02.02.2019 

Die Kopfgeburten des Herrn Alain de Benoist

Anmerkungen zum Versuch einer Aneignung der Wertkritik von Rechts

von Norbert Trenkle (Februar 2019)

In dem Büchlein „Marx von Rechts“ (2018) sind zwei Aufsätze von Alain de Benoist veröffentlicht worden, in denen dieser sich direkt („Wertkritik“) und indirekt („Karl Marx und der Warenfetischismus“) auf wertkritische Positionen bezieht.  Darin versucht er, diese für den rechten Diskurs fruchtbar zu machen. Benoist äußert diese Absicht in den Aufsätzen zwar nicht direkt, jedoch ergibt sie sich erstens aus dem Kontext und zweitens aus den anderen Texten im besagten Buch, in denen deutlich wird, wie und auch welche Weise hier eine Verbindung herstellt werden soll. Ausdrücklich spricht sich der für seine Querfrontbestrebungen bekannte Sezessions-Autor Benedikt Kaiser für einen „rechten Antikapitalismus“ aus, ohne allerdings selbst auf die Wertkritik einzugehen. Kaiser, der sich schon mehrfach mit linken Theorien auseinandergesetzt hat (offenbar hat er auch dieses Büchlein initiiert) und dafür in bestimmten rechten Kreisen als „Linksabweichler“ beschimpft wird[1], schreibt:

Gemäß dieser Maxime gilt es auf der politischen Rechten, Marx als Denker vielschichtig zu durchdringen und gleichzeitig den Geist radikaler Kritik aufzunehmen. Eine solche erste Anerkennung von Marx und einer kritisch-radikalen Geisteshaltung, »die sich emphatisch und grundlegend von den in der Welt der Uneigentlichkeit und Entfremdung vorherrschenden unterscheidet« (Alain de Benoist: Am Rande des Abgrunds, 2012, S. 174), hieße Anerkennung der Kapitalismuskritik oder, weitreichender, des Antikapitalismus. Erst von diesem Standort aus kann, martialisch ausgedrückt, »der nächste, >leninistische< Schritt – zum politisch organisierten Antikapitalismus« (Zizek) erfolgen. Ein solcherart zur politischen Praxis gewordener rechter Antikapitalismus, der mit europäischen Ideen und der Entschlossenheit zum elementaren Neubeginn assoziiert wäre und die Fehler des linken Antikapitalismus überwindet, hätte Ausstrahlungskraft auf die besten Köpfe der bisherigen politischen Lager, insbesondere in Bezug auf die verstärkt nach Neuem suchende europäische Jugend. Dies wäre der Anfang vom Ende sowohl für die neoliberale Rechte als auch für die zeitgenössische Linke“ (S. 63 f.).

Kaiser bezieht sich hier, wie gesagt, nicht explizit auf wertkritische Gedanken, sondern plädiert ganz allgemein für einen „antikapitalistischen Standpunkt“. Dabei geht er sehr großzügig vor und zitiert alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist (auch in seinem Buch Querfront von 2017 wird das deutlich), immer gerne aber Slavoy Žižek; vielleicht haben wertkritische Autorinnen und Autoren ja bald auch die zweifelhafte Ehre, von ihm persönlich herangezerrt zu werden. Seine Absichten legt er ganz klar dar: er will die Linke beerben; also nicht eine Querfront mit ihr bilden, sondern deren Gedankengut in sein ideologisches Gebäude assimilieren und so die Linke überflüssig machen. Bei Benoist kann man Ähnliches unterstellen.

Interessanter als die Frage nach den Absichten dieser rechten Vordenker, ist allerdings, auf welche Weise sie sich in der Wertkritik bzw. der Marxschen Theorie bedienen, um sie für sich nutzbar zu machen. Welche Uminterpretationen und Auslassungen nehmen sie vor? Aber auch: An welchen Argumentationen der wertkritischen Theoriebildung können sie anknüpfen, um diese in ihren Sinne auszulegen? Schauen wir uns dazu die Argumentation von Benoist etwas genauer an.

