31.12.2006 

Piqueteros oder: Wenn Arbeitslosigkeit adelt

Über die schwierige Kunst, Basisbewegungen in den neoliberalen Metropolen zu organisieren [1]

Marco Fernandes [2]

„Ich glaube, die Piquetes haben auf ihre Weise die Apathie gesprengt. Wir haben das Land aus den süßen Träumen aufgerüttelt, die Menem und all diese Politiker verkauften; wir waren wie der Durchbruch eines neuen Lichts. Zusammen mit anderen Kämpfen haben wir das Land aus der Wunschträumen der Postmodernität aufgeweckt. Sie haben uns Piqueteros genannt, und das war unsere Art zur ganzen Gesellschaft zu sprechen , ihr zu sagen, dass es andere Kampfformen gibt, und um unserer Leidenschaft und unserer Würde Ausdruck zu verleihen.“ (Aktivist des MTD Solano) [3]

Mit leerem Magen kann ich nicht schlafen, aber als er voll war, dacht’ ich nach, ich kann desorganisieren, wenn ich mich organisier, mich organisieren, wenn ich desorganisier, kann desorganisieren, wenn ich mich organisier.“ (Chico Science und Nação Zumbi auf dem Album: Da lama ao caos)

1. Der Kollaps Argentiniens und die gesellschaftliche Fragmentierung

Es ist nicht leicht, über die unter dem Namen Piqueteros [4] bekannten Bewegungen der argentinischen Arbeitslosen zu schreiben. Zunächst einmal, weil es sich dabei um ein junges, wenig untersuchtes und zudem in Entwicklung begriffenes Phänomen handelt. Und das ist nicht unwichtig. Es bedeutet, dass die Kenntnis äußerst begrenzt ist, die wir über den Alltag dieser Bewegungen und die möglichen Veränderungen besitzen, die sie in den Menschen und ihren Lebenswelten bewirken können. Vorsicht ist geboten bei der Einschätzung der vermeintlichen politischen Tendenz dieser oder jener Bewegung – Tendenzen, die oft eher die Wünsche und Interessen ihrer Anführer widerspiegeln als die wirklichen Überzeugungen der Mehrheit ihrer Aktivisten. Die größte Schwierigkeit bei der Einschätzung der Piqueteros rührt sicher aus der Fragmentierung des Spektrums. Seinen Ausdruck findet das sowohl in der beträchtlichen Anzahl von Bewegungen, die sich während der letzten Jahre formiert haben, als auch innerhalb der Organisationen selbst, die sich aus Menschen verschiedener Stadtviertel, Kommunen und Bevölkerungsschichten zusammensetzen. Das ist die Folge des zerrissenen Zustands der argentinischen Gesellschaft fast drei Jahrzehnte nach dem letzten Militärputsch und fünfzehn Jahre nach der Machtübernahme Menems und der radikalen Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Argentinien war das südamerikanische Land, das dem wirtschaftlichen und sozialen Modell des europäischen Wohlfahrtsstaates am nächsten kam. Eine dynamische Wirtschaft, die starke Vertretung einer gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse und – nicht zu vergessen – der durch General Juan Domingo Peron verkörperte Populismus (ausgedrückt in der jahrzehntelangen Hegemonie des Partido Justicialista – der peronistischen Partei) haben zumindest zwischen den 1940er und den 1970er Jahren ein relativ homogenes System der Reichtumsverteilung ermöglicht und einen Staat, der weitgehend für einen allgemeinen Zugang zum Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem sorgte – auch wenn mehr als eine Militärdiktatur in diesen Zeitraum fiel. Das Auseinanderfallen der argentinischen „Arbeitsgesellschaft“ vollzog sich allmählich in mindestens „drei Entstaatlichungsschüben“ im Verlauf von Wirtschaftskrisen, die zunehmende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Arbeitsbedingungen nach sich zogen; wobei die beiden letzten Phänomene zweifellos eine Konsequenz der neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihrer Ideologie sind, die sich während der 90er Jahre wie eine Seuche ausbreitete. [5]

Der erste Schub kann auf das Jahr 1976 datiert werden, dem Beginn der letzten Militärdiktatur. Im Gegensatz zur brasilianischen Militärherrschaft, die Mitte der 70er Jahre versuchte, das Modell der nationalen Wirtschaftsentwicklung noch einmal zu beleben, während sie die Feinde des Regimes ermordete und folterte, ergriff das argentinische Militärregime ohne ein so genanntes „nationales Projekt“ die Macht. Die von ihm bewirkten wirtschaftlichen Veränderungen waren für die ersten Deindustrialisierungsschübe verantwortlich und damit für die ersten Massenentlassungen, mit denen Lohnabhängige aus dem formellen Wirtschaftssektor ausgeschlossen wurden (ganz zu schweigen von den 30.000 Ermordungen in den sieben Jahren der Diktatur). Dieser Prozess setzte sich während der ersten Jahre des demokratischen Regimes (ab 1984) fort, wobei immer mehr Lohnabhängige sich in informelle Arbeitskräfte des Dienstleistungssektors verwandelten.

Die zweite Welle setzte Anfang der 90er Jahre ein, bereits unter der Regierung Menem. Damals wurden unter dem Druck der internationalen Finanzinstitutionen neoliberale wirtschaftliche Strukturreformen durchgesetzt: Öffnung des Binnenmarkts für ausländische Erzeugnisse, Massenprivatisierungen im gesamten Staatsapparat und Kontrolle der Arbeitskräfte durch Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen. Das Ergebnis war ein weiterer Deindustrialisierungsschub und eine zusätzliche Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Davon waren besonders die Arbeiter des Großraums Buenos Aires sowie die (ehemaligen) Beschäftigten des öffentlichen Dienstes betroffen. Erneut wanderten starke Kontingente von Lohnabhängigen in informelle Wirtschaftssektoren ab. Die dritte Welle begann mit der durch den „Tequila-Effekt“ (den mexikanischen Crash) ausgelösten Krise 1995 schon während der zweiten Amtszeit Menems. Von diesem Zeitpunkt an trat die Wirtschaft in eine Stagnationsphase ein, die 2001 in der größten Krise in der Geschichte des Landes mündete, mit formellen Arbeitslosenraten von 20 % und einem Verelendungsschub, der über 50 % der Bevölkerung unter die offizielle Armutsgrenze beförderte.

Angesichts dieses düsteren Bildes erklärt sich der heterogene Charakter jener riesigen Schicht der argentinischen Bevölkerung, die heute von Arbeitslosigkeit und Prekarisierung betroffen ist. Diese Fragmentierung spiegelt sich jedoch auch in der sektoralen Struktur der Ökonomie, in der sozialen Schichtung und der räumlichen Strukturierung des Großraums Buenos Aires. Um dies an zwei Beispielen zu verdeutlichen: Zum einen finden wir im Süden der Hauptstadt Gemeinden wie Florencio Varela, eine mit Slums durchsetzte relativ junge Siedlung (aus den 80er Jahren), in der vor allem Arbeiter leben, die auf lange Erfahrungen mit prekären Arbeitsbedingungen zurückblicken können, oder den von Mittelschichten und Armen bewohnten Distrikt Solano, wo die Distanz zum „klassischen“ Arbeitermilieu groß ist. Im Westen der Metropole gibt es zum anderen Kommunen wie La Matanza, mit starker Konzentration von Industriebetrieben, einer Einwohnerzahl von 1,3 Millionen und extrem hohen Arbeitslosenraten, wo das identitätsstiftende Erbe der Fabrikerfahrung durchaus noch präsent ist.

Aus diesen und anderen Gründen sind kategorische Aussagen zur sozialen Zusammensetzung der Piquetero -Bewegung unmöglich. Eigentlich wäre von einer Bewegung von Bewegungen zu sprechen, denn die ziemlich hohe Zahl von Organisationen und politischen Tendenzen der Piquetero -Bewegung macht es schwer, ein Gesamtbild davon zu erstellen. Mit Sicherheit hat die Fragmentierung der Bewegung aber auch zu einer Schwächung ihrer politischen Kraft beigetragen , da ihre unterschiedlichen Orientierungen oftmals Pläne, gemeinsam zu agieren und Druck auf den Staat auszuüben, vereitelt haben und dies auch weiterhin tun, obwohl ein gemeinsam geführter Kampf gewiss wirksamer wäre. Die politisch-institutionelle Bresche, die das Entstehen dieser Organisationen ermöglichte, war indes ein und dieselbe. Sie steht in direkter Verbindung mit einer gemeinsamen ökonomischen Forderung , die als Vermittlung diente, um derart unterschiedliche Interessen auf einen Nenner zu bringen. Diese Forderung waren die so genannten Planes , eine staatliche Transferleistung, die einem (minimalen) Arbeitslosengeld entspricht. Gegenwärtig liegt sie bei 150 Pesos (ca. 50 Euro). Ihre Geschichte stellt eine der wenigen Gemeinsamkeiten in der Erfahrung der Piquetero -Bewegungen dar. Dennoch ist die Art, die Konflikte mit dem Staat um die Aneignung öffentlicher Mittel in Form der Planes zu lösen, von Organisation zu Organisation verschieden.

Die Auszahlung der Planes begann Mitte der 90er Jahre unter der Regierung Menem. Bevor sie zur materiellen Basis wurden, die die Piquetero -Bewegungen ermöglichte (wie ich weiter unten erläutern werde), hatte die Regierungsstrategie den Charakter bloßer Sozialfürsorge ( assistencialismo ), das heißt, sie beschränkte sich auf eine kärgliche Kompensation für den gesellschaftlichen Zerfall, Resultat der neoliberalen Wirtschaftspolitik der zehnjährigen Regierungszeit Menems, welche die schlimmsten Armuts- und Ausgrenzungsziffern hervorbrachte, die das Land je gesehen hat. Wir dürfen hier nicht aus den Augen verlieren, dass diese vom argentinischen Staat in den neoliberalen 90er Jahren geschaffenen Kompensationsmechanismen im Grunde eine neue Strategie zur Kontrolle und Beschwichtigung der sozialen Widersprüche darstellten. Da sich die Wirtschaft außerstande erwies, die gesamte gesellschaftlich verfügbare Arbeitskraft zu integrieren, wurde es notwendig, immer größere Massen der aus dem Produktionsprozess ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten zu kontrollieren.

So entstand eine Schlüsselfigur der politischen Landschaft Argentiniens: die Punteros , Funktionäre von Menems Partido Justicialista, die in den Wohnvierteln als Vertreter des Staates fungierten und für die Umsetzung der Fürsorgepolitik in den Gemeinden verantwortlich waren; da während der ersten Jahre die Auszahlung der Planes ausschließlich durch die Präfekturen erfolgte, blieb ein Großteil der Staatsgelder in den Händen dieser üblen Gestalten. [6]

Die Punteros sind so etwas wie die moderne Version des „ Sindicalista pelego “ [7] . Während dieser in den Fabriken und Gewerkschaften eventuelle Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern entschärfte, erfüllen jene eine ähnliche Aufgabe in Bezug auf die Konflikte, die sich heute außerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses abspielen, d.h. in den Stadtvierteln. Die Punteros sind die täglichen Feinde der Piqueteros . Ihre Strategie variiert: vom Versuch, die Mitglieder der Bewegung zu kooptieren (durch finanzielle Zuwendungen oder gar durch Gewaltandrohung) bis hin zur Zusammenarbeit mit der Polizei, indem sie den staatlichen Repressionsorganen als Spitzel dienen. [8]

Als Form des Widerstands und der Antwort auf diese soziale Repression kam es ab 1996 zu den ersten organisierten Massenreaktionen auf die nationale Krise. Es bildete sich das, was der Soziologe Pierre Bourdieu einmal als „soziologisches Wunder“ bezeichnet hat: eine Arbeitslosenbewegung .

Bevor wir fortfahren, seien hier zwei wesentliche Merkmale der argentinischen Arbeitslosenbewegung hervorgehoben, die auf ihre Ähnlichkeiten und Differenzen mit anderen Massenbewegungen des lateinamerikanischen Kontinents verweisen, aber auch auf ihre enormen Schwierigkeiten, sich als politische Bewegung zu konstituieren.

2. Eine städtische Bewegung: Neubeginn des Kampfes gegen das Kapital in der „Kapitale“

Bis in die Mitte der 90er Jahre hinein hatten die bedeutendsten Massenbewegungen dieses Kontinents (die Landlosen des MST in Brasilien, die indigenen Völker wie die Zapatistas in Mexiko, die Aymaras in Bolivien und die pluriethnische Bewegung in Equador) eines gemeinsam: Es waren ländliche Bewegungen. Sie konstituierten sich um eine gemeinsame Forderung herum – Landbesitz zur Reproduktion des eigenen Lebens – und um eine gemeinsame Identität – die des seiner Produktionsmittel beraubten Landarbeiters oder die des indigenen Volkes mit einem historischen Anrecht auf Land und Autonomie. Diese zwei Eckpfeiler – materielle Forderung und gemeinsame Identität – sind für die Schaffung einer sozialen Bewegung von wesentlicher Bedeutung. Ohne konkrete ökonomische Errungenschaften – dies zeigt die historische Erfahrung der Arbeiterbewegung – ist es so gut wie unmöglich, die notwendige Mobilisierung aufrecht zu erhalten, um Forderungen durchzusetzen. Ohne die Konstruktion einer kollektiven Identität wiederum, die mit der Formulierung eines politischen Projekts verbunden ist – das seinerseits die theoretische und praktische Schulung der Aktivisten voraussetzt – läuft die Bewegung Gefahr, auseinander zu fallen, schwächer zu werden oder gar völlig von der Bildfläche zu verschwinden, wenn ihre materielle Forderung erfüllt ist. [9]

Den Zapatistas, Landlosen und Aymaras ist es jedenfalls, jeder Bewegung auf ihre Weise und unter großen Schwierigkeiten, gelungen politische Perspektiven zu entwickeln, die über die unmittelbaren materiellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder hinausweisen und die in den letzten Jahren zu politischen Bezugspunkten des Massenwiderstands gegen die Krise des Kapitalismus und die neoliberale Hegemonie in ihren jeweiligen Ländern wurden. Gewiss hat zum Erfolg dieser Bewegungen in erster Linie die Tatsache beigetragen, dass ihre Hauptforderung nach Grund und Boden sowie beim MST nach Darlehen für die landwirtschaftliche Produktion sich auf Produktionsmittel bezieht, um so eine wirtschaftliche Basis für die Subsistenz der Mitglieder zu sichern. Zweitens war eine gemeinsame Identität im Sinne eines kommunitären Zusammenhangs bei den indigenen Völkern bereits vorhanden und ließ sich im Falle der Landlosen relativ leicht herstellen – zumindest auf regionaler Ebene. Bei urbanen Bewegungen gestaltet sich die Errichtung dieser Eckpfeiler erheblich schwieriger.

