalismus als Hirngespinst weltfremder Träumer und unverbesserlicher Ewiggestriger abgetan wird, steht implizit auch der Gedanke einer grundlegenden Systemkrise unter einem Tabu. Denn sie kann nicht als Krise einer obsolet gewordenen historisch-spezifischen Produktionsweise verstanden werden, sondern erscheint als apokalyptischer Vorgang auf einer Stufe mit einem globalen Atomkrieg oder dem Einschlag eines Riesenmeteoriten – daher das Schwanken zwischen Hysterie und Verdrängung.
Kapitalismus oder Barbarei, so lautet also die implizite Propagandaparole, die auf allen Kanälen verbreitet wird. Entweder die Krise bedeutet den Untergang jeglicher Zivilisation, oder es gelingt, den normalen Gang kapitalistischer Reproduktion wiederherzustellen. Genauso ist auch der apokalyptische Diskurs zu verstehen, der von Teilen der politischen Klasse im Angesicht der Krise geführt wurde, so etwa vom bieder-sozialdemokratischen Sparkommisar Peer Steinbrück, der unter der Schockwirkung des Finanzmarkt-Crashs davon sprach, man habe „in den Abgrund geblickt“. Mag sein, dass sich darin ein spontanes Erschrecken vor den Konsequenzen des eigenen Handelns ausdrückte, letztlich dient dies aber der Legitimierung jener drastischen Sparmaßnahmen und Opfer, die unter der Maßgabe, die ökonomischen Verwerfungen noch einmal unter Kontrolle zu bekommen, der Bevölkerung zugemutet werden. Das apokalyptische Vokabular steht hier also für eine Variante des berüchtigten TINA-Prinzips: There Is No Alternative. Nie wurde dieser Satz so oft und so voller Überzeugung vorgetragen wie nach dem Platzen der Immobilienblase und den durch sie ausgelösten Schockwellen. Wenn der Weltuntergang droht, darf man nicht zimperlich sein.
Auch die seit dem Herbst 2008 massenhaft auftretenden Krisen-Gurus bedienen dieses Muster. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie mit ihrem Alarmismus eine untergründige gesellschaftliche Stimmung ansprechen und im Gegensatz zur Riege der Gesundbeter und Beschwichtiger Bilder von heftigen Verwerfungen an die Wand malen. Trotz alledem teilen sie aber den gesellschaftlichen Konsens, dass die Krise keinen systemisch-fundamentalen Charakter hat, sondern durch entschlossenes politisches Anpacken und verschärfte Sparanstrengungen gelöst werden könne. Der Gedanke, die kapitalistische Produktionsweise sei dabei, sich ad absurdum zu führen und unhaltbar zu werden, ist ihnen völlig fremd. Auf die Oberfläche des Krisenverlaufs fixiert, polemisieren sie gegen angebliche „Fehlentwicklungen“ wie „maßlose Staatsverschuldung“, „überzogenes Anspruchsdenken“ oder eine „enthemmte Spekulation“, die endlich gestoppt werden müssten, wenn die Gesellschaft nicht in den Abgrund rauschen wolle. Die Wiederherstellung eines gesunden, prosperierenden Kapitalismus ist den Krisen-Gurus zufolge also nur eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Wollens. Insofern machen auch sie beim großen Herunterdimensionieren munter mit.
Der erfolgreichste deutsche Vertreter dieser Zunft, Max Otte etwa, will explizit die „Krise als Chance“ (Otte 2006, S. 193) begriffen wissen – natürlich nicht als Chance für die Entwicklung einer Gegenpraxis zum laufenden Irrsinn, sondern als kollektive und individuelle Gelegenheit zu einer erfolgreichen Neupositionierung im kapitalistischen Wettbewerb. Dem Standort Europa biete sich die Gelegenheit, seine Position in der Weltmarktkonkurrenz entscheidend zu verbessern, und dem klugen Investor eröffnen sich angeblich tolle Gelegenheiten, seine Kröten auch auf einem „Bärenmarkt“ zu mehren; das letzte Drittel von Ottes Œuvre besteht dementsprechend ausschließlich aus Anlagetipps, wie das zu bewerkstelligen sei. Bei all den wirtschaftlichen Verwerfungen bleibt für Otte eine Erschütterung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung unvorstellbar. Bis zum Ende aller Tage funktioniert der Weltmarkt weiter, und auch die heiligste Bestimmung des menschlichen Daseins wird niemals zur Disposition stehen: Die Optimierung der eigenen Vermögensbildung ist immer möglich und bleibt das Zentrum alles irdischen Strebens.