Auffällig ist zunächst, dass sich Benoist in dem Aufsatz „Wertkritik“ offenbar bemüht, die wertkritische Position einigermaßen kohärent darzustellen, ohne sie in erkennbarer Weise bewusst zu entstellen oder umzuinterpretieren. Er folgt dabei einer durchaus auch in der Linken sehr üblichen Lesart oder Wahrnehmung unserer Kritik, zu der typischerweise gehört, dass erstens nur bestimmte Ausschnitte aus dem wertkritischen Theoriegebäude überhaupt eine Rolle spielen: Die Wertkritik ist in der linken Debatte vor allem der 1990er und frühen Nullerjahre ganz überwiegend als Krisentheorie, Ökonomiekritik und Kritik der Arbeit wahrgenommen worden, während andere Aspekte unserer Theoriebildung, wie die Subjektkritik, die Kritik an Rechtsform, Politik, Staat und Nation oder auch die Aufklärungskritik weitgehend unter den Tisch fielen. Und zweitens wurde die Wertkritik immer in einer sehr stark strukturtheoretisch geprägten Lesart rezipiert. Das allerdings ist nicht bloß einem verkürzten Rezeptionsverhalten geschuldet, sondern hat auch damit zu tun, dass die frühen wertkritischen Texte bis mindestens Mitte der 1990er Jahre tatsächlich eine Tendenz aufweisen, die man als strukturtheoretisch in einem weiteren Sinne bezeichnen könnte.

Gegenüber dem traditionellen Marxismus mit seiner Fixierung auf die Willensverhältnisse in Gestalt der Klassenherrschaft und des Klassenkampfes betonten wir damals – vollkommen zu Recht – die Subjektlosigkeit des gesellschaftlichen Prozesses, der vom „automatischen Subjekt“ vorangetrieben werde. Wir taten dies jedoch auf eine Weise, in der implizit oder explizit die Gesellschaftsmitglieder zu bloßen Anhängseln der Wertlogik degradiert wurden, die kaum Handlungsspielräume besäßen. Dabei ging es uns nicht nur um die Kritik am Klassenkampf-Marxismus im Besonderen, sondern allgemeiner noch darum, die vorherrschende Subjektapologie zu destruieren. An den warengesellschaftlichen Individuen kritisierten wir dabei allerdings in erster Linie ihre Blindheit gegenüber der eigenen Formkonstitution als Ware-Geld-Subjekt und die damit verbundenen Illusionen von Freiheit und Gleichheit sowie die Borniertheit der Interessenorientierung. Der irrationalistischen Rückseite des modernen Subjekts und den daraus resultierenden regressiven Tendenzen schenkten wir hingegen nur wenig Beachtung. Das änderte sich erst im Laufe der 1990er Jahre und vor allem während der Nullerjahre. Doch die Hinwendung zu einer Kritik der bürgerlichen Subjektform, die diese grundsätzlich in Frage stellte, schlug sich in der Rezeption und Wahrnehmung der Wertkritik kaum nieder, nicht zuletzt deshalb, weil sie mit einer grundlegenden Kritik der Aufklärung einherging, was für einen Großteil der Linken, der sich angesichts der Konjunktur des Irrationalismus und der Identitätspolitik auf die Seite der bürgerlichen Vernunft und ihrer Prinzipien schlug, eine Provokation darstellte und als „indiskutabel“ abgetan wurde.[2]

Es kann nicht verwundern, dass auch Benoist in seiner Lesart der Wertkritik diese Kritik am Irrationalismus des bürgerlichen Subjekts vollkommen ausblendet und stattdessen eine ausgeprägt strukturtheoretische Interpretation zugrunde legt.[3] Das erlaubt es ihm, die Unterwerfung der Menschen unter die abstrakte Strukturlogik des Werts als „Entfremdung“ zu kritisieren, wobei Entfremdung hier ganz im altbekannten Sinne gemeint ist, wie er in der Rechten schon immer Verwendung gefunden hat, nämlich als Entfremdung von etwas „Eigentlichem“. Hierbei wäre zunächst einmal anzumerken, dass der Begriff der „Entfremdung“ in der wertkritischen Theoriebildung der Krisis kaum vorkommt (jedenfalls nicht in einem systematischen, kategorialen Sinne) findet, und zwar gerade deshalb, weil er Raum für solche Interpretationen öffnet. Wenn wir vom Fetischcharakter der Warenproduktion und der darauf beruhenden Vergesellschaftungsweise sprechen oder auch vom Wert als „automatischem Subjekt“, dann ist damit – nicht anders als bei Marx – immer ganz unmissverständlich gemeint, dass den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigenen sozialen Beziehungen als fremde, versachliche Gewalt gegenübertreten und sie beherrschen. Es geht hier also nicht um irgendein mysteriöses „Eigentliches“ von dem sie „entfremdet“ würden, sondern darum, dass sie nicht frei über ihren eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang verfügen können und der Möglichkeit beraubt werden, ihre eigenen gesellschaftlichen Potenzen im Sinne allgemeiner menschlicher Emanzipation und der individuellen Entfaltung zu nutzen.