Nicht von ungefähr sind die neuen urbanen Massenbewegungen in Ländern wie Brasilien und Mexiko bislang entweder sehr schwach (siehe die brasilianische Obdachlosenbewegung) oder gar bedeutungslos gewesen. Dieses Problem ist auch der argentinischen Erfahrung nicht fremd. Um es mit den Worten eines Piquetero -Aktivisten zu sagen:

„Hier in Buenos Aires ist der soziale Zusammenhalt völlig zerrüttet. Wenn du arbeitslos bist und dagegen auf der Straße protestierst, dann fährt dich der Nachbar, der zur Arbeit fahren will, mit seinem Auto über den Haufen. Die Leute sind verrückt, völlig durchgeknallt. Jeder denkt nur an sich. Auf diesem Gebiet richtet der Kapitalismus die schwersten Schäden an, hier erleiden wir eigentlich unsere größte ideologische Niederlage. Am auffälligsten ist das in den großen Städten mit ihrem Konsumismus, ihrem Egoismus, ihrem technologischen Fortschritt und allen Verheißungen des Kapitalismus.“ [10]

Die großen modernen Metropolen leisten der Fragmentierung in jeder Hinsicht Vorschub: Als objektive Tendenz durch die strukturelle Krise des Arbeitsmarktes, durch die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Individuen auf einem Markt, der nicht für alle Platz hat, und durch die Privatisierung des öffentlichen Raums, die mit der Privatisierung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten einhergeht und Stadtviertel und Straßen in bloße Durchgangsorte verwandelt hat. Diese Tendenz wird verschlimmert durch den Anstieg der Kriminalität infolge wachsenden Elends und wirtschaftlicher Ungleichheit. Auf subjektiver Ebene wiederum werden wir auf eine individualistische Lebensweise konditioniert, zurückgeworfen allenfalls auf die Kernfamilie, unfähig zu irgendeiner Form des kollektiven Zusammenlebens und der Selbstorganisation. Meistens reduziert sich der Versuch, unsere Subjektivität zu leben – wie der Piquetero -Genosse oben bereits sagte – auf die Konsumträume, welche die Kulturindustrie und die Werbung rund um die Uhr produzieren.

Vor einem derartig düsteren Hintergrund gerät in den großen Städten der Aufbau einer Basisbewegung, die so verschiedene Interessen wie die der Arbeitslosen und der Prekarisierten in sich zu vereinen vermag, zu einer Herkulesarbeit. Zu einer sehr komplexen Aufgabe wird auch die Formulierung wirtschaftlicher Forderungen, ohne die es geradezu unmöglich ist, die Menschen für ein gemeinschaftliches Projekt längerfristig zu mobilisieren, denn schließlich muss man ja jeden Tag für seinen Lebensunterhalt sorgen. In den großen Städten ist die Aneignung der Produktionsmittel bislang noch keine gängige Praxis, so wie bei den Landlosen. Es müssen aber alternative Formen gefunden werden, um das Überleben der Menschen zu gewährleisten, entweder durch die Schaffung von Einkommen oder durch Senkung der Ausgaben für den Lebensunterhalt.

Dies ist die erste historische Herausforderung für den Aufbau der Arbeitslosenbewegungen in Argentinien. Doch bevor wir uns einige der kreativen Lösungen ansehen, die die Piqueteros als Antwort darauf gefunden haben, müssen wir kurz auf einen wichtigen psychologischen Aspekt eingehen, der ebenfalls einen großen Anspruch an die Bildung dieser Bewegungen darstellt.

3. Eine Bewegung von „Prekarisierten“: die Scherben der zerbrochenen Ichs wieder zusammenfügen [11]

Markiert der urbane Charakter der Piquetero -Bewegung ihren Unterschied zu anderen Basisbewegungen des lateinamerikanischen Kontinentes, so nähert sie ein nicht minder wichtiges Merkmal jenen Bauernbewegungen an, die wir zum Vergleich herangezogen haben. Dieses Merkmal ist die Prekarisierung . Waren die politischen Bewegungen der Arbeiterklasse das ganze letzte Jahrhundert hindurch Bewegungen von g ewerkschaftlich und parteilich organisierten Arbeitern, die direkt in den Prozess der Warenproduktion einbezogen waren, so zeichnen sich die „neuen“, in den letzten zwanzig Jahren entstandenen Basisbewegungen dadurch aus, dass sie entweder aus indigenen Bevölkerungsgruppen bestehen, die im eigenen Land durch die lokalen Modernisierungsprozesse der peripheren Nationen ausgegrenzt wurden, oder aus Arbeitern ländlicher und städtischer Gebiete, die vom Produktionsprozess ausgeschlossen und/oder die prekarisiert worden sind, weil sie für die Verwertung des Kapitals nicht mehr benötigt werden. Es dreht sich hier jedenfalls um zig Millionen Menschen, die das System nicht mehr braucht, es sei denn zur Kontrolle der Noch-Beschäftigten. Denn ein Ergebnis der Massenarbeitslosigkeit ist ja die ständige Angst der Lohnabhängigen vor der Entlassung, die ihre Fähigkeiten, Rechte einzufordern, beeinträchtigt.

Für die „Herausgefallenen“ wird es noch schwerer, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen; die geradezu natürliche Tendenz ist, dass sie sich mit ihrer scheinbar aussichtslosen Lage abfinden, so der Sozialpsychologe Francisco Ferrara, Aktivist einer Piquetero -Bewegung, der sich mit den psychischen Folgen der neuen Armut beschäftigt:

„Das, was sie als Subjekte ausgemacht hat, ist verschwunden. Die herrschende symbolische Ordnung bricht zusammen und reißt dabei die Bedingungen der Subjektkonstitution mit ein. Das Elend wirkt sich aus auf die sozialen Bindungen, die Körper, das Symbolisierungsvermögen, das Wertesystem, es löst die Subjektivität auf und macht jede menschliche Regung zunichte.“ [12]

Ein ökonomischer Krisenprozess – zumal wenn er sich auf einen derart kurzen Zeitraum zusammenzieht – löst stets auch eine Sinnkrise , d.h. eine Krise der Subjekte aus. Die kapitalistische Ordnung organisiert, wenn auch auf entfremdete und repressive Weise, unsere Existenzen, kontrolliert unseren Alltag, unsere Handlungen und Begierden. Wenn von heute auf morgen oder binnen weniger Jahre diese Ordnung zerbricht, dann zerfällt mit ihr auch die Grundlage für die Ich-Struktur der Individuen, so fragil und heruntergekommen diese Struktur in einer Welt wie der des Kapitals auch sein mag. Arbeitslosigkeit ist für das Subjekt gleichbedeutend mit dem Verlust seiner Existenzberechtigung, mit einem Gefühl völliger Nutzlosigkeit. Wir sind von früh an darauf getrimmt, die uns von der Gesellschaft auferlegte soziale Funktion zu erfüllen: arbeiten, Reichtum, sprich: Profit für die Kapitalverwertung zu schaffen sowie unseren Lebensunterhalt und den unserer Familie zu verdienen. Verschwindet all dies, dann gehen auch die subjektiven Waffen verloren, die die Anpassung an das System garantieren: Sein Leben leben wird nach und nach unmöglich, und die Flucht in psychische Krankheiten ist in vielen Fällen der einzige verfügbare Ausweg. Häufig berichteten die Bewegungsaktivisten, mit denen ich diskutiert habe, von Fällen schwerer psychischer Krisen, wie psychotischen Anfällen und schweren Depressionen, vor allem bei Männern.[13]

Einige der „neuen“ Basisbewegungen konstituierten sich indessen als Antwort auf diese Art von Dilemma. Wie wir oben gesehen haben, erlebte die argentinische Bevölkerung in den 90er Jahren einen noch nie da gewesenen gesellschaftlichen Absturz. Die Argentinier, die, verglichen mit ihren Nachbarn vor allem in Brasilien, Bolivien und Paraguay, an relativ komfortable Lebensbedingungen gewohnt waren, mussten mitansehen, wie in nur zehn Jahren alle ihre Modernisierungsträume in Rauch aufgingen. Die Mittelschicht verarmte, während die, die bereits arm waren, ins Elend abstürzten: 2,5 Millionen Arbeitslose und 20 Millionen Arme bei einer Bevölkerung von 37 Millionen Menschen. Die subjektiven Auswirkungen einer so enormen Wirtschaftskatastrophe haben im Alltag eines Landes, das buchstäblich zu einem Armenhaus wurde [14], so gut wie keine theoretische Resonanz gehabt. Dabei hat dieses Phänomen mit Sicherheit einen Prozess ausgelöst, der dem ähnelt, was ein anderer Sozialpsychologe, José Moura Filho Gonçalves, mit dem Begriff soziale Demütigung bezeichnet:

„Der Mechanismus der sozialen Demütigung unterliegt wirtschaftlichen und unbewusst-psychischen Bestimmungen. Man könnte sie definieren als eine Form verzweifelter Angst angesichts des Rätsels der sozialen Ungleichheit . Als solches handelt es sich dabei um ein zugleich psychologisches und politisches Problem. Die gedemütigte Person durchläuft eine Situation, die es ihr unmöglich macht, ihre Menschlichkeit zu leben, und die sich in ihr selbst ausdrückt – in ihrem Körper und ihren Gesten, in ihrer Phantasie und ihrer Stimme – aber auch in ihrer Lebenswelt – am Arbeitsplatz und im Wohnviertel.“ [15]

Betrachten wir das Problem also weiterhin sowohl vom objektiven als auch vom subjektiven Standpunkt: auf der ökonomischen Ebene und auf der des Unbewussten . José Moura Filho Gonçalves zufolge liegen die materiellen Wurzeln der sozialen Demütigung im wirtschaftlichen Produktionsprozess; sie wird bestimmt durch den Platz, den ein Mensch in der gesellschaftlichen Klassenstruktur einnimmt. Diese Ungleichheit erzeugt wiederum unbewusste Prozesse in den Individuen, die sie daran hindern, Subjekt zu werden. Die Psychoanalyse bezeichnet diesen „verwehrten Zugang“ zum eigenen Ich als Angst. [16]

Angst lässt sich psychoanalytisch als Ergebnis politischer oder psychologischer Ereignisse definieren, die das Subjekt nicht verarbeiten und die es weder für sich noch für seine Umgebung interpretieren oder sinnvoll auslegen kann – daher ihr rätselhafter Charakter . Es lässt sich nur schwer ein geeigneterer Begriff als der der traumatischen Situation finden, um den rapiden Prozess des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs zu beschreiben, den die Argentinier in der jüngsten Vergangenheit durchgemacht haben und der den meisten von ihnen gewiss als Rätsel erschienen sein muss. Da mehr als die Hälfte der Bevölkerung verarmt ist, lässt sich dieser Prozess unmöglich als marginal behandeln. Er muss im Gegenteil als strukturierend angesehen werden für das, was man als „die psychische Ökonomie der Nation“ bezeichnen kann. Oder noch spezifischer: Wollen wir die Wirklichkeit der vor allem in der Peripherie von Buenos Aires konzentrierten Erwerbslosenbewegungen begreifen, so dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass diese Angst wahrscheinlich das Schlüsselgefühl zum Verständnis der enormen Schwierigkeiten ist, denen diese Bewegungen im Alltag gegenüberstehen. Im Hinblick auf die psychische Realität der Unterschichten schreibt José Moura Filho Gonçalves:

„Die Armen leiden psychologisch gesehen fortwährend unter dem Druck einer seltsamen, mysteriösen Botschaft, die sagt: ,Ihr seid minderwertig…‘ Für die Armen ist Demütigung entweder unmittelbar präsent, oder sie spüren, dass sie jederzeit auf sie lauert, wo immer und mit wem sie auch zusammen sein mögen. Das Gefühl der Rechtlosigkeit, das Gefühl, verachtenswert oder widerwärtig zu sein, gewinnt zwanghaften Charakter: Sie bewegen sich und reden – wenn sie reden – wie Wesen, die niemand sieht.“[17]

Diese subjektive (und politische) Fragilität derer „von unten“ ist der Humusboden, auf dem der Staat neue Formen sozialer Kontrolle entwickelt. Im Fall Argentiniens haben diese Formen, wie wir oben gesehen haben, mit dem Auftreten des Punteros begonnen, der in die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung die Logik der Begünstigung einführt. Das Recht auf ein paar Brosamen, die Tausende von Familien wenigstens vor dem Hunger retten, wird so der Willkür des politischen Chefs im Wohnviertel anheimgestellt. Die dadurch entstehende Beziehung hat dazu beigetragen, das Minderwertigkeitsgefühl der Ausgeschlossenen zu verstärken:

„Der Puntero lähmt den Willen, er zerstört das Selbstwertgefühl, fördert bei den Subjekten kontemplative Verhaltensweisen und bringt das Volk um seine strategische Kraft… Er verstärkt die negativen Identitäten, indem er zur Verinnerlichung der Herrschaftsperspektive beiträgt… Kurzum, die Funktion der Punteros zielt darauf ab, die armen Sektoren der Bevölkerung an ihre subalterne Rolle zu erinnern.“ [18]

Einst der Macht ihrer Chefs ausgeliefert, finden sich die Erwerbslosen nun in einer Abhängigkeitsbeziehung zum Vertreter des Staates wieder. So entsteht ein Kontinuum von Herrschaft, welches fortwährend das unterminiert, was den Subjekten noch an Würde und Selbstwertgefühl bleibt. Eine auf solchen Parametern basierende Beziehung trägt natürlich zusätzlich dazu bei, die oben erwähnte Angst zu reproduzieren: das lähmende Gefühl, welches das Subjekt unfähig macht, eine Alternative zu seiner persönlichen, familiären und kollektiven Tragödie zu denken, weil die Situation, in der es sich befindet, undurchschaubar ist oder durch Eigeninitiative nicht überwindbar erscheint. Die wesentliche Funktion des assistencialismo besteht somit in der Reproduktion der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur, darin, die Armen an dem „ihnen gebührenden Platz“ zu halten, passiv und konform mit ihrer subalternen Position in der Klassengesellschaft.

Eine Bewegung mit emanzipatorischen Perspektiven steht so vor einem schier unlösbaren Dilemma: Wie kann sie stärker werden, an Zulauf gewinnen und sich organisieren, um das Recht auf gutes Leben einzufordern, wenn sie ständig mit jenem Ohnmachtsgefühl kämpfen muss, welches das Ich eines Großteils ihrer Mitglieder zersetzt und ihnen die Fähigkeit raubt, zu handeln und das Wort zu ergreifen, weil sie sich nicht als politische Handlungsträger erkennen, sondern nur als manipulierbare Objekte, die politischen und wirtschaftlichen Kräften unterworfen sind, die ihr Leben kontrollieren und zu denen sie nicht einmal Zugang haben? Zwar ist die Vermittlung sozialistischer Ideen durch Aktivitäten und Bildungsarbeit ein wichtiger Aspekt, doch müssen wir, wenn die politische Aktivität nicht steril werden soll, im Auge behalten, dass für alle Gedemütigten und Erniedrigten in dieser Gesellschaft, vor allem eines vordringlich ist: Handlungsformen zu finden, die dem Bedürfnis entsprechen, die von der Ausgrenzungsdynamik des modernen Kapitalismus verursachten psychischen Wunden zu heilen. Es kommt darauf an, kollektive Praktiken zu entwickeln, die es den Individuen ermöglichen, die lähmende Angst, die ihnen den Status politischer Subjekte genommen hat, in psychische Kraft zu verwandeln, um jene Fähigkeit und jenes Selbstwertgefühl zurückzuerobern, die zur Wiederherstellung gemeinschaftlicher Bande in ihren Wohnvierteln und zur politischen Aktivität erforderlich sind. [19]

Schauen wir uns nun die Praktiken an, die von einigen Piquetero -Organisationen vor allem in den ärmeren Stadtvierteln entwickelt wurden und mit denen es im Laufe der letzten Jahre nicht nur gelungen ist, Überlebensalternativen für eine marginalisierte und von ihren Grundrechten ausgeschlossene Bevölkerung zu entwickeln, sondern auch im Alltag von Zehntausenden von Argentiniern bedeutende Veränderungen zu bewirken. In vielen Fällen haben diese Organisationen jene materielle und psychologische Unterstützung geliefert, die zumindest teilweise den oben erwähnten spezifischen Bedürfnissen Rechnung trägt. Grundsätzlich lassen sich diese Praktiken in drei Gruppen zusammenfassen, die sich um die Planes herum gebildet haben: Piquetes als Taktik zur Durchsetzung von Forderungen gegenüber dem Staat, Stadtteilversammlungen als politische Organisationsform und selbstorganisierte Arbeit als Form materieller Produktion.