Im Einzelnen weichen die Prognosen und Diagnosen der diversen Krisen-Gurus natürlich voneinander ab. So interpretiert Otte in seinem bereits vor dem Crash von 2008 geschriebenen Buch die Krise primär als Deflationskrise, bei der die Aktienkurse sinken und Schuldtitel sich in Schrott verwandeln. Andere Autoren warnen vor allem davor, dass es zu einem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems und zu einer Hyperinflation kommen könnte. Diese Befürchtung ist für sich genommen keineswegs aus der Luft gegriffen. In seinem Fortgang muss der laufende Krisenprozess in eine Krise des Geldes und der Währungsordnung einmünden – wir werden das im zweiten und dritten Teil dieses Buches noch ausführen. Wie die Verlaufsform im Einzelnen auch aussehen mag, jedenfalls ist die heutige Währungsordnung, mit dem Dollar als Weltgeld und dem Euro als zweiter Leitwährung, auf Dauer nicht zu halten. Diese Entwicklung zeichnete sich schon lange ab (vgl. etwa Lohoff 1995; Lohoff/Trenkle 1996); inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Hanebüchen wird die Sache indes insofern, als die Krisen-Gurus nicht in den dunklen Tunnel blicken können, ohne am anderen Ende einen güldenen Schimmer zu erkennen. Das Rezept etwa, das Nathan Lewis in seinem Buch Gold. Die Währung der Zukunft (Lewis 2008) präsentiert, erfreut sich auch unter den anderen großen und kleinen neoliberal und anti-etatistisch orientierten Krisen-Gurus größter Beliebtheit. Die Staaten, so Lewis, sollten die Verschuldung sein lassen und zu einem goldgedeckten Währungssystem zurückkehren, dann sei die monetäre Grundlage für eine erneuerte, solide und prosperierende Weltwirtschaft geschaffen.
Solche Vorschläge kann nur machen, wem jeder Sinn für die logische und historische Entwicklung des Systems der kapitalistischen Reichtumsproduktion fehlt. Dass dieses im Laufe vieler Jahrzehnte aus den Kinderschuhen der Goldwährung herauswuchs, ist kein Zufall und auch nicht das Ergebnis einer Fehlentscheidung irregeleiteter Politiker, die wieder rückgängig gemacht werden könnte, wie Lewis und seine Kollegen im Geiste meinen. Vielmehr war es Resultat und Voraussetzung zugleich für die ungeheure Expansion der kapitalistischen Produktion und ihren Siegeszug über den gesamten Globus. Auf der Grundlage des „barbarischen Metalls“ (Keynes), das aufgrund seiner stofflichen Gestalt einer natürlichen Begrenzung unterliegt, wäre der kapitalistische Wachstumsschub der letzten Jahrzehnte niemals möglich gewesen. Der Übergang zum reinen Kreditgeld war unabdingbar. Zwar ist es durchaus denkbar, dass auf einer späteren Stufe des Zerfalls der Weltwirtschaft und der Zerrüttung des Geldes auch Versuche unternommen werden, die nationalen Währungen wieder in irgendeiner Weise an das Gold anzudocken; solche Währungsreformen wären aber wohlgemerkt Ergebnis und Verlaufsform eines verheerenden Schrumpfungsprozesses des Systems kapitalistischer Reichtumsproduktion. Mit einer zukunftsweisenden Neufundierung hätten sie so viel zu tun wie die spontane Herausbildung von Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die goldverliebten Hobby-Orthopäden verordnen dem Kapitalismus maßstabsgerechte Nachbauten seiner Lauflernschuhe als Siebenmeilenstiefel für einen weiteren großen Marsch kapitalistischer Akkumulation, in Wahrheit jedoch handelt es sich um eine mögliche Fußbekleidung der Notstandsverwaltung.
Aber nicht nur dubiose Krisen-Gurus á la Otte und Lewis fehlt jedes Verständnis für den fundamentalen Charakter des laufenden Krisenprozesses. Wenn der überwältigende Teil der öffentlichen Debatte zu diesem Thema an der Oberfläche der Ereignisse kleben bleibt und die Symptome der Krise, wie die Verselbstständigung der Finanzmarktbewegung oder die explodierende Staatsverschuldung, zu deren Ursachen mystifiziert werden, dann liegt das sicherlich nicht nur am Zurückschrecken vor der ungeheuren Reichweite der kapitalistischen Systemkrise. Hinzu kommt noch, dass auch die Volkswirtschaftslehre quer durch alle konkurrierenden Schulen hindurch mit ihren theoretischen Grundannahmen und Paradigmen gar nicht dazu in der Lage ist, eine fundamentale Krise zu denken, sondern sich dagegen geradezu immunisiert hat.