Bei Benoist hingegen läuft die Kritik an der Strukturlogik des Werts darauf hinaus, dass die Menschen von einer angeblich vorgängigen Gemeinschaftlichkeit abgeschnitten würden. „Die Ware ist ein »Fetischobjekt«, das den sozial-historischen und organischen Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen verschleiert. Dieser Fetischismus äußert sich durch eine »Verdinglichung« der sozialen Beziehungen“ (S. 71, Hervorh. NT). Was es mit diesem „organischen Charakter“ auf sich haben soll, bleibt hier im Dunkeln; man kann es aber ahnen. Untermauert wird das noch durch den Verweis auf Heidegger, der den Begriff der Entfremdung (übrigens unter Rückgriff auf Lukacs) in genau diesem Sinne verwendet: „ … dabei wird die globale Gesellschaft zu einer »Marktgesellschaft«, in der die Logik des Profits sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens beherrscht) als auch durch eine intensive Kommodifizierung … Dies bezeichnet Heidegger als »Gestell«, als die allgemeine Vorrichtung zur Entbergung der Welt.“ (S. 74)

Um das zu untermauern, interpretiert Benoist auch Aussagen des jungen Marx zur Entfremdung in diesem Sinne: „In der Folge Hegels stellt Marx fest, dass die moderne Gesellschaft Individuen produziert hat, die von jeder dauerhaften Bindung »frei« sind, ja, dass sie sich aus isolierten Individuen zusammensetzt, die zunehmend voneinander getrennte Leben führen und nur noch durch den Warenaustausch miteinander verbunden sind. Er möchte eine neue soziale Bindung schaffen, da – wie schon von Aristoteles erkannt – das allererste Bedürfnis des Menschen die Bildung einer Gemeinschaft sei. Deshalb postuliert er die Vorrangstellung des Gemeinschaftlichen gegenüber dem abstrakten individuellen Subjekt sowie die Vorrangstellung des Sozialen gegenüber dem »Gesellschaftlichen«. Dabei erinnert er daran, dass das Individuum nur in und durch die sozialen Beziehungen existieren kann, die es ausmachen“ (S. 69). Nun ist es zwar richtig, dass der junge Marx eine Entfremdung vom „Gattungswesen“ ins Spiel bringt, sicher jedoch wollte er nicht das „abstrakte Individuum“ in der „Gemeinschaft“ versenken, sondern ganz im Gegenteil ging es ihm um die volle Entfaltung der Individualität, die erst in einer befreiten Gesellschaft möglich wäre („Verwirklichung des Gattungswesens“). Und natürlich hat er schon gar nicht den Vorrang der „Gemeinschaft“ gegenüber „dem Gesellschaftlichen“ propagiert[4], wo er doch ausdrücklich den Kapitalismus dafür abfeiert, dass dieser die vorkapitalistischen Gemeinwesen hinwegfegt.

Benoist muss also schon einigen interpretativen Zwang anwenden, um Marx in seinem Sinne zu vereinnahmen, denn seine „Kritik“ am abstrakten Individuum ist dem Marxschen ebenso wie dem wertkritischen Standpunkt diametral entgegensetzt. Was er will, ist schlicht und einfach die Unterwerfung des Individuums unter die kollektive Identität einer imaginierten Gemeinschaft. Ganz unmissverständlich spricht er das in einem Interview aus, das der besagte Bendikt Kaiser im Jahr 2014 mit ihm geführt hat: „Was ist Liberalismus? Das ist die Ideologie, die ihren Ursprung in der Philosophie der Aufklärung besitzt (aber deren Wurzeln viel weiter zurückreichen), die das Individuum und seine „natürlichen“ Rechte als die einzigen normativen Instanzen des Lebens in der Gesellschaft ansieht, was darauf hinausläuft, das Individuum zur alleinigen Quelle der Werte und der Lebenszwecke zu erheben, die es auswählt. Dieses Individuum wird für sich betrachtet, jenseits jeden sozialen oder kulturellen Kontexts. Deshalb erkennt der Liberalismus keine eigenständige Stellung von Gemeinschaften, Völkern, Kulturen oder Nationen an“.[5]