Zunächst eine Vorbemerkung: Wie schon gesagt, weist das Spektrum der Piquetero -Bewegungen eine derartige Fragmentierung auf, dass verallgemeinernde Aussagen darüber unmöglich sind. Bei den hier besprochenen Organisations- und Praxisformen handelt es sich im Prinzip um eine besondere Tendenz der Bewegung: um die so genannten autonomen Bewegungen , die ihren Namen der Tatsache verdanken, dass sie weder politischen Parteien noch Gewerkschaften angehören oder mit diesen verbunden sind. Diese Bewegungen stehen am ehesten für den Versuch, im Alltag die Grundlagen für die Bildung einer neuen Identität zu legen: der des Piquetero ; einer Identität, die sich auf die Konsolidierung der erwähnten Praktiken stützt und die in gewisser Weise die subjektive Hegemonie gegenüber der „traditionellen“ kapitalistisch-hierarchisch geprägten Identität des Arbeiters gewinnt. Dazu Svampa und Pereyra:

„…je größer die Kluft zwischen der Identität des Arbeiters und der des Piquetero ist, desto größeres Gewicht erhält der transitorische Charakter der letzteren. Umgekehrt sind es jene Erfahrungen eines relativ erfolgreichen Auslotens der Möglichkeiten von Selbstorganisation und kommunitärer Arbeit, die letztlich eine Stärkung der Piquetero -Identität im Verhältnis zu der des Arbeiters bewirken.“ [20]

Das Problem, das uns interessiert, dreht sich letztlich um die folgende Frage: Können neue Formen der Soziabilität gefunden werden, die materielle und symbolische Instrumente für die Herausbildung einer anti-kapitalistischen Identität bereitstellen, welche die Menschen in den Stand versetzt, dem Prozess der subjektiven Erniedrigung zu widerstehen, dem sie als Prekarisierte und Gedemütigte ausgesetzt sind? Eine Identität, die zugleich den Aufbau einer Massenbewegung ermöglicht, deren Perspektive in der Überwindung des politischen und ökonomischen Systems des Kapitalismus bestünde? Wie wir sehen werden, deutet einiges darauf hin, dass im Alltag einiger Piquetero -Organisationen, Funken eines solchen Projekts aufblitzen.

4. Stützpfeiler der Piquetero -Identität

a) Warum Piquetes?

Die Piquetes , die bereits 1996 in mehreren, durch die Privatisierung der staatlichen Ölfirma YPF wirtschaftlich schwer heimgesuchten Städten des Landesinneren und anschließend auch in Buenos Aires entstanden, stellen zunächst ein neues Werkzeug der direkten Aktion im Kampf der Lohnarbeitenden dar. Die traditionelle Form des Kampfes seitens der organisierten Arbeiterbewegung war seit jeher der Streik , also die Lahmlegung der Warenproduktion, um die Unternehmen zu zwingen, ihren Forderungen nachzugeben. Wie kann also eine Bewegung von Arbeitslosen, von Menschen also, die aus dem direkten Produktionsprozess ausgeschlossen sind, ihre ökonomischen, sozialen und politischen Forderungen geltend machen? Die kreative Antwort auf diese Frage haben die Arbeitslosen auf der Straße gegeben. Wenn sie schon die Warenproduktion nicht lahmlegen konnten, so doch zumindest die Warenzirkulation, womit sie den „Salto mortale“ der Realisation des in den Waren dargestellten Werts verhinderten und so indirekt die „Achillesferse“ des Kapitals trafen: den Profit. [21] Doch auch wenn die so genannten Cortes de ruta (Straßenblockaden) zum wichtigsten taktischen Mittel der direkten Aktion wurden, waren sie nicht die einzige Form, in der die Bewegungen ihre Rechte einforderten. Angesichts der ständigen Erpressungen seitens des Staates, der fortwährend seine Macht benutzte, um Monat für Monat und ohne weitere Erklärung den Bewegungen einen Großteil der Planes zu entziehen, um sie so zu schwächen und zu zermürben, besetzen die Piqueteros immer wieder öffentliche Gebäude (Präfekturen, Ministerien usw.) und Banken. Letztere sind für das Weiterleiten der Schecks an die Bevölkerung zuständig, schieben die Auszahlungen jedoch in der Regel hinaus, um das Geld länger anlegen zu können.

Die Piquetes waren ebenfalls ein Mittel, dem ganzen Land die Ergebnisse der einer nach dem anderen gescheiterten wirtschaftspolitischen Maßnahmenkataloge vor Augen zu halten: Massenelend und Hunger, die bis dahin vor den Fernsehkameras versteckt geblieben waren, weil sie sich in den Peripherien der Großstädte und im Landesinneren konzentrierten. Die Piquetero -Bewegung hat die nationale Tragödie der Armut sichtbar gemacht und bis dahin unsichtbare Menschenmassen auf die Straßen des Zentrums von Buenos Aires gebracht. Eine weitere Besonderheit dieser neuen Kampfform ist, dass an einem Piquete ganze Familien beteiligt sind: Kinder, Jugendliche, alte Menschen, alle nehmen an den Demonstrationen teil und verwandeln die Piquetes in ein signifikantes Moment der Veränderung des Alltags und der nachbarschaftlichen Begegnung. Deshalb muss etwas vom häuslichen Leben auf der Straße improvisiert werden: Plastikplanen und Zeltbahnen, die Hütten vorstellen sollen, riesige Kessel, in denen die beliebten Eintöpfe aus Gemüse, Nudeln und (wenig) Fleisch brodeln, über dem Feuer aus dem tags zuvor gesammelten Holz. Dazu kreist, mitten auf der Strasse, die traditionelle „Bombilla“ mit Mate, wodurch die Kontrolle über das Territorium bekräftigt wird.

Gleichzeitig, so geht aus mehreren Berichten hervor, hat diese Praxisform bei manchen Teilnehmern so etwas wie eine kathartische Wiedergewinnung der verlorenen Würde bewirkt:

„Wenn ich mir das Taschentuch vor den Mund binde, dann ist es, als wäre ich jemand anderes, kein gewalttätiger oder böser Mensch, sondern ein anderer, ein neuer Mensch. Man fühlt sich frei, frei von so vielen Dingen, die sich in einem angestaut hatten.“ [22]

Die Besetzung von Straßen und Landstraßen im Großraum Buenos Aires, die den Menschen- und Warenfluss unterbricht, wird als kathartische [23] Erfahrung empfunden, als organisierte Revolte gegen die Demütigungen der Prekarisierung, die „einen anderen Menschen“ hervorbringt, der den Status des öffentlich redenden und handelnden politischen Subjekts wiedergewinnt, indem er die Straßen besetzt und die Infamie eines gescheiterten Systems anklagt, das Millionen von Menschen [24] überflüssig macht. Die Piquete -Erfahrung ist ein wesentlicher, aber nicht der einzige Bestandteil der Konstitution dessen, was man unter dem Begriff Piquetero -Identität zusammengefasst hat. Wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, bedarf es zum Aufbau einer sozialen Bewegung neben einer gemeinsamer Identität auch sozial-ökonomischer Forderungen. Im Fall der argentinischen Erwerbslosenbewegungen werden wir sehen, dass die Erfolge im Kampf für diese Forderungen die materielle Basis für die langsame alltägliche Konstruktion einer kollektiven Identität waren, die mit neuen Formen politischer und ökonomischer Organisation zusammenhängen, wie sie in den Stadtvierteln der Peripherie von Buenos Aires zu finden sind.

b) Die Planes in den Stadtvierteln: das materialistische Wunder der Verwandlung von Fürsorge in Selbstorganisation

Selbstverständlich reichen die jeden Monat in Form des Plan errungenen 150 Pesos bei weitem nicht für die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnen, Transport usw. aus. [25] Hier setzt nun die von den Bewegungen entwickelte so genannte Stadtteilarbeit ( trabajo territorial oder trabajo de barrio ) ein. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Strategie, um die Lebenshaltungskosten ihrer Mitglieder zu senken , deren erste Maßnahme im Allgemeinen in der Schaffung einer Gemeinschaftskasse besteht, in welche alle Plan -Empfänger einen Beitrag einzahlen. Dieses Geld dient im Allgemeinen zunächst dazu, Maßnahmen gegen das Gespenst des Hungers zu ergreifen, das infolge der Krise in den armen Stadtvierteln umgeht. [26] Der erste Schritt ist fast immer die Schaffung eines Comedor (Gemeinschaftsküche), wo Familien die ganze Woche zu Mittag (manchmal auch zu Abend) essen können und in dem die Kinder zudem noch ein Vesperbrot erhalten. Im Comedor essen darf, wer seinen Beitrag in die Gemeinschaftskasse der Bewegung eingezahlt hat. Dieser Beitrag variiert je nach Organisation zwischen 5, 10, 15 (oder mehr) Pesos pro Monat und Person: eine, wie man sich denken kann, enorme Ersparnis für Menschen, die monatlich 150 Pesos erhalten. Die Comedores werden darüber hinaus durch kleine Gemeinschaftsgärten versorgt, die für gewöhnlich auf von der Bewegung besetztem Brachland angelegt werden. Hinzu kommen die dem Staat abgetrotzten Warenkörbe mit Grundnahrungsmitteln, die heute einen beträchtlichen Anteil der Mahlzeiten ausmachen, die in den Comedores von den verschiedenen Organisationen zubereitet werden.

Eine weitere geläufige Praxis ist die Schaffung von Gemeinschaftsbäckereien : Brot ist durch die Krise zu einem der Hauptnahrungsmittel auf dem täglichen Speisezettel geworden. Verkauft wird es zum Selbstkostenpreis an die Mitglieder der Bewegung (im Allgemeinen zur Hälfte des Preises einer normalen Bäckerei). Der am Ende jedes Monats erwirtschaftete Überschuss fließt fast immer an den Comedor zurück und wird so sozialisiert. Häufig richten die Bewegungen auch Kindertagesstätten ein, organisieren die Straßenreinigung im Viertel (um die sich die Stadtverwaltung nicht kümmert) und stellen medizinische Grundversorgung zur Verfügung. Manche Bewegungen sind mittlerweile so gut organisiert, dass sie kleine Konfektionswerkstätten eingerichtet oder artesische Brunnen gebaut haben oder gar, dank staatlicher Darlehen zur Einrichtung von Kooperativen, Bier brauen, wodurch zusätzliches Einkommen für die Bewegung und ihre Mitglieder geschaffen wird. [27]

Diese Praktiken dienen in erster Linie dazu, trotz der knappen finanziellen Mittel wenigstens das Existenzminimum zu gewährleisten, indem die dem Staat abgetrotzten Mittel kollektiv verwendet und zugleich kollektive „produktive Unternehmungen“ aufrechterhalten werden. Es handelt sich somit um die Eroberung einer „doppelten Zuwendung“ seitens des Staates: direkt in Form des Geldes, das die Arbeitslosen als „ Plan “ erhalten, und indirekt in Form der individuellen Arbeit, welche diese zugunsten ihrer Bewegung und ihrer Gemeinschaft leisten. Eine gleichsam materialistische Version der „wundersamen Vermehrung des Brotes“. Die Überschüsse aus dem Verkauf von Brot oder Kleidungsstücken fließen wieder an das Kollektiv zurück und tragen so dazu bei, die Lebenshaltungskosten der Beteiligten noch mehr zu senken und das wenige verfügbare Geld, wie der Ökonom sagen würde, zu „optimieren“. Diese Strategien stellten die Vermittlung dar, durch die es gelang, Zehntausende von Menschen im Kampf für ein gemeinsames Ziel zu vereinen – den Kampf gegen Hunger und Elend. Darin eingeschlossen war der Aufbau von organisatorischen Strukturen, die es in vielen Fällen ermöglichten, neue Formen kommunitären Lebens im Alltag zu schaffen und soziale Zusammenhänge wiederherzustellen, welche die brutale Dynamik des Kapitals in den großen Städten zerrissen hatte.

Darüber hinaus kann die Geschichte der Piqueteros als die Geschichte der Umfunktionierung des asistencialismo gesehen werden, d.h. der Verwandlung einer herrschaftlichen Kontrollstrategie in ein Basis-Projekt zur Schaffung einer gewissen Autonomie. Dass die dem Staat entrissenen finanziellen Brosamen genutzt werden, um die politische und wirtschaftliche Selbstorganisation der Bevölkerung in den Armenvierteln der städtischen Peripherie zu fördern, ist ein mögliches Gegenmittel gegen die Verzweiflung der Gedemütigten und vielleicht ein Beispiel für die Arbeitslosen auf dem übrigen Kontinent.

c) Die Stadtteilversammlungen: die Macht des Wortes wiederentdecken

Um die Selbstorganisation zu ermöglichen, galt es zunächst kollektive Entscheidungsinstanzen zu schaffen, die den Betroffenen wieder eine Stimme verliehen, um in allen Bereichen ihres Alltags im Viertel mitentscheiden zu können. Dazu wurden die Stadtteilversammlungen [28] ins Leben gerufen, eine Form direkter Demokratie mit horizontalen Machtstrukturen, die neue Formen politischen Handelns ermöglicht und einen Raum der Begegnung zwischen Nachbarn schafft, der dem Erfahrungsaustausch ebenso dient wie der wechselseitigen Anerkennung als Prekarisierte.

