01.06.2004 

Infantilisierung bis zum Windelstadium

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S.42 – 43

Von der Zurichtung zur Hinrichtung I

von Maria Wölflingseder

Über die »infantile neue Selbständigkeit« schreibt Ernst Lohoff in seinem Beitrag. Über die »dynamischen Jungidioten, die sich penetrant danach erkundigten, was denn die Welt koste, um immer gleich darauf hinzuweisen, dass sie auch genug Kredit hätten, sie demnächst einzukaufen«. Die Infantilisierung erschöpft sich nicht nur im Gehabe und in der Gemütsverfassung der Job-Monaden. Die allseitige Regression verlangt obendrein nach Mutter und Windel.

Fräulein Karriere-Frau meint, sie wäre keine solche, wenn nicht ihre Mutter all die täglichen Erledigungen – Einkäufe, Besorgungen, Behördenwege – übernähme. Für IT-Zombies in den USA, die nicht selten im Büro auf einer Matratze nächtigen, »gegen den Computer gekuschelt, weil der immer schön warm ist«, absolvieren das Hilfskräfte, die ihnen vom Arbeitgeber gratis zur Verfügung gestellt werden. (Lorenz Kummer: »An den Computer gekuschelt«, Salzburger Nachrichten 7. Oktober 2000)

Am Tropf des ›Zeit ist Geld‹ hängend, können weder FabriksarbeiterInnen noch SupermarktkassierInnen noch CallCenter-Angestellte einfach auf und davon – auch nicht auf die Toilette. Dazu gibt’s schließlich Windeln! Aus alles Ecken und Enden der Welt, von fern und nah, sickert die Impertinenz durch: Kindern lernt man, rechtzeitig das Klo aufzusuchen, aber Erwachsene werden bei Strafe, bei Verlust ihres Arbeitsplatzes, daran gehindert. Abermillionen dürfen während der Schicht in der Fabrik oder an der Supermarktkasse ihren Platz nicht verlassen. Arbeitende in einem Berliner Call-Center müssen sich zum Toilettengang von der Schicht abmelden.

Auch die Toiletten-Verbote eines chilenischen Call-Centers sind dokumentiert. Das wahre Ausmaß liegt wohl im Dunkelschwarz. Wer sich darüber verbreitert, braucht die nächste Schicht wohl gar nicht mehr antreten. Die offiziellen Windel-Begründungen klingen geradezu fürsorglich und lassen an Perfidie nichts zu wünschen übrig, wie zum Beispiel die Erklärung eines Argentinischen Supermarktchefs der Provinz Mendoza: »Falls Kälte, Nervosität, Druck oder Stress Inkontinenz verursachen.«

Auch Kindererzieherinnen, die alleine zwanzig Kleinkinder betreuen, geht es nicht viel besser. Wenn sie mal müssen, müssen sie alle ihre Schützlinge im Toilettenraum Aufstellung nehmen lassen. Bis 1998 gab es in den USA – sicher nicht nur dort – kein Bundesgesetz, das den Toilettengang gewährleistet. Vermutlich war der Windelzwang vorher noch nicht so groß wie nun in der Ära der völligen Entsicherung.

(Barbara Ehrenreich, Arbeit Poor, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 239., Dela Kienle: Hosen voll, Neon [Magazin des Stern] 2/2004, www.labournet.de im Suchfenster ›Toilette‹ eingeben.)