Wie schafft es Benoist nun aber, sich mit dieser Auffassung auf Marx und die Wertkritik zu beziehen, obwohl er das Gegenteil einer universellen menschlichen Emanzipation und der Assoziation freier Individuen anstrebt? Möglich ist das nur durch entsprechende Auslassungen und eine selektive Lektüre, die nicht nur darin begründet ist, dass er, wie schon erwähnt, einer strukturtheoretischen Lesart der Wertkritik folgt. Vielmehr sieht Benoist auch dort, wo er Quellen für seine Interpretation angibt, nur das, was er sehen will und blendet aus, was nicht in sein Konzept passt. Ausdrücklich erwähnt und zitiert Benoist in den beiden Texten nur das Manifest gegen die Arbeit, also einen eher nicht-theoretischen Krisis-Text, der aber immerhin einen großen Bogen schlägt und auf populäre Weise die Position der 1990er Jahre-Wertkritik zusammenfasst. Diesen Bogen verfolgt Benoist jedoch nicht konsequent, sondern er pickt sich lediglich das heraus, was er für seine Sichtweise adaptieren kann.

So referiert er zwar zunächst durchaus richtig, dass die Arbeit eine historisch-spezifische Tätigkeitsform ist, deren Funktion darin besteht, die gesellschaftlichen Beziehungen zu vermitteln (S. 87 – 89)[6]; auch auf die Bedeutung der abstrakten Zeit als spezifisch-historischer Zeitform kommt er zu sprechen (S. 88 f.); und er verweist auf die mit dem Selbstwiderspruch der Arbeit gesetzte historische Dynamik, die den Kapitalismus an seine absoluten Grenzen führt (S.90 f.). Insofern könnte man sagen, dass er mehr verstanden hat, als viele Linke, die an der Ontologie der Arbeit festhalten oder diese naturalisieren und von einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Produktionsweise nichts wissen wollen. Allerdings blendet Benoist erstens systematisch all jene zentralen Aspekte der Arbeitskritik aus, die nicht mit seiner Sichtweise kompatibel sind, wie etwa den Fetischcharakter der Arbeit, die Kritik an Arbeitsethik, Nationalismus und Rassismus, den Antisemitismus oder die geschlechtliche Abspaltung[7]. Stattdessen setzt er auch hier wieder nur seinen allgemeinen Begriff der Entfremdung ein[8], obwohl im Manifest dieser Begriff gar nicht auftaucht, sondern hier immer von Fetischismus die Rede ist und zwar in eben jenem Sinne, dass die Menschen von ihren eigenen sozialen Potenzen getrennt werden. Und zweitens geht er in keiner Weise darauf ein, was im Manifest unter der Aufhebung der Arbeit verstanden wird, denn dann hätte er ja auch sagen müssen, dass hier ausdrücklich von einer freien Assoziation der Individuen und selbstverständlich auch von der Abschaffung des Staates und der Nation die Rede ist. Stattdessen schafft sich Benoist eine extrem reduzierte und objektivistisch-sterile „Kritik der Arbeit“, die er dann im Sinne seines ethnizistischen Gemeinschaftsdenkens verwenden kann.

Ganz ähnlich verfährt er mit der Kritik am Liberalismus, wobei er sich hierbei nicht explizit auf die Wertkritik, sondern auf die Marxschen Frühschriften bezieht. Er schreibt: „In seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 hatte Marx dem Liberalismus bereits vorgeworfen, die früheren Macht- und Abhängigkeitsformen durch eine neue Form der abstrakten Herrschaft ersetzen zu wollen, die den als »frei und gleich« angesehenen Individuen (das heißt von all den traditionellen Formen der wechselseitigen Abhängigkeit entbunden, die deren Entfremdung verhinderten) auferlegt wird, und zwar durch das Wertgesetz“ (S. 81). Auch hier finden wir wieder Benoists Lieblingsbegriff der Entfremdung, wobei er diesmal allerdings ganz klar seine Vorstellung ausspricht, dass die Individuen in „traditionellen Formen der wechselseitigen Abhängigkeit“ nicht entfremdet waren (weil sie in „organischen Gemeinschaften“ aufgehoben waren). Dem stellt er die „abstrakte Herrschaft“ gegenüber, die den Individuen „durch das Wertgesetz“ „auferlegt wird“.