„Ich glaube, dass wir im Vergleich zu anderen Bewegungen atypisch sind, da wir direkte Demokratie praktizieren. Sie ist für uns die einzige Form, die es allen ermöglicht, das Wort zu ergreifen und zu kritisieren. Einfach zu sagen: Gut, das stimmt, hier sind wir offenbar einer Meinung, aber dort sind wir es nicht, damit bin ich nicht einverstanden. Wir schaffen es also, Versammlungen abzuhalten, wo jeder zu Wort kommen kann. Die Versammlungen sind öffentlich und so kann es vorkommen, dass Genossen, die diese Form der Versammlung nicht gewöhnt sind, sagen: Das sind ja bloß Worte. Aber diese Worte, wenn wir sie analysieren, drücken sehr vieles aus, sie haben einen speziellen Inhalt. Jemand, der nur vier Worte sagt, kann trotzdem ausdrücken, was er fühlt.“ (Aktivist des CCC) [29]

Potentiell kann diese Art von Versammlung die landläufige Vorstellung von Politik als einer Aktivität von Professionellen, von vermeintlichen Fachleuten, die dafür bezahlt werden, über die Geschicke einer ganzen Nation zu entscheiden, oder von einer vermeintlich aufgeklärten Avantgarde, in das umwandeln, was Politik wirklich sein sollte: eine Aktivität, an der alle Mitglieder einer Gemeinschaft maßgeblich beteiligt sind, insofern sie über ihre gemeinsamen Belange entscheiden und diese organisieren. Eine junge Piquetera sagte mir einmal, dass nur relativ wenige Genossen sich in einer Versammlung zu Wort melden. Wenn sie oder andere Aktivisten den Grund für dieses Schweigen wissen wollen, dann heißt es meistens: „Ich hab keinen Kopf für sowas! Ich kann nicht so reden wie ihr!“ [30] Tatsächlich gibt es vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten nur wenige, die daran gewöhnt sind, öffentlich das Wort zu ergreifen, ihre Meinung in einem Kollektiv zu vertreten, und sich für fähig halten, die Macht des eigenen Wortes zu benutzen, um über die Belange des eigenen Lebens und die ihres Umfelds zu entscheiden. Meistens schämen sie sich, weil sie dieses oder jenes Wort „falsch“ gebrauchen, nicht im Sinne der vermeintlichen „Norm der Hochsprache“. Sie schämen sich, weil sie glauben, ihre „mangelnde Schulbildung“, gebe ihnen keine Legitimität, sie schämen sich, weil sie die Verachtung verinnerlicht haben, der sie tagtäglich ausgesetzt sind, sei es in den vorgestanzten Bildern der Kulturindustrie, wo die Armen oft als Stereotype, als lachhafte und lächerliche Figuren auftauchen, sei es im täglichen Kontakt mit Vorgesetzten oder Arbeitgebern, die ihren Angestellten eine bestimmte Sprechweise auferlegen.

„Wenn der Angestellte mit dem Chef redet, dann handelt es sich meistens um kleine Fragen oder um Rechtfertigungen (Soll ich das tun? Nein? Aber Sie sagten doch, ich solle das machen!). So reden die Angestellten. In den meisten Fällen ist die Haltung des unmündig gemachten Menschen schlichtweg die desjenigen, den man zum Schweigen gebracht hat . Es ist nicht das Schweigen von Stummen, sondern das von Stumm-Gemachten, nicht das Schweigen der Klöster, sondern das derer, die beten, sie mögen ihren Job nicht verlieren. Die Sätze des Proletariers – seine Sätze und seine Gebete [31] – haben häufig ökonomischen Inhalt. Es sind die Sätze und Gebete eines Mannes, der auf die Verausgabung seiner körperlichen Arbeitskraft reduziert wurde.“ (Hervorhebung von mir) [32]

In der Versammlung haben alle das Recht, das Wort zu ergreifen, auch diejenigen, die nicht daran gewöhnt sind, sich dieses Rechts zu bedienen. Es geht beispielsweise darum zu entscheiden, wie der Comedor verwaltet wird, wann der nächste Piquete stattfindet oder was mit dem Geld der Gemeinschaftskasse geschehen soll. Außerdem werden die Perspektiven der Bewegung und nationale politische Fragen diskutiert. Kurzum, die Versammlung kann den bevorzugten Raum sowohl der politischen Bewusstseinsbildung als auch der Beratung über die zentralen Aspekte des Alltags aller am Aufbau der Bewegung Beteiligten bilden. Gleichzeitig kann hier aber auch ein Netz der gegenseitigen psychischen Unterstützung entstehen, das es Menschen mit gleichen Leidenserfahrungen ermöglicht, eine gemeinsame Identität herzustellen.

„Wenn es etwas gibt, das wir der Bewegung verdanken, dann, dass sie uns ermöglicht hat in Versammlungen zusammenzukommen und das Wort wieder zu erobern ; sie hat uns ermöglicht, einander zuzuhören, zu entdecken, dass wir wirklich unter Hunger und Elend litten. Wir haben so unsere Würde wiedergefunden. Die Würde steht für uns im Mittelpunkt unserer Arbeit, der Arbeit gegen die Demütigung , gegen den Konformismus.“ (Hervorhebung von mir) [33]

Eines der größten subjektiven Probleme der Arbeitslosigkeit besteht in ihrer Tendenz, die Menschen voneinander zu isolieren, weil sie sich für ihre Situation schämen, sie als selbst verschuldet ansehen und so als individuelles Problem definieren, was ein Problem des ganzen Landes ist. Von dem Moment an jedoch, da man sich mit anderen zusammenschließt und gemeinsam das „enteignete Wort zurückerobert“, von diesem Moment an wird es möglich, allmählich die Krise zu verstehen und kollektiv die Gewissheit zu erlangen, dass die Ursachen des gemeinsamen Elends nicht in der Inkompetenz und in der mangelnden „Qualifizierung“ des Arbeitslosen liegen, sondern im Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems. Auf diese Weise kann gemeinsam gegen die Verzweiflung angekämpft werden, die alle Prekarisierten und Gedemütigten in ihrem Inneren verspüren.

d) „Arbeit, Würde und gesellschaftliche Veränderung“

Die von den argentinischen Bewegungen entwickelten neuen ökonomischen Praktiken haben bei zahlreichen Lohnabhängigen dazu geführt, dass sie in ihrem Alltag die Bedeutung hinterfragen, welche der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft zukommt. Das betrifft einerseits ihre wirtschaftliche Funktion, die durch die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Reproduktion der kapitalistischen Herrschaft bestimmt ist, andererseits ihre Rolle bei der Identitätsbildung der Individuen, denn die Arbeit bildet insbesondere in den unteren sozialen Klassen immer noch die wichtigste Stütze der Identität. Es erhebt sich daher die Frage: Ist es angesichts der Knappheit von Arbeitsplätzen und der von der Arbeitslosigkeit ausgelösten subjektiven Krise denkbar, eine andere an die produktive Tätigkeit geknüpfte Identität zu schaffen, die der vom Kapitalismus konstituierten und sedimentierten Identität diametral entgegensteht?

Verschiedene Bewegungen haben auf ihre Fahnen geschrieben: Arbeit, Würde und gesellschaftliche Veränderung . Gemeint ist jedoch nicht irgendeine Arbeit, sondern die Entwicklung von Praktiken der Selbstorganisation in der Arbeit, die tagtäglich erforderlich ist, um die ganze von der Bewegung geschaffene Struktur aufrecht zu erhalten, also die Entwicklung von Keimformen horizontaler und egalitärer Beziehungen, die sich am Sozialismus orientieren.

„Wir wollen ‚würdige Arbeit‘ schaffen, und die ist mit Ausbeutung, mit der Unterwerfung der Arbeit unter einen Chef, mit dem darin enthaltenen Diebstahl und mit der Kontrolle der Arbeitszeiten unvereinbar.“ [34]

In wenigen Worten fasst dieser Aktivist den Herrschaftscharakter der kapitalistischen Arbeit zusammen, auf deren Überwindung die alltäglichen Kämpfe der hier beschriebenen Bewegungen zielen, indem sie versuchen, ein neues Verhältnis zur produktiven Tätigkeit zu entwickeln.

„Als erstes muss man sein Selbstwertgefühl wieder finden und in diesem Sinne fühlen wir uns als Arbeiter: als Mensch, der einen Teil seiner Identität zurückgewonnen hat . Und Arbeiter ist man, weil man zum Kollektiv beiträgt , zur Gemeinschaft und nicht, weil man Rendite erwirtschaftet . Wer denkt, der Arbeiter sei derjenige, der Gewinn schafft, für den ist der Arbeitslose ein Paria. Aber bei uns herrschen andere Werte, die nicht die sind, die diese Gesellschaft einem eingibt.“ (Hervorhebung von mir) [35]

Arbeit wird hier verstanden im Sinne einer produktiven Tätigkeit für einen gemeinsamen Zweck, verrichtet von allen für alle und nicht, um in entfremdeter Form Gewinn zu erwirtschaften, der den Eigentümern der Produktionsmittel zufließt. [36]

Es ist für den Einzelnen alles andere als nebensächlich, dass er in der Bewegung seine Arbeit im Hinblick auf die konkreten Bedürfnisse eines bestimmten Zusammenhangs verrichtet: seiner Familie, seiner Nachbarn, seiner Freunde.

„Ich glaube, das kapitalistische System strukturiert einen und zwar so, dass man sich nicht als Mensch fühlt, sondern sein ganzes Leben lang nur als ein Ding . In der Fabrik ist man ein Ding, an der Universität eine Nummer. Wenn ein Genosse hier zum MTD kommt, dann liegt einer der Gründe für seine große Frustration eben darin, sich nicht als Mensch zu fühlen, nicht zu erkennen, dass er etwas tun kann, und zwar nicht nur für einen Boss, der ihm den Befehl dazu gibt. Wir arbeiten viel daran, und wenn wir dann mit den Genossen diskutieren und sie fragen: ,Was fühlst du? Was fühlst du heute im Vergleich zu der Zeit, als du noch nicht im MTD warst?‘, dann lautet die Antwort: ,Ich habe mich hier als Mensch wiedergefunden, plötzlich habe ich entdeckt, dass ich imstande bin, etwas zu tun .‘ … Wir finden hier, glaube ich, wieder ein wenig zum Thema der Arbeitskultur zurück, nämlich dass wir etwas von uns aus und für uns tun können.“ (Hervorhebung von mir) [37]

Dieser Genosse gesteht, dass er sich wie eine Sache fühle. Geht es denn nicht eben darum im marxistischen Konzept der „Verdinglichung“, als subjektivem Resultat der Unterwerfung des Arbeitenden unter den kapitalistischen Arbeitsprozess? Die Veränderungsprozesse im Alltag der Aktivisten, die hier das Wort haben, beziehen sich offenbar genau darauf: der Sinn , den manche in der kommunitären Arbeit finden, vermag subjektive Strukturen wiederherzustellen, die Elend und Ausbeutung zerstört hat, jenes Elend und jene Ausbeutung, die diese Arbeitenden jahrzehntelang über sich ergehen lassen mussten. Dieses „Etwas-tun-können“ ist kein bloßes Detail. Es verweist auf eine Veränderung im „Ego“ dieser Menschen, darauf, dass sie vielleicht dabei sind, vergessene oder nie entdeckte individuelle Potentiale (wieder) zu entdecken. Diese Potentiale aber können, wenn sie sich in einem auf soziale Transformation orientierten politischen Projekt entfalten, zu einer politischen Kraft werden, welche die Subjekte mobilisiert und ihnen Würde und Selbstwertgefühl verleiht, ohne die sie sonst nicht einmal fähig wären, aus dem Haus zu gehen, geschweige denn eine soziale Bewegung aufzubauen und in ihren Wohnvierteln oder Städten verankert zu sein. [38]

Manche Genossen hat die Erfahrung des Knüpfens neuer gemeinschaftlicher Beziehungen um die alltägliche Arbeitsaktivität herum zutiefst geprägt. Es erscheint ihnen ganz und gar nicht mehr als „natürlich“, dass man, um zu überleben, gezwungen ist, seine Arbeitskraft auf einem von extremer Konkurrenz und Entwertung geprägten Arbeitsmarkt zu verkaufen. Trotz ihrer prekären Lebensbedingungen sind sie in der Lage, die Grundlagen der Arbeitsgesellschaft infrage zu stellen, und beziehen sich auf mutige und überraschende Weise auf ihre Situation als Arbeitslose.

Wir wollen keine Integration . Ich will jedenfalls nicht mehr ausgebeutet werden . Ich will nicht wieder für Fortabat oder Macri arbeiten, das ist klar. Ich kämpfe nicht dafür, dass die mich wieder ausbeuten können. Ich und viele andere Genossen denken, dass wir nicht integriert werden wollen: Wir haben es hier mit etwas ganz anderem zu tun.“ (Hervorhebung von mir) [39]

Nicht wenige meiner Gesprächspartner gaben mir eine ähnliche Antwort, als ich sie fragte, ob sie für einen neuen Arbeitsplatz kämpfen würden. Oft habe ich das überaus vernünftige Argument gehört, ein Arbeitsplatz sei, so wie die Dinge lägen, der Mühe nicht mehr wert. Es würde bedeuten, jeden Tag früh aufzustehen, sich im Durchschnitt auf drei bis vier Stunden Fahrt- und zehn Stunden Arbeitszeit einzustellen, um am Monatsende einen Lohn von 300 oder 400 Pesos nach Hause zu bringen. Da bleibt man besser in seinem Viertel und arbeitet jeden Tag für die Familie, die Freunde und die Nachbarn, statt sein Leben zu vergeuden und es ganz einem Unternehmer zu überlassen, gedemütigt und fortwährend von der Entlassung bedroht, weil es ja jede Menge Leute gibt, die zur Verfügung stehen und sich um den Arbeitsplatz reißen! Freilich sind 150 Pesos am Monatsende wenig. Man sucht sich deshalb ein paar kleine Nebenjobs, isst im Comedor und lebt ein würdigeres Leben, als wenn man tagaus, tagein in einer Fabrik oder in einem Büro eingesperrt ist. So ist ein Punkt erreicht an dem einerseits die kapitalistische Krise, eine immer schärfere Ausbeutung der Arbeitskräfte erzwingt, um die sinkenden Profitraten im produktiven Sektor auszugleichen, andererseits genau dies seine Reproduktion bedroht: Denn das extrem geringe Lohnniveau, vor allem in den Berufen, die „weniger qualifiziert“ sind, bewirkt, dass eine kleine Bresche, wie z. B. die durch die Planes eröffnete, es den Menschen ermöglicht, neue Überlebensalternativen zu erfinden und der so genannten Integration den Rücken zu kehren. [40]

5. Autonomie und „integrierte Subjektivität“: die Möglichkeit, Zeit und Raum zu kontrollieren

a) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Kapitalismus bedeutet in erster Linie: Kontrolle der Zeit . Der Wert einer jeden Ware wird durch die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ bestimmt. „Zeit ist Geld“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Der Kapitalist kauft dem Arbeiter das Recht ab, den Gebrauch seiner Zeit während der vertraglich bestimmten Stunden zu kontrollieren. In den letzten Jahren hat die Tendenz zur Verlängerung des Arbeitstages (zusätzlich zu den schier endlosen in den öffentlichen Transportmitteln verbrachten Stunden) die Tage immer „kürzer“ gemacht und zunehmend dem Zwang der Kapitalverwertung unterworfen. (Übrigens absolvieren auch die Unternehmer und leitenden Angestellten immer längere Schichten, weil es die brutale Konkurrenz des krisenhaften Systems so erzwingt: Abgesehen von ihrer höheren finanziellen Vergütung, sind auch sie Sklaven der Zeitknappheit.) Die Zeit, die einem für sich selbst, die Familie und Freunde bleibt, ist verschwindend gering. Wir verfügen immer weniger über unsere Zeit. [41]