Seit den Tagen Adam Smiths und Jean-Baptiste Says stehen die Wirtschaftswissenschaften fast ausnahmslos mit der Vorstellung auf Kriegsfuß, der Kapitalismus würde aus seiner inneren Logik heraus Krisen erzeugen. Obwohl die kapitalistische Dynamik ganz offensichtlich beständig Ungleichgewichte und Missverhältnisse hervorbringt, die in Krisen ihre Entladung und eine immer bloß provisorische Überwindung finden, erkennt die von der Klassik und der Neoklassik geprägte Volkswirtschaftslehre im Markt originellerweise den zuverlässigen Garanten von Gleichgewichtszuständen. Nach ihrem Verständnis können ökonomische Krisen daher prinzipiell gar nicht auf innerökonomische Ursache zurückgehen, sondern sind ex definitione das Ergebnis exogener, also außerökonomischer Faktoren wie Naturkatastrophen, Kriege und politische Fehlleistungen. Auf diese Weise wurden schon all jene Krisen, die den Aufstieg des Kapitalismus begleitet hatten, ideologisch entwirklicht und die inneren kapitalistischen Widersprüche, die unvermeidlich zu wiederkehrenden Verwerfungen führen müssen, wegdefiniert. Mit dem Keynesianismus entstand dann zwar angesichts der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erstmals eine ökonomische Schule, die dieses Dogma partiell aufweichte, aber bloß um es auf andere Weise fortzuschreiben. Laut Keynes kann die Bevorzugung des Geldes gegenüber anderen Reichtumsformen („Liquiditätspräferenz“) die Herstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts beeinträchtigen und so eine strukturelle Unterbeschäftigung nachsichziehen; indes lasse sich diese potentielle Störquelle durch entsprechende geld- und fiskalpolitische Maßnahmen beseitigen. Damit kommt der Staat als Akteur ins Spiel, doch besteht seine Aufgabe im Wesentlichen darin, durch seine Eingriffe die harmoniestiftende Macht des Marktes wiederherzustellen, wo diese durch vorübergehende Störungen außer Kraft gesetzt ist.
Sind so bereits alle bisherigen Krisen erfolgreich herunterdimensioniert worden, kann es nicht verwundern, dass eine fundamentale Krise der Volkswirtschaftslehre als so völlig undenkbar erscheint, dass sie nicht einmal in die Verlegenheit gerät, dies extra begründen zu müssen. Die in den letzten beiden Jahrhunderten entwickelten volkswirtschaftlichen Definitionen und Grundbegriffe lassen die Formulierung eines solchen Gedankens erst gar nicht zu. Solange sie als selbstverständlich gesetzt sind, bleibt der Immunschutz gewährleistet, egal welches Bild das kapitalistische Weltsystem empirisch auch abgeben mag. Zwar haben sich in den letzten Jahren, angesichts der Wucht der Krise, auch einige honorige Vertreter der Volkswirtschaftslehre dazu herabgelassen, über das „Ende des Kapitalismus“ zu diskutieren; doch – nicht anders als bei den dubiosen Krisen-Gurus – entpuppt sich diese Rede auf den zweiten Blick als bloße Chiffre für eine angebliche „Entgleisung“ der „Marktwirtschaft“, die nur auf den rechten Pfad der Tugend zurückgeführt werden müsse. Kapitalismus ist böse, die Marktwirtschaft gut, so das Credo, das mit „Kapitalismus“ stets nur die „übertriebene Spekulation“ an den Finanzmärkten anprangert. Auf diese Lesart haben sich sogar erzliberale Hardliner wie der Flat-Tax-Propagandist Paul Kirchhof eingeschworen, der in der Zeit-Serie „Kapitalismus – kaputt?“ für eine „verantwortete Marktwirtschaft“ plädiert und fordert: „Wir dürfen uns vom wild gewordenen Finanzmarkt nicht in die Enge treiben lassen“ (Kirchhoff 2011).