Abgesehen davon, dass noch einmal unmissverständlich ausgesprochen wird, aus welcher Perspektive Benoist die Marxsche Theorie und die Wertkritik rezipiert, sticht auch hier wieder eine strukturtheoretische Lesart ins Auge – die allerdings schon einer Karikatur wertkritischer Texte gleichkommt. Die Aufsplitterung der Gesellschaft in vereinzelte Einzelne wird hier zu einem äußerlichen Effekt „des Wertgesetzes“. Selbst wenn man einmal großzügig darüber hinwegliest, dass die Rede vom Wertgesetz bereits eine ökonomistische Verkürzung darstellt, und eigentlich von der Wertform bzw. vom Wert als „automatischem Subjekt“ die Rede sein müsste, erscheint es hier als fremde Macht und nicht als verselbstständigte Darstellung der grundlegenden Beziehungsform der kapitalistischen Gesellschaft. Die Aufsplitterung in vereinzelte Einzelne ist aber nicht der nachträgliche Effekt einer von ihnen unabhängigen Instanz, sondern logische und historische Voraussetzung der Vermittlung über Ware und Arbeit, die ihrerseits in der Selbstzweckbewegung des Werts ihren vollendeten Ausdruck findet. Wird der Wert hingegen als äußerliche Macht gesehen, bietet das nicht nur Anknüpfungspunkte für einen mit Gemeinschaftsvorstellungen unterlegten Entfremdungsbegriff, sondern es kann dann auch so erscheinen, als handle es sich dabei um eine „Fremdherrschaft“, die ihrerseits von irgendwelchen einflussreichen Kräften installiert worden ist.

Bei Benoit sind diese Kräfte identisch mit dem Liberalismus, den er als den Hauptfeind bezeichnet (vgl. etwa das bereits zitierte Interview). Wie „der Liberalismus“ es geschafft haben soll, „die früheren Macht- und Abhängigkeitsformen durch eine neue Form der abstrakten Herrschaft“ (S. 81) zu ersetzen, bleibt zwar unklar. Zu vermuten ist jedoch, dass Benoist hier an den Einfluss mächtiger Kapitalfraktionen und den von ihnen unterstützen Thinktanks denkt – ganz ähnlich übrigens wie ein Großteil der traditionellen Linken. Dass diese Argumentation offen ist für allerlei Verschwörungstheorien und auch antisemitische Wahnvorstellungen, liegt auf der Hand. Zwar argumentiert Benoist ausdrücklich gegen eine personalisierende Kapitalismuskritik; er lehnt die Vorstellung ab, dass die „»Gier« der bösen Besitzenden“ Schuld sei an der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen und wendet sich sogar gegen die „Suche nach Sündenböcken“[9]. Doch das schließt keinesfalls die Vorstellung aus, dass auf einer übergeordneten Ebene sehr wohl starke Mächte walten, die den Kapitalismus und seine Übel herbeigeführt und zu verantworten haben. Benoist spricht das so nicht aus, jedoch ist seine Lesart der Kapitalismuskritik zweifellos offen für eine Identifikation der „abstrakten Herrschaft“ mit „den Juden“ oder, um es mit Carl Schmitt auszudrücken, mit dem „absoluten Feind“, den es zu vernichten gilt.[10]

Wenn Benoist nun glaubt, in Marx einen Kronzeugen für eine solche Liberalismuskritik gefunden zu haben, dann ist das nichts anderes als interessiertes Wunschdenken. Denn auch wenn Marx die liberale Ideologie selbstverständlich scharf kritisierte, dann doch sicherlich nicht so, wie Benoist es unterstellt, bei dem der Liberalismus zu einer Art Metasubjekt wird, das „eine neue Form der abstrakten Herrschaft“ eingeführt hat. Dementsprechend muss es Benoist bei einem sehr allgemeinen Hinweis auf die Marxschen Frühschriften belassen, denn für seine Lesart hätte er auch gar keine einschlägigen Belege finden können. Und natürlich wird er auch in wertkritischen Texten nicht fündig. Denn dort ist die Kritik am Liberalismus stets und unzweideutig in einer Perspektive formuliert, die dem rechten Weltbild diametral entgegensteht.