Die Organisationsform der Piqueteros hat es indes in gewissem Maße ermöglicht, diesen Prozess der zunehmenden Enteignung der Lebenszeit umzukehren. In zahlreichen Bewegungen haben die Versammlungen für jeden ihrer Aktivisten, der einen Plan empfängt, eine tägliche Arbeitszeit von vier Stunden festgelegt. Und das ist alles andere als nebensächlich: Es bedeutet die Möglichkeit, zum Aufbau der Bewegung beizutragen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, zugleich aber selbst darüber zu entscheiden, worauf man den Großteil der eigenen Zeit verwendet, sei’s für eine kleine Nebentätigkeit zur Aufbesserung des Einkommens, sei’s, indem man mehr Zeit mit seiner Familie verbringt oder an anderen Aktivitäten der Bewegung teilnimmt, wie Diskussionsgruppen oder lokalen Versammlungen. Wie zu erwarten, bleiben die subjektiven Konsequenzen für diejenigen, die an einer solchen Erfahrung teilhaben, nicht aus: „Weißt du, ich war jemand, der für seine Arbeit lebte. Ich stand morgens um drei, vier Uhr auf, fuhr in die Hauptstadt und kehrte abends zurück. Ich wollte es zu etwas bringen, ein Haus bauen, den Kindern das Beste geben und alles, was in der Idee des Fortschritts , des Weiterkommens enthalten ist. Was für ein entsetzlicher Sklave ich war. Darin bestand mein Leben. Sicher, jetzt geht es mir wirtschaftlich zwar schlecht, aber ich habe meine Familie entdeckt, mein Viertel. Ich habe entdeckt, was es bedeutet, zusammen zu sein, Dinge zu teilen. Ich fühle mich jetzt ein wenig freier.“ (Hervorhebungen von mir) [42]

Die perverse Realität der Arbeitslosigkeit kann in konstruktive Praxis verwandelt werden, wenn eine das Leben organisierende kollektive Struktur gefunden wird. Die Bresche, die der Ausschluss aus dem kapitalistischen Produktionsprozess geöffnet hat, ermöglicht es, über viel freie Zeit zu verfügen. Diese Zeit ist leer und sinnlos, wenn das durch die Ausgrenzung verursachte Leiden keine Unterstützung durch ein organisiertes Kollektiv erfährt. Leidet der Mensch in der Isolation, so wird seine „freie Zeit“ mit Sicherheit durch innere Konflikte, Depressionen und psychische Erkrankungen aufgefressen. Er mag dann, wie es oft geschieht, den ganzen Tag vor dem Fernseher verbringen, hypnotisiert vom unaufhörlichen Geflimmer der Bilder, die ihn in einen Zustand der Lähmung versetzen, mit dem er erfolglos versucht, das Elend seiner Existenz zu lindern, Gefangener einer Zeit, die ebenso leer ist wie jene, die ihm der Arbeitsmarkt und das ideologische Versprechen des Fortschritts aufzwingen, wie der Piquetero oben sagt. In diesem Fall kann die Unterstützung durch andere ihm dabei helfen, herausfinden, dass „Fortschritt“ im kapitalistischen System in Wahrheit „Sklaverei“ bedeutet. Sklaverei im Austausch für ein paar Konsumgüter, die nie mehr sind als Brosamen angesichts des Überflusses, in dem die kapitalistische Gesellschaft erstrahlt. Abweichend von unseren vom Konsum kolonisierten Imaginationen hat der oben zitierte Mann – als Folge des wirtschaftlichen Niedergangs – andere subjektive Dimensionen entdeckt, den Kontakt mit den Menschen seiner Umgebung, die Suche nach und die Begegnung mit der „verlorenen Zeit“. Es ist, als sei der Wert der nunmehr von ihm kontrollierten Zeit nicht aufzuwiegen mit dem Lohn, für den er seine Freiheit verkaufte.

Hierzu Francisco Ferrara: „…eine Alternative zum Reich des Marktes aufzubauen, wird nur dann möglich sein, wenn es uns gelingt, der Hast zu entgehen und langsamere Rhythmen einzuführen …, mit der Hast Schluss zu machen, um uns zu Aktivitäten des Denkens zu befähigen und dazu, die Disziplinierung außer Kraft zu setzen, die uns der globalisierte Kapitalismus abverlangt… Es ist notwendig, die Geschwindigkeit abzubremsen und eine intensivere Situationswahrnehmung zu ermöglichen, indem Einrichtungen für die Begegnung geschaffen werden, die eine gemeinsame Teilhabe, den Dialog, die Aufmerksamkeit und die Sorge füreinander sowie kreatives Zusammenwirken ermöglichen.“ [43]

Politische Aktivität in diesem Sinn ist nur schwer vorstellbar, wenn sich ein Mensch schier unendlichen Arbeitstagen gegenüber sieht. Kann man von jemandem, der die Hälfte des Tages damit verbracht hat, auf dem Arbeitsmarkt für sein Überleben zu kämpfen und spät abends geistig und körperlich ausgelaugt nach Hause zurückkehrt, verlangen, dass er an einer Versammlung teilnimmt oder an wichtigen Diskussionen über die Geschicke der Bewegung, die eine geistige Präsenz erfordern, zu der das Gehirn einfach nicht mehr fähig ist? Und wie soll jemand bei Piquetes mitmachen, die ein, zwei oder mehr Tage dauern, wenn er nicht das Risiko eingehen kann, auf der Arbeit zu fehlen und seinen Job zu verlieren? Für den Aufbau der Bewegung war es deshalb von grundlegender Bedeutung, Überlebensalternativen zu schaffen, die es den Piqueteros ermöglichten, über freie Zeit für ihren Aktivismus zu verfügen. Das große Geheimnis des Kapitalismus bestand stets darin, dass es, um Körper und Geist der Menschen zu disziplinieren, kein besseres Mittel gibt, als sie tagtäglich acht oder mehr Stunden zum Arbeiten zu zwingen. Sie werden dadurch um die verfügbare Zeit gebracht, die für intellektuelle und politische Aktivitäten notwendig ist, der letzte Tropfen Energie wird aus ihren Körpern gesaugt und jedes Begehren, jede körperliche und geistige Fähigkeit in den Dienst der Produktion von Waren gestellt, die sich in Profit umwandeln sollen. [44]

b) Das beherrschte Territorium

Kapitalismus bedeutet aber auch: Kontrolle des Raumes . Kontrolle des vom Privateigentum innerhalb des Produktionsprozesses besetzten Raumes: in jeder Fabrik, in allen Fertigungszweigen, in jedem Büro und Geschäft, wo wir nur an den Orten zu sein haben, die das Kapital uns zuweist. Kontrolle des Verkehrsraums, in den großen und kleinen Straßen, die vor allem dafür gebaut wurden, um die Flüsse der Warenproduktion zu erleichtern, statt den Spaziergängen derer zu dienen, die diese Waren herstellen. Kontrolle all jener brachliegenden oder stillgelegten Grundstücke, Fabriken oder Gebäude, die von den Arbeitslosen, den Land- und Obdachlosen genutzt werden könnten, aber unter Verschluss gehalten werden, nur um den Spekulationsinteressen ihrer Eigentümer zu dienen. Kontrolle der Bevölkerung in den Vororten der Metropolen, die aus den Stadtzentren vertrieben wird, um so die Eindämmung eventueller Rebellionsversuche zu erleichtern oder aber, um es so einzurichten, dass die desorganisierte und blindwütige Revolte sich gegen das eigene Stadtviertel wendet statt gegen die wirklichen Unterdrücker.

Um diese Kontrolle zu garantieren, sind die Polizeikräfte in ständiger Alarmbereitschaft, bis an die Zähne bewaffnet mit scharfer Munition, Schlagstöcken und Tränengasbomben. Tag und Nacht durchstreifen sie die Städte, auf der Suche nach denen, die sich nicht abfinden wollen mit dem herrschenden Unrecht, dessen Fortbestand sie mit ihrer Uniform und ihrem Kriegsgerät abzusichern helfen. Sie schrecken nicht davor zurück, Unschuldige zu verletzen oder zu töten, wenn es gilt, öffentlich zu zeigen, wie weit der Staat gehen kann, um die Ordnung des sakrosankten Privateigentums zu garantieren. Dennoch haben wir bereits gesehen, dass die Basisorganisationen der argentinischen Erwerbslosen Breschen in diese Kontrolle zu schlagen vermögen: Die Piquetes kontrollieren den Raum, sie unterbrechen den Verkehr der Waren und Arbeitskräfte, legen die Stadt lahm und machen das Elend zu einem Thema, das alle angeht, selbst diejenigen, die noch nie in der Peripherie von Buenos Aires waren. Andererseits hat ihre territoriale Basis es ihnen ermöglicht, sich kollektiv zur Wehr zu setzen gegen die Macht der Punteros , die lange Zeit als unumstrittene Herrscher der Stadtviertel das Elend der Menschen manipuliert haben. Erschwert wurde so auch die Polizeiwillkür, vor allem gegen junge Arbeitslose ohne jegliche Freizeitalternativen und die den staatlichen Repressionskräften schutzlos ausgesetzt sind. Die Piqueteros haben ebenfalls Dutzende von leerstehenden Grundstücken besetzt und dort Schuppen gebaut, die ihnen als Büros und Versammlungslokale dienen. Auf diesen Grundstücken haben sie ihre Comedores , Bäckereien und Gemüsegärten eingerichtet und so neue Formen urbanen Lebensraums geschaffen.

Kein Zweifel: es hat eine qualitative Veränderung stattgefunden in der Art, wie Zeit und Raum von Tausenden von Menschen erfahren werden, die tagtäglich an der schweren Aufgabe beteiligt sind, die kargen Ressourcen, die sie dem Staat abgetrotzt haben, in Werkzeuge zum Wiederaufbau ihrer Wohnviertel, ihrer Existenzen und Bedürfnisse zu verwandeln. Francisco Ferrara bemerkt dazu, dass sich in dieser neuen Wirklichkeit die Keimform einer integrierten Subjektivität entwickeln könne, gewissermaßen das Negativ der radikalen Fragmentierung , wie sie für das Leben in den großen Metropolen charakteristisch ist: „Der Raum , in dem sich das Leben des Piqueteros abspielt, enthält alles, was für ihn von Belang ist. Seine Arbeit, seine Familie, seine Genossen, seine Versammlungen, seine Sitzungen, die Bombilla -Runden, seine Diskussionsgruppen, seine Gemeinschaftsküche, alles fügt sich im Laufe des Tages zusammen und bietet Gelegenheit für zahlreiche Begegnungen und Entwicklungen. Man könnte sagen, dass der Piquetero nicht einfach da ist, sondern den Raum seines Alltags bewohnt. “ [45]

Das Leben gewinnt auf diese Weise einen langsameren Rhythmus und streift so nach und nach den abstrakten Charakter von Zeit und Raum des Kapitalismus ab. Die täglichen Aktivitäten sind nicht mehr aufgespalten zwischen Wohnung, Stadtviertel und Arbeitsplatz. Jedoch nicht, weil der Arbeitsrhythmus – wie früher – in die Privatsphäre eingebrochen wäre, sondern dank der von den Basisorganisationen geschaffenen Ansätzen autonomer Formen der Reproduktion, die auf die Integration der getrennten Sphären des alltäglichen Lebens zielen. [46] Ich erinnere mich daran, wie überrascht ich jedes Mal war, wenn ich wochentags gegen drei oder vier Uhr nachmittags den „Sitz“ einer Bewegung in irgendeinem Vorort besuchte und dabei 80 oder mehr Personen antraf, die versammelt waren, um nicht nur über Angelegenheiten alltäglicher Organisation etwa des Comedor oder der Kindertagesstätte zu beraten, sondern auch über die politischen Entwicklungen im Land oder darüber, welche Taktik gegenüber der Regierung einzunehmen sei. Und solche Versammlungen fanden gleichzeitig in Dutzenden anderer Stadtviertel mit Hunderten von Personen statt; eine Wirklichkeit, die gewiss nicht viel mit dem gewöhnlichen Alltag eines beschäftigungslosen oder beschäftigten Arbeitskraftverkäufers zu tun hat, und die unerlässliche Voraussetzung einer politischen Organisation: die massive Beteiligung ihrer Mitglieder.

6. Der Aufbau des Sozialismus beginnt heute

Mit den strukturellen Veränderungen, die der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, hat sich auch die Dynamik der sozialen Kämpfe verändert. Ihre wichtigste Bühne war stets der Prozess der Warenproduktion, also die Sphäre der Arbeit. Daher hat sich die Arbeiterklasse in den letzten 150 Jahren in Parteien und Gewerkschaften organisiert, um für ihre Interessen zu kämpfen; ein Kampf, der durchaus nicht gering zu schätzende Erfolge erzielte und der sich in einigen historischen Momenten mit revolutionären Bestrebungen verband, wofür Tausende von Aktivisten ihr Leben ließen.

Alles in allem unterlag in zwei Jahrzehnten der Systemkrise und der neoliberalen Offensive die Sphäre der Arbeit jedoch einer traurigen Geschichte der Degradierung. Wie sollen heute noch in den meisten Sektoren der Ökonomie konsistente Streiks durchgeführt werden, wenn die Armee der Arbeitslosen die Verhandlungsmacht derjenigen schwächt, die noch das „Glück“ haben, ausgebeutet zu werden? Allein im Großraum São Paulo gibt es zwei Millionen Arbeitslose. Wie sollen starke Gewerkschaften und Interessenvertretungen aufrecht erhalten werden, wenn in den großen Metropolen mehr als die Hälfte der Lohnabhängigen nicht formal beschäftigt ist und daher auch nicht gewerkschaftlich vertreten wird? Wenn weiterhin Millionen von Menschen in allen möglichen Formen tertiarisiert und prekarisiert sind und aufgrund erzwungener Flexibilisierung, „Selbstständigkeit“ und anderer unternehmerischer Tricks ihre historisch erkämpften Rechte einbüßen, was ein Herabdrücken des Einkommensniveaus ebenso zur Folge hat wie eine gewaltige Steigerung der Todesraten infolge von arbeitsbedingten Krankheiten, Stress und Arbeitsunfällen? (Der IAO zufolge sind allein im Jahr 2003 zwei Millionen Menschen an den direkten Folgen der Arbeit gestorben, davon 350.000 bei Arbeitsunfällen und 1,65 Millionen aufgrund arbeitsbedingter Erkrankungen. [47] ) Wenn darüber hinaus in den wichtigsten Ökonomien Lateinamerikas sich all diese Tendenzen noch verschärfen? Unglücklicherweise haben es die brasilianischen Gewerkschaften noch nicht geschafft, Organisationsformen für die Masse der Ausgeschlossenen zu entwickeln; vielleicht ist das ja auch von den Gewerkschaften gar nicht zu erwarten, aber im Bereich politischen Handelns sollte man keine Türen endgültig zuschlagen.