Dieses Auseinander-Dividieren von „Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“ hat Tradition. Schon in der Ära des Kalten Krieges war es Kernstück der Legitimationsideologie des Westens, der seine „soziale Marktwirtschaft“ als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus verkaufte. In der Ära des Krisenkapitalismus gewinnt es neue Bedeutung in der Abwehr des bedrohlichen Gedankens, das ganze System könne zur Disposition stehen. Die Wurzeln dieser basalen Immunisierung aber reichen noch viel tiefer. Sie entspringen dem Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre, die zwar selbst ein Kind der kapitalistischen Produktionsweise ist, von dieser historisch-spezifischen Form der Vergesellschaftung aber nicht sprechen kann, ohne sie zur allgemein-menschlichen Lebensweise zu mystifizieren. Wo in der kapitalistischen Wirklichkeit kaum übersehbar die Verwertung von Kapital – also der abstrakte Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen – den Dreh- und Angelpunkt des Wirtschaftsprozesses darstellt und die Produktion von Waren bloß das untergeordnete Mittel zur Erfüllung eben dieses Zwecks ist, will die Volkswirtschaftlehre nichts als harmlose „Güterproduktion“ sehen, wie es sie immer gegeben habe, seit die Vorfahren des Homo sapiens von den Bäumen herabgestiegen sind. Jedes beliebige volkswirtschaftliche Lehrbuch beginnt mit dem unhinterfragten Axiom, Zweck des Wirtschaftens sei die Versorgung der Menschen mit nützlichen Dingen, wobei die Warenproduktion, das Geld und der Markt nur besonders raffinierte Mittel zur Erreichung eben dieses Zwecks, zur Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und zur „optimalen Allokation der Ressourcen“ darstellten. Damit wird nicht nur die grundlegende Verkehrung von Mittel und Zweck, die zum Wesen des historisch-spezifischen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise gehört, unsichtbar gemacht, zugleich sind auch die daraus resultierenden inneren Widersprüche ausgelöscht und die Vorstellung einer aus ihnen resultierenden Krise ist gegenstandslos geworden.
Wenn daher die Krisenanalysen der Fachökonomen so oberflächlich und ratlos ausfallen, wie sie eben ausfallen, dann ist dafür nicht etwa eine besondere Inkompetenz der derzeitigen Generation von Wirtschaftswissenschaftlern verantwortlich zu machen. Nicht die mangelnde Beherrschung des volkswirtschaftlichen Instrumentariums ist das Problem, sondern dessen Grundstruktur. Es gibt keine Zeichenschule, die den Radiergummi als einziges Instrument für das Porträtieren vorschreibt. Die Volkswirtschaftslehre aber macht richtungsübergreifend genau diese verrückte Vorgabe, wenn es um die Hintergründe des laufenden Krisenprozesses geht. Wer daher diesen in seinen Tiefendimensionen darstellen will, muss in ein anderes theoretisches Bezugssystem wechseln, eines, das mit den harmonistischen Basisannahmen der VWL bricht und die historisch-spezifischen Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise fassen kann.
Die Grundlagen für ein solches theoretisches Bezugssystem hat bereits vor gut 150 Jahren ein gewisser Karl Marx gelegt. Ausgehend von einer Kritik der Warenproduktion und ihren inneren Widersprüchen dechiffrierte er die kapitalistische Produktionsweise als ein höchst irrationales Fetischsystem, das einer unkontrollierbaren historischen Dynamik unterliegt, die letztlich die eigene Selbstzerstörung herbeiführen muss, wenn die Menschheit es nicht schafft, sie aufzuheben. Doch erstaunlicherweise spielen diese Einsichten in der Krisendebatte bisher praktisch keine Rolle. Zwar hat es in den letzten Jahren eine gewisse „Marx-Renaissance“ gegeben; zumindest taucht die Buchstabenkombination M-A-R-X als eine Art Diskursspielmarke neuerdings immer mal wieder in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf, wohl deshalb, weil die aberwitzigen Kapriolen des Krisenkapitalismus und die immer neuen sozialen Zumutungen, die er mit sich bringt, eine gewisse Sehnsucht nach grundsätzlicher Gesellschaftskritik wecken, für die der Name Marx als eine Art Chiffre steht. Die eigentliche Brisanz und Aktualität der Marx‘schen Kritik der Politischen Ökonomie wird durch solche Reminiszenzen freilich eher zugeschüttet als aufgedeckt.