Benoist stellt dem Universalismus die grauenhafte Imagination einer nach ethnizistischen Kriterien partikularisierten Welt entgegen. Der wertkritische Ansatz hingegen zielt gerade umgekehrt darauf, dass der Universalismus des Werts immer schon eine Form abstrakter Herrschaft darstellte und überdies strukturell auf eine Vielzahl von sozialen, rassistischen und sexistischen Ausschlüssen beruhte (und weiterhin beruht) und daher das in ihn projizierte Versprechen menschlicher Emanzipation prinzipiell nicht einlösen kann. Hinzu kommt noch, dass die im inneren des kapitalistischen Selbstwiderspruchs angelegte Krisenlogik nicht nur die ökonomische Grundlagen des warenproduzierenden Weltsystems untergräbt, sondern damit zugleich auch die Existenzbedingungen für den ihm eigenen Universalismus, weil mit der fortschreitenden Zersetzung funktionierender Warenproduktion und Staatlichkeit dessen materielle Grundlagen zerstört werden. Ob es gelingt, die universelle menschlichen Emanzipation, die nur in der Gestalt einer globalen Assoziation freier Individuen zu haben ist, in Konfrontation mit der destruktiven Dynamik des Krisenkapitalismus zu verwirklichen, ist eine offene Frage. Benoists Phantasien aber sind selbst nichts anderes als ideologisches Moment eben dieser destruktiven Dynamik und als solche zu bekämpfen.

Literatur:

Alain de Benoist: Wertkritik, in: Kaiser, Benedikt; de Benoist, Alain; Fusaro, Diego: Marx von Rechts, Dresden 2018, S. 78 -94

Alain de Benoist: Karl Marx und der Warenfetischismus, in: Kaiser, Benedikt; de Benoist, Alain; Fusaro, Diego: Marx von Rechts, Dresden 2018, S. 65 -78

Alain de Benoist: Der Hauptfeind heißt Liberalismus – Alain de Benoist im Gespräch über sein Lebenswerk, Interview mit Benedikt Kaiser, 3. Dezember 2014 https://sezession.de/47402/der-hauptfeind-heisst-liberalismus-alain-de-benoist-im-gespraech-ueber-sein-lebenswerk/2

Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle (20018): „Es bedarf einer neuen Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation“, Interview mit Marcos Barreira und Javier Blank, http://www.krisis.org/2018/es-bedarf-einer-neuen-perspektive-gesellschaftlicher-emanzipation/

Dieter Thomä: Wie antisemitisch ist Heidegger?, in: Marion Heinz/ Sidonie Kellerer (Hg.): Martin Heideggers „Schwarze Hefte“, Frankfurt/M. 2016

 

Anhang mit einigen weiteren Zitaten aus dem Büchlein Marx von Rechts

Zum Thema: Entfremdung, Individuum und „Gemeinschaft“

„Das große Verdienst von Karl Marx, so lautet ein Credo von Costanzo Preve, besteht darin, die qualitative Kategorie der Entfremdung auf die quantitative des Wertes aufgepfropft zu haben“ (S.86)

 [Anm. Preve war ein italienischer Intellektueller, 1943 – 2013, der zuerst radikal links war, sich dann aber der „Antiimperialistischen Koordination“ zuwandte, die eine Querfront gegen den „Imperialismus der USA“ propagiert)

„Diese Neigung, die Austausche stets zu maximieren, geht nicht aus der »Gier« der bösen Besitzenden hervor, wie von einer oberflächlichen, ständig auf der Suche nach Sündenböcken (Bankiers, Spekulanten usw.) befindlichen Kritik behauptet wird, sondern aus einer dem kapitalistischen System innewohnenden Tendenz. Entfremdend sind weniger die Führungsschichten/die Herrschenden als vielmehr ein subjektloser Prozess: die Autobewegung der sich selbst erschaffenden Dinge (das »automatische Subjekt«). Der Kapitalismus schließt die Unbegrenztheit als Bedingung für sein eigenes Überleben in sich ein. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der das gesamte gesellschaftliche Leben, das auf der Vorstellungswelt der abstrakten und »flüssigen« Gleichheit beruht, einer neuen Form der Heteronomie unterworfen ist, in der nur das Kapital autonom ist und in der der Wert die soziale Bindung ersetzt (S. 93)