Angesichts dieses entmutigenden Bildes war eine Schwächung der gewerkschaftlichen Organisationen zu erwarten. [48] Während die Mehrheit der Gewerkschaften und „Arbeiterparteien“ schon lange aufgehört hat zu kämpfen, sind jene, die sich noch immer im Arbeitskampf engagieren, in einer Sackgasse gelandet. Deshalb waren all diejenigen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, in den letzten Jahren gezwungen, neue Werkzeuge des Kampfes zu entwickeln. Es sind neue Massenbewegungen entstanden, die für die bisher größten – wenn auch immer noch sehr begrenzten – Fortschritte in den sozialen Kämpfen in Lateinamerika verantwortlich zeichnen.

Das wichtigste Merkmal dieser „neuen sozialen Bewegungen“ ist, dass es sich dabei vor allem um Bewegungen von Prekarisierten handelt. Ich hatte von den Schwierigkeiten beim Aufbau einer Bewegung gesprochen, die sich aus gedemütigten und psychisch geschwächten Menschen zusammensetzt. Der alltägliche Überlebenskampf ist ungeheuer hart, und es fällt sehr schwer, die notwendige Einheit der Bewegung herzustellen angesichts der fortgeschrittenen sozialen Fragmentierung seit Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts. Allerdings haben diese Bewegungen auch einen politischen Vorteil, nämlich die Möglichkeit, autonome Organisationsformen zu entwickeln – manche sprechen in diesem Zusammenhang von Gegenmacht oder Parallelmacht –, um das materielle Überleben auf alternative Weise zu sichern, den Fluss der Zeit und den Raum im Alltag zu kontrollieren und insbesondere der veritablen Hölle zu entfliehen, zu der sich die Sphäre der Arbeit in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.

Im Fall der beschäftigten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter geht das politische Potential verloren, das aus der Transformation des Alltags entspringt, aus der Möglichkeit, das Leben zumindest partiell autonom gegenüber den Zwängen des Kapitals zu organisieren. Im Allgemeinen reduziert sich der einzige größere Einfluss der Gewerkschaften auf das alltägliche Leben ihrer Mitglieder auf den – eminent wichtigen – Moment des Streiks. Doch mit der Rückkehr zum alltäglichen Arbeitsrhythmus unter der strengen Kontrolle des Kapitals gehen die Ansätze der Selbstorganisation letztlich verloren.

Um irgendeine Form tiefergehender (also revolutionärer) gesellschaftlicher Transformation zu denken, sind Überlegungen darüber notwendig, wie die Kämpfe von Arbeitslosen und Beschäftigten vereint werden können, doch die gegenwärtige ökonomische und politische Konjunktur scheint eher die Entwicklung von Basisbewegungen denn die von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zu begünstigen, was in gewisser Weise auf eine neue Achse der sozialen Kämpfe verweist. (Das bedeutet nicht, dass dieser Prozess einfach sein wird, wie ein Blick auf die Situation der noch sehr schwachen urbanen Bewegungen in Brasilien zeigt. [49] )

Vielleicht besteht eines der Geheimnisse für den bisher relativ erfolgreichen Aufbau einiger Piquetero -Bewegungen genau darin, dass ihre Organisation den Alltag der Menschen verändert. Im ersten Moment ist es nur die Frage des Überlebens, welche die meisten Menschen dazu bringt, sich den Organisationen anzuschließen, weil sie wahrhaben, dass sie nur gemeinsam den Hunger bekämpfen können, der ihre Familien bedroht. Dies erfordert allerdings, dass sie sich jeden Tag versammeln, um alternative Formen des Überlebens zu organisieren: den Comedor , die Gemüsegärten, die Bäckerei, kleine Produktionswerkstätten oder die Betreuung der Kinder. Wenn es der Bewegung darüber hinaus jedoch gelingt, eine konsistente Arbeit der Selbstorganisation und der politischen Bildung umzusetzen und so Bande zwischen den Individuen herzustellen, hat sie die Kraft, einen wichtigen Raum im Imaginären ihrer Mitglieder zu besetzen, die damit beginnen, sich untereinander und mit den Symbolen der Bewegung zu identifizieren, mit ihrem „Nimbus“ und letztlich auch mit ihrem Kampf, der sich über einen bloßen Kampf gegen den Hunger hinaus entwickelt; im Fall der radikaleren Bewegungen hin zu einem Kampf gegen die ökonomische und subjektive Herrschaft des Kapitals. Freilich ist diese Veränderung des Alltags alles andere als leicht in einer Bewegung von Arbeitslosen, denn es ist hier „…sehr viel schwieriger, alltägliche und dauerhafte Beziehungen aufzubauen, die den Schlüssel für die Konstruktion einer gemeinsamen Identität, eigener Werte und einer eigenen Kultur darstellen und damit letztlich auch für die Entwicklung eines Klassenbewusstseins …, denn die Voraussetzung dafür sind eigenständige kollektive Organisationen…“ [50]

Ein solches Bewusstsein resultiert nicht einfach aus der Position, die ein Mensch in der gesellschaftlichen Reproduktionsstruktur einnimmt. Arm zu sein und ausgebeutet zu werden, war bekanntlich nie eine Garantie für eine subversive politische Einstellung; im Gegenteil, wie wir oben gesehen haben, macht eine solche Lebenssituation sogar sehr anfällig für Vereinnahmungsstrategien der politischen und ökonomischen Macht. Daher die Notwendigkeit, kollektive Instanzen zu schaffen, die gleichzeitig auf die Sicherung des materiellen Überlebens zielen als auch auf die Herstellung gemeinsamer Lebenszusammenhänge und die geistige Entwicklung der Beteiligten, sodass diese sich als zugehörig zu einer Gemeinschaft verstehen können und trotz unterschiedlicher Interessen und Ansichten durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind, das die Zusammenarbeit aller erfordert.

Zweifellos müssen die Piquetero -Bewegungen in diese Richtung noch viel unternehmen, denn die meiste Energie ihrer Mitglieder wird aus naheliegenden Gründen immer noch von der Lösung unmittelbarer Probleme des materiellen Überlebenskampfs im Alltag verschlungen. Immerhin existieren eine ganze Reihe von Initiativen der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, der Alphabetisierung von Erwachsenen, politischer Diskussions- und Studiengruppen, kultureller Veranstaltungen und anderer Aktivitäten zur politischen und kulturellen Bildung, die in nicht allzu ferner Zukunft dazu beitragen könnten, das Selbstbewusstsein der Beteiligten als Mitglieder einer sozialen Bewegung zu stärken und eine gemeinsame Identität herzustellen. Das würde die psychischen Effekte verstärken, die eine gemeinsame Organisierung bewirken kann, indem sie den Individuen dabei hilft, ihre Würde wieder zu erlangen, ihrem Alltag Sinn zu geben und den subjektiven Belastungen zu widerstehen, welche die perverse Dynamik des aktuellen Kapitalismus erzeugt, die Millionen von Menschen ausschließt und demütigt, weil sie für die blinde, irrationale Maschine der Wertverwertung überflüssig sind. Ohne diese Stärkung des Ichs ihrer Mitglieder wird es keine revolutionäre Bewegung geben, die den feindlichen Waffen widersteht.

Mit wenigen Ausnahmen hat die Linke des zwanzigsten Jahrhunderts den Aufbau des Sozialismus immer als eine in der Zukunft liegende Aufgabe betrachtet, die nach der Revolution verwirklicht werden soll. Deshalb bestand die traditionelle Vorstellung der Arbeiterbewegung immer in der Eroberung der politischen Macht, um vermittelst des Staates die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen durchzusetzen. Nun stehen wir keinesfalls kurz vor der Revolution. Ganz im Gegenteil. Offensichtlich bedarf es noch langer und schwerer politischer Anstrengungen, die auf eine Aufhebung des Kapitalismus zielen. Jedoch aufgrund der neuen objektiven Bedingungen und auch aufgrund der unzähligen Lektionen, die wir aus den Niederlagen der letzten Jahrzehnte gelernt haben, erscheint es zumindest als möglich, eine neue revolutionäre Politik zu entwerfen, der zufolge „die gesellschaftliche Transformation nicht nur ein Moment oder ein Ort ist, der erreicht werden muss, sondern auch und vor allem ein Moment und ein Ort, von dem auszugehen und ein Weg, der zurückzulegen ist. Sie ist das Ziel, der Ausgangspunkt und immer auch der Weg.“ [51]

Anmerkungen:

(1) Das Thema dieses Textes und die darin aufgeworfenen Fragen schließen an zwei Reisen nach Argentinien an, die erste im Januar und Februar 2003, die zweite im Juli 2004. Beide Male habe ich sowohl besetzte Fabriken als auch verschiedene Arbeitslosenbewegungen besucht. Dabei konnte ich nicht nur mit zahlreichen Aktivisten von Basisorganisationen Gespräche führen, sondern auch mit Forschern, die beide Erfahrungen untersuchten. Der vorliegende Text wurde Ende 2004 abgeschlossen. Wolfgang Kukulies und Norbert Trenkle übersetzten ihn aus dem brasilianischen Portugiesisch.

(2) Marco Fernandes, geb. 1979, ist Aktivist im Bereich für politische Bildung des MTST (Movimento dos Trabalhadores sem Teto – Bewegung der obdachlosen Arbeiter), diplomierter Historiker und Sozialpsychologe der Universität São Paulo (USP) und arbeitet als Kellner (marcof36 AT yahoo.com.br).

(3) MTD SOLANO y Colectivo SITUACIONES , La Hipotesis 891 . (Anm. der Übersetzer: MTD ist die Abkürzung für Movimiento de Trabajadores Desocupados = Bewegung erwerbsloser Arbeiter; die MTD SOLANO ist eine nicht-hierarchisch organisierte Bewegung im Großraum Buenos Aires.)

(4) Die Bezeichnung leitet sich von dem Wort „Piquete“ ab, das laut dem Dicionario Houaiss eigentlich so etwas wie Streikposten meint: „Gruppe von Arbeitern, Gewerkschaftern usw., die sich an der Pforte einer Fabrik, eines Unternehmens versammeln, um den anderen Arbeitern oder Angestellten während eines Streiks den Eintritt zu verwehren“. Die argentinischen Piqueteros tun jedoch weit mehr als dies.

(5) Siehe Maristella Svampa, Sebastian Pereyra, Entre la ruta y el barrio – la experencia de las organizaciones piqueteras, Editorial Biblos, Buenos Aires 2003.

(6) Während der gesamten Regierungszeit Menems waren die Piquetero -Bewegungen, was die Verteilung der Planes betraf, absolut abhängig vom Staat. Da nur die Präfekturen die Planes auszahlen dürfen, waren die Bewegungen durchweg von den Punteros und ihrer Willkür abhängig. Die Präfekturen haben die Familien der Erwerbslosen zwar registriert, sich jedoch nie klar zu den Erhebungsmethoden geäußert. Die Machtübernahme von De la Rua (1999-2000) eröffnete dann ein neues Kapitel in der Geschichte der Bewegungen. Die Piqueteros konnten von dem Konflikt zwischen De La Ruas Partei, der Radikalen Bürgerunion (UCR – Union Civica Radical) und den Peronisten (Partido Justicialista) profitieren und so als neue politische Kraft hervorzutreten. Um die Macht der PJ in den Kommunen der Provinz Buenos Aires (wo die absolute Mehrheit der Präfekturen von den Peronisten kontrolliert wurde) zu schwächen – aber auch um, gestützt auf die Empfehlungen von Weltbank und IWF, eine Dezentralisierung der Sozialpolitiken durchzusetzen, mit dem Ziel, diese angeblich effizienter zu gestalten – nahm De la Rua den Kommunen die exklusive Befugnis zur Auszahlung der Planes . NGOs wurden damit beauftragt, „Kommunitäre Projekte“ auszuarbeiten und diese direkt dem Arbeitsministerium vorzulegen. Von da an konstituierten die Bewegungen sich als „juristische Person“, konnten selbst direkt mit dem Staat verhandeln und die Planes nach eigenen Kriterien an ihre Mitglieder weiterleiten, wodurch sie eine bis dato ungekannte Autonomie gewannen. Dies ermöglichte nicht nur das Erstarken großer Organisationen wie der Frente por Tierra y Vivienda (FTV) und der Corriente Classista y Combativa (CCC), die mit dem Partido Comunista Revolucionario verbunden ist, sondern auch das quantitative Wachstum und die Autonomie von bislang kleinen Bewegungen wie dem MTD Anibal Véron, dem Movimiento Teresa Rodriguez (MTR), dem Polo Obrero (PO), angebunden an den trotzkistischen Partido Obrero, usw. Siehe Svampa , Pereyra , a.a.O.

(7) Anm. der Übersetzer : Ausdruck für einen Gewerkschaftsfunktionär, der die Basis im Sinne von Unternehmern und/oder Staat kontrolliert.

(8) Berechnungen der Menschenrechtsorganisationen und der Bewegungen zufolge sitzen wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten und an linken Organisationen an die 4.000 Menschen im Gefängnis oder werden strafrechtlich verfolgt. Darüber hinaus gibt es unzählige Berichte von Gewalttätigkeiten und Ermordungen von Bewegungsmitgliedern durch Zivilpolizisten oder durch Punteros . Teresa Rodriguez und Anibal Veron – nach denen sich zwei Bewegungen benannt haben – sind bekannte Beispiele von durch die Polizei ermordeten AktivistInnen. Ein anderer spektakulärer Fall ist das so genannte „Massaker von Puente Puyrredon“. Bei einer Großdemonstration am 26. Juni 2002 wurden vor laufenden Fernsehkameras zwei Piqueteros – Dario Santillan und Maximiliano Kostecki – von der Polizei erschossen. Wie man sieht, hält der argentinische Staat an der Tradition der physischen Liquidierung seiner Gegner fest.

(9) „Die Konsolidierung der Bewegung erfordert Bildung. Denn wenn wir uns zufrieden geben mit reinen Sachforderungen oder mit wirtschaftlichen Forderungen, dann kann es passieren, dass, wenn sie uns eines Tages die Planes streichen, die Bewegung keinen Inhalt mehr hat und zerfällt, weil der einzige Grund, aus dem die Leute mitmachen, die wirtschaftliche Frage ist.“ (Aktivist des Movimiento 26 de Junho), Miguel Mazzeo, Piqueteros – notas para una tipologia , S. 81. Wie wir später sehen werden, verläuft dieser Bildungsprozess über neue selbstorganisierte Formen politischer und wirtschaftlicher Praxis.

(10) MTD SOLANO y Colectivo SITUACIONES, La Hipotesis 891 – Mas allá de los piquetes , Ediciones de mano en mano, Buenos Aires 2002, S. 67.