Die einen beschwören eine Wiederkehr des Klassenkampfes und reaktivieren damit ausgerechnet jenen Teil der Marx‘schen Theorie, der zwar ideologisch und politisch in der Vergangenheit eine ungeheure Wirkungsmacht entfaltet hatte, aber dies gerade weil er ganz der Immanenz der kapitalistischen Modernisierungsbewegung verhaftet geblieben war und schon deshalb heute hoffnungslos überholt ist (vgl. zur Kritik etwa Kurz/Lohoff 1989; Trenkle 2005; Lohoff 2006a; Schandl 1997). Dann wieder wird Marx als angeblicher Kronzeuge für eine verkürzte Kritik des entfesselten Finanzkapitals bemüht, das angeblich die „Realwirtschaft“ überwuchere und daher gebändigt werden müsse, ganz so als habe Marx sich nicht schon seinerzeit über diese spießbürgerlichen Phantasien einer heilen kapitalistischen Welt mokiert. Und schließlich gibt es noch jene, vor allem Akademiker, die das Marx’sche Denken mit aller Gewalt auf das theoretische Bezugssystem der VWL herunterbrechen und so seiner kritischen Substanz berauben, sei es, dass sie Marx zu einer Art Vorgänger von Keynes erklären oder dass sie ihm die subjektive Wertlehre der Neoklassik überstülpen. Jener Teil der Marx’schen Theorie hingegen, der gerade heute erst seine volle Brisanz gewinnt, die fundamentale Kritik von Ware, Arbeit, Wert und Geld und die darauf gründende Krisentheorie, bleibt fast völlig ausgeblendet.
Knüpfen wir an diesem theoretischen Strang an und entwickeln ihn weiter, erscheint der Kapitalismus und seine Krisenhaftigkeit in einem ganz anderen Licht als in den axiomatischen und unhistorischen Harmoniemodellen der VWL. Die innerhalb dieser Modelle nicht erklärbaren historischen Krisen verweisen nicht nur auf den irrationalen und selbstwidersprüchlichen Charakter der herrschenden Produktionsweise, sondern bilden auch die Trittsteine auf jenem langen Weg, der diese an ihre innere Schranke heranführt. Es zeigt sich, dass der bornierte Selbstzweck der Kapitalverwertung auf Dauer nicht kompatibel ist mit den ungeheuren Potentialen der stofflichen Reichtumsproduktion, die er selbst hervorbringt, weil dieser Prozess mit einer unaufhaltsamen Reduktion der notwendigen Arbeitszeit in der Warenproduktion einhergeht. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen könnten diese Potentiale dazu genutzt werden, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören; unter kapitalistischen Bedingungen aber untergräbt die ständige Produktivitätssteigerung die Wertproduktion und damit das Fundament der Kapitalverwertung. Früher oder später muss daher ein Punkt erreicht sein, an dem das erreichte Niveau der Produktivkraft mit der kapitalistischen Reichtumsform unvereinbar wird.
So betrachtet, erweist sich die aktuelle Weltwirtschaftskrise keinesfalls als Resultat von übersteigerter Spekulation und Verschuldung, für die nun die Rechnung bezahlt werden müsse. Genau umgekehrt ist die gigantische Aufblähung der Finanzmärkte selber Ausdruck davon, dass seit dem Einsetzen der dritten industriellen Revolution, welche eine grundlegende Umstrukturierung der Produktionsstrukturen eingeleitet und massenhaft Arbeitskraft in den Kernsektoren der Kapitalverwertung „überflüssig“ gemacht hat, die Wertproduktion absolut rückläufig ist. Die dadurch ausgelöste Strukturkrise, die sich bereits seit den 1970er Jahren als „Krise der Arbeit“ deutlich bemerkbar machte, konnte nur durch die ungeheure Auftürmung von „fiktivem Kapital“ an den Finanzmärkten überspielt und verschoben werden. Der Preis dafür aber war die Anhäufung riesiger Berge ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, die niemals eingelöst werden können und deren Entwertung nun als Damoklesschwert über der gesamten Welt schwebt. Daher sind die oberflächlichen Krisenentwarnungen genauso so verkehrt wie die Kassandrarufe der Krisen-Gurus, die zur Umkehr in die „gesunde Marktwirtschaft“ mahnen, und ebenso verkehrt wie die allfälligen Forderungen nach einer „Bändigung der Finanzmärkte“. Die fundamentale Strukturkrise mag durch eine weitere Aufblähung des fiktiven Kapitals und verschiedene Maßnahmen der Notverwaltung noch einmal aufgeschoben werden, lösbar ist sie innerhalb der kapitalistischen Logik jedoch nicht. Wenn diese Logik gewaltsam aufrechterhalten wird, droht in der Tat eine große Katastrophe in dem Maße, wie sich die Krise weiter zuspitzt. Abwenden lässt sie sich nur, wenn es gelingt, eine gesellschaftliche Alternative jenseits der Warenproduktion zu entwickeln und global durchzusetzen.