Zum Thema: Krisenanalyse

Die krisentheoretischen Bezüge auf die Wertkritik sind inkohärent. Mal betont Benoist die Überakkumulation (S. 75 f.) und den Fall der Profitrate, ja sogar das Abschmelzen der Wertmasse, redet dann aber wieder die von Unterkonsumtion und davon, dass die Krise der 1970er durch die Aufhebung der Goldkonvertibilität ausgelöst wurde:

„Dieser Widerspruch (die Verausgabung der menschlichen Energie als Ziel an sich zu betrachten und gleichzeitig die Arbeit zunehmend überflüssig zu machen, bei einer immer geringeren Arbeitszeit immer mehr zu produzieren und weiterhin die Arbeit zur Grundlage des Wertes zu machen) erklärt, dass die riesigen verzeichneten  Produktivitätsgewinne weder zu einer deutlichen Verringerung der Arbeitszeit noch zu einem ständig höheren allgemeinen Wohlstand geführt haben. Die Dynamik des Kapitalismus untergräbt auf diese Weise die Basis, auf der der Kapitalismus beruht. Die gegenwärtigen Finanzkrisen sind weniger das Ergebnis der Spekulation oder der Verschuldung als vielmehr das einer grundlegenden strukturellen Krise im Prozess der Kapitalverwertung“ (S. 90).

„Dies impliziert die Forderung, Geld zu einem Ziel an sich zu machen (das Geld um des Geldes willen, meinte Marx), auf die Gefahr hin, in einen Widerspruch zu geraten, da das unbegrenzte Warenangebot nur einer begrenzten solventen Nachfrage gegenübersteht. In diesem Fall kommt es zu einer Bewertungskrise: Überproduktion auf der einen Seite und Überbewertung auf der anderen; das nicht mehr bewertbare Kapital findet dann naturgemäß Zuflucht in der Spekulation“ (S. 87)

„1971 vollzog sich eine neue systemische Krise durch die Abschaffung der Gold-Konvertierbarkeit des Dollars, was einen erneuten Fall der Investitions- und Profitrate herbeiführte. Globalisierung und Aufschwung der sogenannten »immateriellen Wirtschaft« ermöglichten es, diesem Fall zu trotzen, während der Kapital- oder Finanzmarkt gegenüber der Realwirtschaft immer mehr an Bedeutung gewann. Doch der aus der Globalisierung und der Internationalisierung der Unternehmen resultierende Druck auf die Löhne, die dem fordistischen System (das darin bestand, regelmäßig die Gehälter zu erhöhen, um den Konsum zu fördern) ein Ende setzt, führt zu einem Rückgang der Nachfrage; diese geht mit einer Explosion des Kreditwesens einher, die es Personen und Haushalten erlaubt, die Stagnation ihres Lebensstandards damit auszugleichen, dass sie mehr konsumieren als sie verdienen. Wenn die Schulden nicht mehr bezahlt werden können, explodiert das System“ (S. 76 f.)

Benedikt Kaiser: Marx von rechts

„Die gegenwärtig wichtigste Aufgabe für alle in diesem Geiste ansprechbaren politischen Akteure wird es daher sein, die zu schützende Demokratie aus der Verzahnung mit dem Finanzkapitalismus und seinen Satrapen in Politik, Gesellschaft und Medien zu lösen. Ganz in diesem Sinne muss das Ziel lauten, die Demokratie wieder als diejenige politische Ordnung herzustellen, die ihre Legitimität, ihr Machtmonopol, ihre Daseinsberechtigung aus der Souveränität des Volkes ableitet. Der »Hauptgegner« in diesem vielschichtigen politischen Prozess ist dabei klar: Es sind »der Kapitalismus und die Konsumgesellschaft auf ökonomischer Ebene, der Individualismus auf philosophischer Ebene, die Bourgeoisie auf gesellschaftlicher Ebene und die USA auf geopolitischer Ebene« (de Benoist 2012, S. 175). Alain de Benoist formuliert hiermit vielleicht keine kompromissbereite Konsenserklärung für die gesamte heterogene politische Rechte, aber er bietet eine kämpferische Ausgangsbasis. Unterhalb dieser Basis wird eine substanzielle Veränderung nicht herbeizuführen sein, wenn man als oppositionelle Kraft, als Teil einer zu schaffenden »Mosaik-Rechten« nicht lediglich eine »stabilisierende Klasse« (Jean-Claude Milner) für das Establishment darstellen möchte, die nach behutsamen Veränderungen ruft, »die das System effizienter machen und damit sicherstellen, dass sich nichts verändern wird« (Zizek)“ (S. 62)

[1] https://www.nsheute.com/2018/08/30/ausgabe-11-leseprobe-1-3-buchbesprechung-kaiser-de-benoist-fusaro-marx-von-rechts/

[2] Zur theoretischen Entwicklung der Wertkritik seit den 1990er Jahren vgl. das ausführliche Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle: „Es bedarf einer neuen Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation“ (2018)

[3] Ein Beleg für die Lesart: „Der Kapitalismus ist in Wirklichkeit ein System, in dem die Waren vorherrschen und die Menschen nur die Ausführenden ihrer Logik unter dem abstrakten Zwang des sich bewegenden Wertes sind“ (S. 91)

[4] Hier scheint übrigens (wie an vielen anderen Stellen im Text) ein Übersetzungsfehler vorzuliegen, denn die Aussage „Vorrangstellung des Sozialen gegenüber dem »Gesellschaftlichen«“ ergibt keinen rechten Sinn. Aus dem Vorhergehenden folgt aber, dass es sich wohl um den Gegensatz „Gemeinschaft – Gesellschaft“ handeln muss. Leider liegt mir das Original nicht vor, so dass ich es nicht überprüfen kann. Allerdings zeigt die ausgesprochen schlechte Übersetzung, dass die Leute von der Sezession sehr viel weniger mit Marx vertraut sind als ihr französischen Vordenker.

[5] Der Hauptfeind heißt Liberalismus – Alain de Benoist im Gespräch über sein Lebenswerk. Interview mit Benedikt Kaiser, 3. Dezember 2014 (Sezession.de) https://sezession.de/47402/der-hauptfeind-heisst-liberalismus-alain-de-benoist-im-gespraech-ueber-sein-lebenswerk/2

[6] Er bezieht sich hier zusätzlich auch auf Moishe Postone.

[7] Auch Postone wird von Benoist nur als interessanter Interpret der Marxschen Theorie behandelt, wohingegen seine Einsicht, dass der Antisemitismus eine Form des „fetischistischen Antikapitalismus“ ist, vollkommen ausgeblendet wird.

[8] „Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit spielt sich innerhalb des kapitalistischen Systems ab, ermöglicht aber nicht, es zu verlassen. Mit anderen Worten ist jede Arbeit heutzutage nur deshalb entfremdet, weil sie Arbeit ist. Jegliche Objektivierung der menschlichen Tätigkeit in der modernen Arbeit stellt eine Entfremdung dar“ (S. 91).

[9] „Diese Neigung, die Austausche stets zu maximieren, geht nicht aus der »Gier« der bösen Besitzenden hervor, wie von einer oberflächlichen, ständig auf der Suche nach Sündenböcken (Bankiers, Spekulanten usw.) befindlichen Kritik behauptet wird, sondern aus einer dem kapitalistischen System innewohnenden Tendenz“ (S. 93).

[10] Die Identifikation „der Juden“ mit der abstrakten Seite des Kapitalismus ist, wie Moishe Postone gezeigt hat, ein Kernelement des Antisemitismus. Dazu bedarf es nicht unbedingt einer unmittelbaren Personifizierung in „den Spekulanten“ oder „Bankstern“. Der sich philosophisch anspruchsvoll gebende Antisemitismus verachtet solche „vulgären“ Identifikationen sogar und sucht, die „Macht der Juden“ auf eine grundsätzlichere Weise zu begründen. So wirft etwa Carl Schmitt in seinem Buch zu Thomas Hobbes von 1938 Spinoza vor, dieser habe das Hobbsche Denken zugunsten des „Individualismus“ pervertiert. „Damit habe dieser eine entscheidende Wendung herbeigeführt, die von einer ‚jüdischen Front‘, zu der zuvörderst die liberalen Juristen Preußen des 19. Jahrhunderts gehörten, weitergetrieben worden sei“ (Thomä 2016, S. 219). Auf einem von Schmitt im Jahr 1936 organisierten Kongress über das „Judentum in der Rechtswissenschaft“ betont er dementsprechend: „jüdische Juristen würden seit Generationen die ‚jungen Deutschen‘ verderben, das ‚jüdische Gesetzesdenken‘ sei auf ‚sämtlichen Gebieten des Rechtslebens zur Herrschaft gelangt‘ und damit müsse es nun ein Ende haben“ (ebd.).