(11) Es ist schwer die Erwerbslosenbewegungen auf einen allgemeingültigen Begriff zu bringen. In Gesprächen mit Aktivisten und Forschern in Argentinien war mehrfach die Rede von „Ausgeschlossenen“, um die Situation der Piqueteros zu beschreiben. Dieser Begriff ist jedoch missverständlich: Erstens ist ein Arbeitsloser nicht schlichtweg ein „Ausgeschlossener“, denn es kommt häufig vor, dass Menschen ohne feste Arbeit dann und wann einen kleinen Job annehmen; letztlich aber steht ohnehin niemand „außerhalb“ des Systems, weil auch die Masse der Arbeitslosen durchaus in gewisser Weise funktional für die Kapitalverwertung ist, indem sie etwa die Verhandlungsmacht der Beschäftigten schwächt und so dazu beiträgt, den Preis der Ware Arbeitskraft zu drücken. Ich benutze – zumindest vorläufig – den Begriff der „Prekarisierten“, denn er scheint mir die Situation derjenigen zu beschreiben, die nie eine feste Stelle finden, sich den erniedrigenden Bedingungen kurzfristiger Arbeitsverhältnisse unterwerfen müssen, keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen haben und ohne jede soziale Absicherung dastehen, die es in der vermeintlich „guten alten Zeit“ des argentinischen Kapitalismus immerhin gegeben hatte.

(12) Francisco Ferrara, Mas alla del corte de rutas – la lucha por una nueva subjetividad, La Rosa Blindada, Buenos Aires 2003, S. 24.

(13) „Frauen bilden die große Mehrheit in der Bewegung. Die Männer legen in der Regel die Hände in den Schoß, werden depressiv, hängen den ganzen Tag vor dem Fernseher und wissen nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Die Frau verlässt das Haus um nach einer Lösung zu suchen. Sie kommt zur Bewegung, fängt an, darin zu arbeiten, während der Mann erst später nachkommt.“ (Gespräch mit einer Aktivistin des MTD Varela anlässlich einer Demonstration auf dem Puente Pueyrredon im Januar 2003). Selbstverständlich sind von diesen psychischen Krisen, die auch andere Formen annehmen können, alle sozialen Klassen betroffen. Das zeigen die empirischen Forschungen von Cristophe Dejours „Travail usure mentale“ und „La Banalisation de l’injustice sociale“, die Studie „Der flexible Mensch“ von Richard Sennett sowie die klinische Analyse eines leitenden Angestellten der Börse von Sao Paulo durch den Psychoanalytiker Tales Ab’Saber in „Sete ensaios de dialetica infantil“ (noch unveröffentlicht). Hier interessiert uns jedoch nur die Diskussion bestimmter Aspekte der Dynamik des psychischen Leidens bei den unteren Klassen.

(14) Um eine Vorstellung von dem ungeheuren Verarmungsprozess zu geben, der in Argentinien stattgefunden hat: Mitte der 70er Jahre umfasste die so genannte Mittelschicht ungefähr 75 % der Bevölkerung, im Jahr 2002 waren es laut offiziellen Daten nur noch 30 % (Interview mit der Soziologin Maristella Svampa im Juli 2004).

(15) José Moura Filho Gonçalves , Humilhaçao Social – um problema politico em psicologia, Revista de Psicologia da USP, Jg. 9, Nr. 2, 1998, S. 15.

(16) Wir erinnern hier daran, wie Laplanche/Pontalis in ihrem Wörterbuch dieses Freudsche Konzept definieren: „Reaktion des Subjekts, wenn es sich in einer traumatischen Situation befindet, d.h. einer Reizanflutung aus inneren oder äußeren Quellen ausgesetzt ist, die es nicht bewältigen kann … Unter ,traumatischer Situation‘ ist ein nicht zu bewältigendes Anfluten zu zahlreicher und intensiver Reize zu verstehen…“ (Hervorhebung von mir), Jean Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, STW, Frankfurt 1977, Bd. 1, S. 64.

(17) Filho Gonçalves , a.a.O., S. 53.

(18) Mazzeo, a.a.O., S. 47.

(19) „Manchmal machen wir im Gespräch mit aktiveren Mitgliedern der Bewegung Witze, wenn uns manchmal klar wird, dass das, was wir sagen, wenn wir mit bestimmten Genossen reden, die seit langem arbeitslos sind und die viele Probleme zu Hause haben usw., auch aus irgendeinem Selbsthilfehandbuch stammen könnte. Wir witzeln darüber, aber wir wissen auch, dass wir bei einigen Genossen, die sich in einer schwierigen Lage befinden, mitunter die Rolle von ‚Psychologen‘ einnehmen müssen. Aber so ist das nun mal, das Leben ist schwer.“ (Gespräch mit einem Aktivisten des MTR, Juli 2004).

(20) Svampa , Pereyra, a.a.O., S. 172. Zu dieser Tendenz gehören im Wesentlichen der Movimiento Teresa Rodriguez (MTR) und die verschiedenen Bewegungen, die noch bis vor kurzem den MTD Anibal Veron bildeten, der u.a. Bewegungen zusammenfasste wie die MTDs von Solano, Almirante Brown, Lanus, Lugano und Florencio Varela (vor ein paar Monaten löste sich der MTD Anibal Veron in zahlreiche unabhängige Bewegungen auf). Das erfolgreichste Beispiel für diese autonome Organisationsform ist laut Maristella Svampa die Union der erwerbslosen Arbeiter (UTD) in Mosconi, in der Nordprovinz Salta. Natürlich finden sich auch bei anderen Bewegungen ähnliche Organisationsformen. Doch erstens sind die autonomen Bewegungen – vielleicht weil sie mehr Sympathie und Affinität bei den Linksintellektuellen erweckt haben – ausführlicher studiert worden als größere und im ganzen Land präsente Bewegungen wie die FTV und die CCC oder gar der MJD (Unabhängige Bewegung der Rentner und Arbeitslosen), weshalb wir über sie viel mehr Informationen besitzen. Zweitens sieht die für den „offiziellen Diskurs“ verantwortliche Führung dieser größeren Bewegungen die Praktiken der Selbstorganisation durchweg nicht als möglichen Prozess der politischen Bewusstseinsbildung und der Bildung einer neuen Identität. Sei es wegen ihrer Hoffnung auf die Wiedereingliederung in die „Arbeitsgesellschaft“ und einer Vision der Wiederherstellung des argentinischen Kapitalismus – wie etwa bei der FTV, sei es, weil sie ein traditionelles Modell des politischen Kampfes verfolgen, das sich auf das Fabrikproletariat stützt – wie etwa der (trotzkistische) Polo Obrero und teilweise die CCC. Der Soziologin Maristella Svampa zufolge (Gespräch vom Juli 2004) ist die CCC die Organisation, die am stärksten die Praxis der Versammlungen entwickelt hat, wenngleich die Identität ihrer Führung stark vom Erbe der Fabrik geprägt ist, wodurch die Stadtteilarbeit im Prinzip transitorischen Charakter erhält. Tatsächlich aber ist die CCC wenig studiert worden, was eine klare Einschätzung ihrer alltäglichen Praktiken unmöglich macht.

(21) „Wenn der Arbeiter in einer Fabrik Forderungen stellte, die für den Unternehmer inakzeptabel waren, dann wurde die Fabrik am Ende besetzt. Heute haben wir keine Fabrik mehr. Als wir die Straßen besetzten, entdeckten wir, dass wir dadurch den Busverkehr lahm legten. Die Produktion kommt zum Stillstand. Für uns als Arbeitslose handelt es sich dabei um ein äußerst wertvolles Kampfinstrument.“ Ferrara, a.a.O., S. 40.

(22) Ebenda, S. 128.

(23) Dieser Ausdruck stammt aus einer Diskussion zu diesem Thema mit dem Psychoanalytiker Tales Ab’Saber.

(24) Sieben Jahre nach dem ersten Piquete in der Hauptstadt und mehr als zwei Jahre nach der Wirtschaftskrise, die einen Augenblick lang die Mittelklasse gegen die Regierung aufbrachte und sie dadurch den Basisbewegungen annäherte, hat sich das politische Panorama Argentiniens in mancher Hinsicht verändert, vor allem nach der Machtübernahme durch Nestor Kirchner (PJ). Der gegenwärtige Präsident hat eine „linke Vergangenheit“. Er gehörte in den 70er Jahren dem radikalen Guerillaflügel des Peronismus an, den so genannten Montoneros. Dies hat dazu beigetragen, ihm ein „progressives“ Image zu verleihen und den Ruf eines Politikers, der imstande ist, Argentinien wieder zu einem „seriösen Land“ zu machen. Die allgemeine „Anti- Piquetero -Stimmung“, die sich bei einem Großteil der Bevölkerung von Buenos Aires durchgesetzt hat, diente als Grundlage zum letzten Putsch der Rechten, dem so genannten „Codigo de convivencia“ (etwa: „Kodex des Zusammenlebens“; Anm. der Übersetzer). Es handelt sich dabei um einen Gesetzentwurf für die Stadt Buenos Aires, der bislang nur deshalb nicht verabschiedet wurde, weil die massive Mobilisierung der Bewegungen im Juli 2004 dies nicht zuließ. Dieser „Kodex“ ist ein Projekt von Francisco Macri (Politiker und Eigentümer der Post und des Fußballclubs Boca Juniors). Eingebracht wurde es nach der Ermordung eines Jugendlichen der oberen Mittelschicht durch seine Entführer, die, wie später herauskam, mit der Polizei unter einer Decke steckten. Die Initiative wurde von Kirchner diskret unterstützt und sieht die Herabsetzung des Strafmündigkeitalters von 18 auf 14 Jahre vor, ein Verbot des Straßenhandels, der Prostitution und natürlich der Straßenproteste, die angeblich das „Recht auf freien Verkehr“ einschränken. Die vorgesehenen Geldstrafen sind sehr hoch und bei Wiederholung droht Gefängnis. Dies ist einer der Gründe dafür, dass einige Bewegungen glauben, die Wirksamkeit der Piquetes sei vorläufig an ihre Grenzen gestoßen. Der Augenblick sei gekommen, die „Basisarbeit“ zu verstärken und neue Formen der direkten Aktion und der Konfrontation mit den herrschenden Kräften zu finden, um den Forderungen der Bewegungen so einen breiteren, ja universellen Charakter zu verleihen. So könne die auf Isolation der Bewegungen zielende Regierungspolitik bekämpft und die Unterstützung anderer Sektoren der Gesellschaft erreicht werden. Dazu werden vor allem privatisierte Unternehmen des öffentlichen Dienstes ins Visier genommen, die aus ersichtlichen Gründen nicht mit der Sympathie der Bevölkerung rechnen können: hohe Preise und miserable Leistungen. Mit Protesten werden die Verbesserung des öffentlichen Dienstes und Preissenkungen gefordert. Ein Beispiel ist die Besetzung der Fahrkartenschalter der großen Bahnhöfe, die das Unternehmen daran hindert, den Fahrgästen das Fahrgeld abzunehmen – gewissermaßen wird die Logik der Piquetes so umgekehrt und der Verkehr für alle „befreit“. Eine andere interessante Kampagne wird – zusammen mit anderen Bewegungen – von dem Movimiento Teresa Rodriguez (MTR) durchgeführt. Sie richtet sich gegen den spanischen Ölmulti REPSOL, der sich die Taschen mit einträglichen Geschäften wie dem Verkauf von Propangasflaschen füllt. Einer Studie der Defensoria Publica zufolge kostet das Unternehmen eine Propangasflasche, die es für bis zu 30 Pesos verkauft lediglich 6,10 Pesos. Die Gewinnmarge ist also immens hoch. Damit greifen die Bewegungen ein Problem auf, das die ganze Bevölkerung betrifft und nicht bloß die Erwerbslosen, und schaffen so die Voraussetzungen dafür, dass sich ihnen mehr Menschen anschließen, sowie für Allianzen mit progressiveren Sektoren der Mittelschicht und Politikern, die – sagen wir es einmal so – eher links stehen.

(25) Die „Armutsgrenze“ in Argentinien, d.h. das monatliche Pro-Kopf -Einkommen innerhalb einer Familie, ab dem man als „arm“ gilt, wird von der Regierung mit 350 Pesos angegeben.

(26) Man sollte wissen, dass Argentinien gegenwärtig ausreichend Lebensmittel für 300 Millionen Menschen produziert, und das bei einer Bevölkerung von 37 Millionen (Angaben der Weltgesundheitsorganisation). Daten der argentinischen Regierung zufolge lag der Prozentsatz der Menschen unter der Armutsgrenze im Jahre 2002 bei ca. 50 % der Bevölkerung. Der Hungerindex (das Einkommen reicht nicht einmal für den Kauf von Lebensmitteln aus) lag bei 20 % der Einwohner des Landes.

(27) Ein Großteil des Geldes, das für die Auszahlung der Planes bestimmt ist, stammt aus den Safes der Weltbank. Es sollte nicht ausgeblendet werden, dass dieses Programm Teil einer neuen Herrschaftsstrategie in Argentinien wie auch auf internationaler Ebene ist, um die Verelendeten des Landes zu kontrollieren. Es sei daran erinnert, dass nur ein kleiner Teil der Planes von den Bewegungen kontrolliert wird (schätzungsweise 10 % der Gesamtsumme). Auf dem Höhepunkt des Programms im Jahre 2002 verteilte der Staat 2,2 Millionen Planes , nur 200.000 davon gingen an die Piquetero -Organisationen. So unbedeutend sie vom nationalökonomischen Standpunkt sein mögen, eine beachtliche finanzielle Bedeutung erlangten die Planes im spezifischen Fall der Gemeinde La Matanza, wo die beiden größten Piquetero -Bewegungen konzentriert sind: die FTV und die CCC. „Wir ziehen folgende Bilanz: In La Matanza erbringen die Planes ein jährliches Einkommen von 180 Millionen Pesos, während das Budget der Präfektur 200 Millionen beträgt. Ohne die Planes wäre die Gemeindeverwaltung bereits abgefackelt worden.“ (Gespräch mit dem Führer der CCC, Juan Carlos Alderete, in: Pagina 12 vom 22.7.2004, S. 6). Ein anderes unlängst von der Regierung ebenfalls mit finanzieller Hilfe der Weltbank geschaffenes Programm ist das so genannte „Manos a la obra“ (Ran an die Arbeit), das von den Piqueteros sarkastisch als „Manos a la sobra“ (Ran ans Geld) bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um ein Finanzierungsprogramm für Kleinkooperativen, auf das die Regierung zurückgreift, um nach und nach die Planes zu kürzen. Auch hier eröffnen sich bestimmte Möglichkeiten für Bewegungen, die bereits kleine Produktionsunternehmen geschaffen haben. Dem MTR beispielsweise, der von Regierung und Presse als eine der „radikalsten“ Bewegungen angesehen wird, gelang es, einen Kredit zum Aufbau eines kleinen Konfektionsbetriebs zu bekommen. Ein anderes bezeichnendes Beispiel ist das des MTD Resistir e Vencer, der ein vierstöckiges Gebäude in Avellaneda (Stadtteil im Süden von Buenos Aires) besetzte, später durch das erwähnte Programm finanziert wurde und heute ein kleines Kulturzentrum, eine Bäckerei, eine kleine Lederfabrik, ein Konfektionsatelier sowie eine kleine Brauerei betreibt, in der ein übrigens schmackhaftes Bier hergestellt wird. Die Bewegung gab wie viele andere auch nach der Machtübernahme Kirchners ihren Widerstand gegen die Regierung auf. So etwa die FTV, deren Führer Luis D’Elia ein Amt in der Regierung bekleidet, und die Bewegung „Barrios de Pie“, die im vergangenen Jahr dank Abkommen mit der Regierung erheblichen Zulauf verzeichnete. Kirchners Plan lief klar darauf hinaus, den weniger kämpferischen Bewegungen Zugeständnisse zu machen und radikalere Bewegungen wie die „Autonomen“ zu isolieren.

(28) Damit keine Verwirrung entsteht, sei hier eine Bemerkung angebracht. Ein anderes Phänomen, das nach dem Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft 2001 berühmt wurde, waren die so genannten „Asambleas vecinales“ (Nachbarschaftsversammlungen), die vor allem in bürgerlichen Vierteln der Hauptstadt organisiert wurden. Aus einer Reihe von Gründen, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann, haben sich diese Versammlungen größtenteils aufgelöst. Übriggeblieben sind einige Erfolgsmodelle, wie die „Asamblea El Cid Campeador“ mit ihrer regen kulturellen Aktivität und die „Asamblea vecinal de Colegiales“, die bei der Distribution und Vermarktung von Erzeugnissen besetzter Fabriken und einiger Piquetero -Organisationen behilflich ist. Es handelt sich dabei aber um Erfahrungen, deren soziale Basis sehr verschieden ist.

(29) Svampa , Pereyra, a.a.O., S. 181.

(30) Gespräch mit einem Mitglied des MTD Almirante Brown im Januar 2003.

(31) Anm. der Übersetzer: Das Wort „orações“ bzw. „oraciones“ bedeutet im Portugiesischen bzw. Spanischen sowohl „Sätze“ als auch „Gebete“.

(32) Filho Gonçalves , a.a.O., S. 30.

(33) MTD SOLANO y Colectivo SITUACIONES, a.a.O., S. 248.

(34) Ebenda, S. 247. Innerhalb der Bewegungen wird über die Forderungen und die organisatorische Ausrichtung im Hinblick auf die Frage der Arbeit diskutiert. Die „autonomen Bewegungen“ kämpfen für das, was sie „würdige Arbeit“ nennen, d.h. Initiativen wie die oben diskutierten, die auf Aufbau der Selbstorganisation in den Stadtvierteln zielen. Andere Bewegungen, die an Linksparteien angebunden sind, wie der Polo Obrero, ein Teil der CCC und der FTC fordern „echte Arbeit“ ein, d.h. Arbeitsplätze in Fabriken oder Bereichen des öffentlichen Dienstes. Die CCC ist dennoch in einigen von den Arbeitern besetzten und selbstverwalteten Fabriken aktiv.

(35) Ebenda, S. 70.

(36) „Unwürdig ist die Ausbeutung. Ich finde, dass wir damit beginnen müssen, andere Beziehungen zu entwickeln. Wir haben keine fertige Idee von den Formen der Produktion, die wir schaffen wollen, aber klar ist auf jeden Fall, dass es keine Ausbeutungsbeziehungen sein werden .“ Ebenda., S. 69.

(37) Svampa , Pereyra, a.a.O., S. 192.

(38) „Verankert zu sein ist vielleicht die wichtigste und am wenigsten bekannteste Notwendigkeit der menschlichen Seele. Sie gehört zu denen, die am schwierigsten zu definieren sind. Ein Mensch ist verankert wegen seiner wirklichen, aktiven und selbstverständlichen Teilnahme am Leben eines sozialen Zusammenhangs, der gewisse Errungenschaften der Vergangenheit sowie gewisse Ahnungen von der Zukunft lebendig erhält.“ Filho Gonçalves, a.a.O., S. 56.

(39) MTD SOLANO y Colectivo SITUACIONES, a.a.O., S. 59. Es ist klar, dass eine solche Position wütende Reaktionen bei den Funktionären der kapitalistischen Herrschaft provoziert. Dies spiegelt sich beispielsweise in einer unlängst von Innenminister Aníbal Fernández abgegebenen Erklärung wider: „Wenn jemand diesen Leuten (den Piqueteros ) eine Schaufel zeigt, dann bekommen sie einen Fieberanfall. Keiner von denen hat Lust zu arbeiten.“ (Tageszeitung El Clarin vom 30.8.2004). Als würden die Piqueteros den ganzen Tag die Füße hoch legen und Mate trinken. Der Minister war zudem noch so dreist, diese Bemerkung zu machen, nachdem er zugegeben hatte, es sei nicht genügend Arbeit für alle da! Mit anderen Worten: Die Wirtschaft ist außerstande, Arbeitsplätze zu schaffen, aber die Armen tragen die Schuld, weil sie nicht „arbeiten“.

(40) Im Dezember 1995 legte ein Generalstreik tagelang das öffentliche Leben in Frankreich lahm. Damals fand ein von der Zeitung Le Monde Diplomatique veröffentlichtes Interview mit einer Demonstrantin ziemlich weite Verbreitung, weil es etwas ausdrückte, was man aus dem Mund von Erwerbslosen bis dahin kaum gehört hatte. Befragt, ob sie demonstriere, damit ihr Sohn einen Job bekomme, antwortete die Frau mit Nein, denn mit den Arbeitsplätzen gehe es zu Ende und es werde ohnehin nie genug Jobs für alle geben. Dennoch habe auch ihr Sohn das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und deshalb demonstriere sie für Bildung, Gesundheit, Kultur usw. für alle. So fortgeschritten ein solches Argument auch sein mag, es ist leichter, es in einem Land wie Frankreich zu formulieren, dessen Modell des Wohlfahrtsstaats zu den erfolgreichsten gehörte, und von einer Mittelschichtsfrau, die ihre Rechte gewissermaßen als „natürlich“ betrachtet. Dass ein Armer aus den Vororten von Buenos dieses Argument „gegen die Arbeit“ benutzt, erscheint als ein Signal dafür, dass die Piquetero -Erfahrung es in einigen Fällen vermocht hat, ein scharfes kritisches Bewusstsein über die Grenzen der kapitalistischen Reproduktion zu schaffen sowie über die Situation derer, die die Folgen davon direkt zu tragen haben.

(41) In Walter Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ gibt es eine schöne Stelle, die das mitunter latente Bewusstsein von der Bedeutung bezeugt, welche der Herrschaft der Zeit im von der Arbeit geprägten Leben zukommt: „Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewusstsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig voneinander und gleichzeitig auf die Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Divination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals: „ Qui le croirait, qu’irrités contre l’heure // De nouveaux Josués au pied de chaque tour // Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour. “ Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt/Main 1961, S. 277.

(42) MTD SOLANO y Colectivo SITUACIONES, a.a.O., S. 195. Einen interessanten Fall gab es in dem MTD La Matanza. Nachdem die Produktion von Kleidung für eine bekannte Marke angelaufen war, wurden die Piqueteros dazu aufgefordert, die Produktion zu steigern. Da es dazu nötig gewesen wäre, mindestens acht Stunden täglich zu arbeiten, beschloss die Bewegung, nicht mehr für diese Marke zu arbeiten und nach anderen Abkommen zu suchen, die ihre zeitliche Autonomie wahrten.

(43) Ferrara , a.a.O., S. 100.

(44) „Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewussten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen“ (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1971, S. 36). Dieser Satz fasst einen der Aspekte des Konzepts „Verdinglichung“ zusammen, wie es die Schriften der Frankfurter Schule enthalten. Demzufolge ist es, vor jedem ideologischen Diskurs, der zweifelsohne ein wichtiges Moment in der Aufrechterhaltung der Herrschaft darstellt, die Objektivität des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst, der die Arbeitenden in den Netzen der Unterdrückung gefangen hält. Diese Idee zieht sich übrigens als roter Faden durch alle Aufsätze in diesem Buch. Ähnliches wurde auch meisterlich von einem Philosophen zum Ausdruck gebracht, der weder Marxist noch irgendwie „links“ ist, der aber ein scharfes Gespür für die Herrschaftsmechanismen der westlichen Zivilisation besitzt, vom Christentum bis hin zum Kapitalismus: „Im Grunde fühlt man jetzt …, dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht außerordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen“ (Friedrich Nietzsche, Die Lobredner der Arbeit, 1881, zitiert nach Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit, Erlangen 1999, S. 23).

(45) Ferrara, a.a.O., S. 119.

(46) Einen guten Hinweis auf die Aufhebung dieser Sphärentrennung als Ergebnis einer Aufhebung der Warengesellschaft findet sich im folgenden Abschnitt des „Manifests gegen die Arbeit“: „Allerdings verändert alle Tätigkeit ihren Charakter, wenn sie nicht mehr in eine selbstzweckhafte und entsinnlichte Sphäre von abstrakten Fließzeiten gebannt wird, sondern ihrem eigenen, individuell variablen Zeitmaß folgen kann und in persönliche Lebenszusammenhänge integriert ist; wenn auch in großen Organisationsformen der Produktion die Menschen selber den Ablauf bestimmen, statt vom Diktat der betriebswirtschaftlichen Verwertung bestimmt zu werden. Warum sich hetzen lassen von den dreisten Anforderungen einer aufgezwungenen Konkurrenz? Es gilt, die Langsamkeit wiederzuentdecken“ (S. 45f.).

(47) Daten aus Le Monde Diplomatique , Juli 2004 (spanische Ausgabe).

(48) Ein bezeichnendes Beispiel hierfür war der Streik der brasilianischen Bankangestellten im Jahr 2004, der trotz eines hartnäckigen Kampfes von über einem Monat seine Ziele nicht einmal annähernd erreichte. Die Banken, deren Gewinne jedes Jahr um 20 % zunehmen, haben ihren Angestellten lediglich ein paar Brosamen zugestanden. Tatsächlich waren es letztlich die Beschäftigten der staatlichen Banken ( Caixa Econômica Federal und Banco do Brasil ), die den Streik aufrechterhielten, weil ihre Arbeitsplätze sicher sind. (Es ist aber auch wichtig, an die Beteiligung der Conlutas zu erinnern, einer neuen Gewerkschaft, die sich gerade als Kontrapunkt zur konservativen Gewerkschaftszentrale der CUT organisiert.) Die Angestellten des Privatsektors wurden ständig mit der Entlassung bedroht, um so die Streikbewegung zu schwächen. Sogar die Regierung der Arbeiterpartei (PT) ging so weit, die staatlichen Bankangestellten öffentlich anzugreifen, weil sie befürchtete, der Streik könne einige Tage vor den Kommunalwahlen die Auszahlung der Renten verzögern. Wenn nun zwar bei einem so ausdauernd geführten Streik nicht direkt von Niederlage gesprochen werden kann, so sind doch die Verhandlungsergebnisse alles andere als glorreich.

(49) Für alle an den Kämpfen der urbanen Bewegungen in Brasilien aktiv Beteiligten sind die ökonomischen und politischen Grenzen der hauptsächlichen Forderung nach Wohnung offensichtlich. Die wichtigsten Bewegungen sind derzeit die Bewegungen der Obdachlosen, der „sem-teto“. Aber die Menschen ohne Dach über dem Kopf sind auch solche ohne Zugang zu Schulbildung und Gesundheitsversorgung und haben in der Regel auch keine Arbeit. Deshalb ist es nur eine vorübergehende Erleichterung, wenn Wohnungen erkämpft werden, man am Ende des Monats keine Miete zahlen muss und vor allem wenn die Bewegung finanzielle Mittel erhält, um die Gebäude zu renovieren (wie im Fall der Bewegungen im Zentrum von São Paulo). Die öffentlichen Wohnungsprogramme sind aber so ausgerichtet, dass ein Großteil der Bewohner nicht „hineinpasst“, weil ihre Einkommen (aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Prekarisierung) dafür nicht ausreichen und sie deshalb nicht an den Erfolgen partizipieren, die sie selbst mit erkämpft haben. (Dem Städtebauministerium zufolge betreffen 92 % des Wohnungsmangels von etwa 7 Millionen Wohnungen Familien mit einem Einkommen unterhalb von drei Mindestlöhnen. Die Caixa Econômica Federal , der größte Baufinanzierer des Landes, besitzt kein einziges Förderprogramm für solche Familien. Abgesehen davon, werden auch all jene nicht finanziert, die bereits einmal Schulden nicht begleichen konnten. Es bleibt also kaum noch jemand übrig.) Das größte Problem der Obdachlosenbewegungen scheint jedoch die Schwierigkeit zu sein, ihre Selbstorganisation zu festigen sowie die Einheit und Mobilisierung ihrer Mitglieder aufrechtzuerhalten. Damit meine ich nicht nur die Mobilisierung auf der Straße für den Protest und für bestimmte Forderungen, auch nicht nur die Mobilisierung für die Besetzung von Grundstücken und Gebäuden, sondern die alltägliche Mobilisierung innerhalb der besetzten Räume, wo nach und nach so etwas wie ein Gemeinschaftssinn und ein gewisser Grad an Autonomie entwickelt werden könnte. Meistens gelingt die Mobilisierung und die Herstellung von Einigkeit nur im Rahmen der Besetzungen selbst: angefangen von den Vorbereitungen einige Wochen vorher, über den Tag der Besetzung und die Tage der Verteidigung gegen die Gefahr einer Räumung, bis hin zu den folgenden Monaten, in denen ein Minimum an Infrastruktur geschaffen werden muss (Gemeinschaftsküche, Wasser- und Stromversorgung, Abwasserentsorgung etc.), damit der Ort bewohnbar wird. Alles in allem überwiegt anschließend jedoch, aufgrund objektiver und subjektiver Bedingungen, die Tendenz zur Fragmentierung . Einerseits reproduziert sich der abstrakte Individualismus und Privatismus, auf den wir durch das Leben in einer aggressiven Megalopolis wie São Paulo alle konditioniert sind. Auf der Seite der objektiven Bedingungen stellt sich die Schwierigkeit, dass der Überlebenskampf allen eine ungeheure Kraftanstrengung abverlangt, um sich, wenn auch auf prekäre Weise, auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Die Menschen sind 10 bis 12 Stunden unterwegs und rennen von einer Seite zur anderen für Einkommen, die zumeist nicht einmal ausreichen, um sich und ihre Familien zu ernähren. Der besetzte Raum gerät so zu einem reinen Schlafplatz, zu einem Durchgangsort. Die Idee des Kollektivs gerät so zu einem Abstraktum, während man sich tatsächlich nur in den eigenen vier Wänden aufhält. Das sind schwierige Dilemmata für eine politische Bewegung. Es käme darauf an, alternative Formen der materiellen Reproduktion zu entwickeln, die wenigstens teilweise das Überleben der Beteiligten sichern, wie beispielsweise bei den Piqueteros ; Formen, die eine Verbindung zwischen den Menschen im Alltag herstellen und zugleich die Bewegung festigen, indem sie einen kommunitären Zusammenhang stiften.

(50) Mazzeo, a.a.O., S. 139. Unter einem solchen Bewusstsein versteht der Autor nichts Vorausgesetztes, sondern einen Prozess, nämlich „den Aufbau eines Selbstbilds in der Aneignung individueller und kollektiver Erfahrungen, denn das Bewusstsein ist nicht automatisch durch die Klassenlage gegeben“ (S. 158).

(51) Kommuniqué der Piqueteros des Movimiento Teresa Rodriguez, www.elteresa.org.ar