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Der Aufbau dieses Buches folgt der hier in wenigen Sätzen skizzierten Argumentationsstruktur. Im ersten Teil – verfasst von Norbert Trenkle – werden zunächst einige grundlegende Begriffe erläutert, die für das Verständnis der historischen Dynamik des Kapitalismus und des ihr zugrunde liegenden, inneren Selbstwiderspruchs unentbehrlich sind. Im Anschluss daran wird untersucht, wie dieser Widerspruch im Nachkriegsboom zunächst zu einem kraftvollen Motor der kapitalistischen Durchsetzung wurde, dann jedoch sich im Zuge der dritten industriellen Revolution in die innere Antriebskraft einer grundlegenden Strukturkrise verwandelte. Dabei wird deutlich gemacht, warum auf dem erreichten Niveau der gesellschaftlichen Produktivität ein selbsttragender Schub kapitalistischer Verwertung nicht mehr möglich ist und wie, vermittelt über die Aufblähung des Finanzüberbaus, die fundamentale Strukturkrise aufgeschoben werden konnte.
Zweiter und dritter Teil des Buches – verfasst von Ernst Lohoff – sind einer genaueren Untersuchung des fiktiven Kapitals gewidmet. Teil 2 entwickelt zunächst die theoretischen Grundlagen für das Verständnis dieser Kapitalsorte und ihrer Stellung im kapitalistischen Akkumulationsprozess. Er zeigt, dass die Eigentumstitel, aus denen sich das fiktive Kapital zusammensetzt, eine besondere Kategorie von Waren darstellen, Waren 2ter Ordnung, die den spezifischen Gebrauchswert aufweisen, zukünftigen Wert zu repräsentieren. Untersucht wird, ob und unter welchen Umständen dieser Vorgriff auf die Zukunft eingelöst werden kann und wo die logischen Grenzen dafür liegen. Teil 3 analysiert den Stellenwert und die Funktion, die das fiktive Kapital im historischen Entwicklungsverlauf der kapitalistischen Produktionsweise innehatte. War es im Zeitalter der Industriellen Revolution nur von untergeordneter Bedeutung, so spielte es in der Epoche des Fordismus bereits eine wichtige Rolle als Impulsgeber und Anschubmotor der Akkumulation, weil nur durch den Vorgriff auf die Zukunft die gewaltigen Investitionen vorfinanziert werden konnten, die für die Installation der industriellen Massenproduktion erforderlich geworden waren. Während aber dieser Vorgriff noch durch tatsächliche Wertproduktion eingelöst werden konnte, ist dies in der Ära der dritten industriellen Revolution nicht mehr möglich. Das fiktive Kapital verwandelt sich selbst in den Motor der Akkumulation, die aber nur durch einen immer weiteren Vorgriff auf die Zukunft aufrechterhalten werden kann. Wo aber die Grenzen dieses Vorgriffs erreicht sind, muss eine gigantische Entwertung des fiktiven Kapitals erfolgen, die nicht nur die zugrunde liegende Strukturkrise offenbar werden lässt, sondern sich auch in einer Entwertung des Geldmediums ausdrücken muss.
Den Abschluss des Buches bilden schließlich einige Thesen zur Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation im Angesicht der Krise. Gezeigt wird, dass der sogenannte „Sparzwang“, wie er mit dem Bild der „schwäbischen Hausfrau“ beschworen wird, ein völliger Aberwitz ist, der nur aus der verrückten Logik resultiert, den gesellschaftlichen Reichtum stets bloß als Abfallprodukt der Kapitalverwertung und damit unter Maßgabe der „Rentabilität“ und der „Finanzierbarkeit“ zu produzieren. Lösen wir uns von dieser Vorgabe, stellt sich heraus, dass „wir“ keinesfalls „über unsere Verhältnisse“ gelebt haben, sondern dass die Gesellschaft längst zu reich ist für die enge und bornierte Form kapitalistischer Reichtumsproduktion. Nur wenn es gelingt, diese Form abzustreifen, können die vorhandenen Potentiale der Produktivität sinnvoll und vernünftig genutzt werden, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen und die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten.