31.12.2006 

Vom Ende der Ware

Theoretische Kritik und emanzipatorische Praxis

aus: Möller, Peters, Vellay (Hg), Dissidente Praktiken, U. Helmer-Verlag 2006

Andreas Exner

Sprechen wir in emanzipatorischer Perspektive über »Prozesse sozialer Selbstorganisation«, so denken wir Selbstorganisation als Gegensatz zur heute dominanten Organisationsform sozialer Prozesse, das heißt im Gegensatz zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise.1 Diese Behauptung führt zu einer zweifachen Fragestellung. Erstens gilt es zu klären, inwiefern diese Organisationsform Resultat bzw. Ursache von Fremdbestimmung ist, zweitens ist danach zu fragen, unter welchen Voraussetzungen, auf welche Weise und in welcher Richtung sie überwunden werden kann. Gehen wir davon aus, dass sich die Stabilität der Verhältnisse gleichermaßen materiellen wie diskursiven Praxen verdankt, und dass letztere unter anderem im wissenschaftlichen Feld – inner- wie außerhalb der Universitäten – situiert sind, dann ist theoretische Kritik als wesentliches Element emanzipatorischen Handelns zu begreifen. Dies umso mehr, als eine Affirmation der Verhältnisse heute bis weit in das »oppositionelle Spektrum« reicht. Aus Platzgründen setze ich im Folgenden daher den Schwerpunkt auf die erste Frage.

Warenproduktion und Fremdbestimmung

Ökonomische Okkultismen

Der Alltagsverstand versteht ebenso wie die Volks- und Betriebswirtschaftslehre unter Kapital nichts weiter als ein Ding. Dieses Ding freilich scheint reichlich mysteriös, betritt es doch in unterschiedlichster Gestalt die Bühne: Kapital, das sei zum einen Geld, zum anderen Infrastruktur, Maschinerie und Boden, ja neuerdings auch die zum human capital geadelte Arbeitskraft – schlicht alles, was Produktion unter kapitalistischen Verhältnissen benötigt. Was nun aber das spezifisch Kapitalistische an diesen Verhältnissen darstellt, bleibt dabei bestenfalls im Ungefähren. Ist ein Werkzeug aus der Steinzeit genauso Kapital wie das Geld eines Investmentfonds? Was macht so Unterschiedliches wie Infrastruktur, Maschinerie, Wissen und soziale Fähigkeiten, zusammen mit Münzen und Banknoten – geprägtem Metall und bedrucktem Papier also – zu einem Etwas namens Kapital?

Abstrakt gesprochen meint der Begriff des Kapitals etwas Allgemeines, das sich durch unterschiedliche Formen (Geld, Ware, Arbeitskraft) hindurch erhält und vergrößert. Dieses Allgemeine – und damit sei vorweggenommen, was ich im Folgenden noch ausführe – bestimmt Marx als den Wert; Wert im Sinne einer abstrakten, gesellschaftlich gültigen, also objektiven, absoluten Qualität.2 Betrachtet man die zeitgenössische ökonomische Theorie, so ist ein Anknüpfungspunkt für diese Auffassung schwerlich zu entdecken. Sie hat den Wertbegriff zwar nicht in jedem Fall und gänzlich eliminiert, einer tieferen Reflexion in aller Regel jedoch entzogen. Indes bezeugt schon die in der Ökonomie alltägliche Redeweise, die nicht auskommt ohne Wertverlust und Wertsteigerung, Anlage und Sicherung des Werts usw. gerade die allgegenwärtige Präsenz des Werts im ökonomischen Handeln und Denken.

So mag es nicht verwundern, dass nicht allein ein gängiger makroökonomischer Begriff wie der des Bruttosozialprodukts, Jahreswert der Produktion eines Landes, auf eine addierbare, abstrakte und objektive Größe – den Wert – verweist, sondern auch die verbreitete Vorstellung eines »wirtschaftlichen Kreislaufs«, der sich schlechterdings nicht auf eine stofflichkonkrete Menge beziehen kann, vielmehr eine unsinnlich-abstrakte Größe bezeichnen muss.

Zweierlei Wert?

Der Wert zeigt einen im ersten Moment geradezu okkulten Doppelcharakter. Wert muss einerseits etwas Subjektives sein, rückführbar auf Menschlich-Individuelles – kann es sich bei den abstrakten Zahlenwerten der Ökonomie, ob Bruttosozialprodukt, Euro, Profit oder Zinsen, doch schwerlich um naturgegebene Dinge oder eine Quantifizierung natürlicher Größen handeln; andererseits erscheint der Wert als etwas Objektives, denn keineswegs hängt seine Existenz vom individuellen Willen ab. Sofern die akademische Ökonomie zwischen objektiven und subjektiven Werttheorien schwankt, kommt darin also eine durchaus reale Janusköpfigkeit des Werts zum Ausdruck.3 Während erstere jedoch den objektiven Charakter des Werts hypostasieren und naturalistisch-substanzhaft auffassen, verfallen letztere in den umgekehrten Trugschluss, der Wert sei der subjektiven Bestimmung unterworfen und eine rein geistige Erscheinung, Produkt der Vorstellung4. Beiden Zugängen entgeht somit das primäre theoretische Problem, nämlich den Wertbegriff und seinen eigentümlichen Doppelcharakter selbst einmal zu entschlüsseln, das heißt nachzuweisen, wie eine historisch bestimmte gesellschaftliche Praxis ihn bedingt als reale Kategorie, als eine »gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenform(en) für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten Produktionsweise, der Warenproduktion« (MEW 23, S. 90). So liefern sie lediglich konkurrierende Erklärungsmodelle für Wertgrößen bzw. die Wertverhältnisse zwischen Waren. Im Fall der objektiven Werttheorien klassischer politischer Ökonomie (namentlich bei David Ricardo) werden diese auf Arbeitsmengen, die zur Herstellung von Waren notwendigen Arbeitszeiten zurückgeführt (Arbeitswerttheorie), im Fall der subjektiven Werttheorie neoklassisch-marginalistischer Provenienz hingegen mit dem Grenznutzen einer Ware begründet (Nutzentheorie des Werts), dem Nutzen also, den eine zusätzliche Einheit eines Produkts einer Konsumentin verschafft. Sowohl in der klassischen wie auch der marginalistischen Theorie bleibt unklar, woher die soziale Form namens Wert, das heißt: die Wertgegenständlichkeit, die Eigenschaft von Gegenständen also, Wert darzustellen, rührt.5 Wert als Form wird in beiden Fällen unhinterfragt vorausgesetzt.

Das Warenuniversum

Um den Wert und seinen Zusammenhang mit den konkreteren ökonomischen Kategorien (Geld, Preis, Lohn, Kapital, Profit, Zins, Rente) zu entschlüsseln, wählt Marx im Kapital als Ausgangspunkt der analytischen Darstellung die isolierte Ware, »Elementarform« des Reichtums in Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht (MEW 23, S. 49).6 Der Reichtum, die Produktenwelt dieser Gesellschaftsform tritt uns konkret in der historisch spezifischen Gestalt einer »ungeheuren Warensammlung « (a. a. O.) entgegen. Waren sind nicht bloß konkret-brauchbar, sondern ebenso abstrakte, sinnlich nicht erfahrbare Wertgegenstände. Die Ware ist damit ein eigenartig doppelgesichtiges Phänomen, »sinnlich übersinnliches Ding« (a. a. O., S. 85). Als konkrete Gegenstände oder Dienstleistungen sind die Waren unvergleichbar. Als Träger von Wert hingegen ist jeder qualitative Unterschied zwischen ihnen ausgelöscht und in einen quantitativen verwandelt. In Warenform ist das Produkt eine Einheit von Gegensätzen: konkreter nützlicher Gegenstand (Gebrauchswert) und abstrakter Wert in Einem.

Wert erscheint wie eine Natureigenschaft der Waren, wie Farbe, Geruch oder Festigkeit. Marx zeigt in der Wertformanalyse des ersten Kapitels des Kapital (MEW 23) nun unter anderem, dass der Wert eine soziale Eigenschaft ist, die den Produkten nur quasi-natürlich anhaftet. Wert nämlich erscheint – im einfachsten Fall – erst im Verhältnis zweier Waren, in der Form des Tauschwerts. Ware A ist Ware B wert – diese Beziehung bildet den einfachsten denkbaren Wertausdruck, die »einfache Wertform« in der Terminologie von Marx. Eine einzelne Ware hat isoliert betrachtet zwar eine Farbe, wert ist sie hingegen nichts, als Wertding ist sie nicht denkmöglich. Damit unterscheidet sich die Werteigenschaft von allen natürlichen und sozialen Eigenschaften: Ein Auto ist nicht rot, nur weil es neben einem anderen Auto steht – Farbe kommt den Gegenständen unabhängig von jeglichem Verhältnis zu. Ein Untergebener wiederum ist Untergebener bloß im Verhältnis zu seinem Vorgesetzten – ein Einzelner hingegen nicht. »Bei der Wertgegenständlichkeit scheint nun aber eine Eigenschaft, die nur innerhalb einer Beziehung existiert, eine gegenständliche Eigenschaft der Dinge zu sein, die ihnen auch außerhalb dieser Beziehung zukommt« (Heinrich, 2004, S. 52). Marx spricht daher auch von einer »gespenstigen Gegenständlichkeit« des Werts (MEW 23, S. 52) sowie vom »Fetischcharakter der Ware« (a. a. O., S. 85). Der Fetischismus ist nicht auf die Warenform beschränkt, sondern Merkmal aller ökonomischen Formbestimmungen, die allesamt Ausdruck davon sind, dass gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen « (a. a. O., S. 86) annehmen. Der Warenproduzierenden »eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie« – und das ist zentrales Moment des modernen Fetischismus – »die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren« (a. a. O., S. 89).

Gesellschaftliche Substanz

Im Mittelpunkt einer kritischen Werttheorie steht die Frage, was die Konstitution der Gesellschaft über Warentausch für die Form der gesellschaftlichen Gesamtarbeit bedeutet; wie sich die Privatarbeiten auf die Produktionszweige verteilen, wie die Privatarbeiten also zu begreifen sind als Glieder einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit – denn dies drückt sich in der Wertgegenständlichkeit der Produkte aus (vgl. Heinrich, 2001a, S. 208ff.; 2004, S. 42ff.). Zwar stellen die meist von Frauen ausgeübten Tätigkeiten im Bereich des »Häuslichen« die Grundlage aller anderen Arbeiten her, indem sie die Reproduktion der Ware Arbeitskraft sichern. Im Unterschied zum Wert normaler Waren, in den der Wert der Produktionsmittel ebenso eingeht wie der Neuwert, den die Arbeit zusetzt, ergibt sich der Wert der »besonderen Ware Arbeitskraft« allerdings lediglich aus dem Wert der Lebensmittel und einem »historisch-moralischen Element« (Karl Marx). Reproduktionsarbeit gilt notwendigerweise nicht als wertbildend (vgl. Heinrich, 2001a, S. 260ff.; 2004, S. 92) und daher auch nicht als gesellschaftliche Arbeit, sondern verschwindet gewissermaßen in einem »Schattenreich«. Sie schafft keinen Mehrwert und ist zwar Voraussetzung, aber nicht Teil des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses. Die Wertvergesellschaftung ignoriert damit strukturell einen weiten Bereich von Tätigkeiten – laut Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes zwei Drittel der gesellschaftlichen Gesamtarbeit (Möller, 1998) –, die erst eine Überwindung von Warentausch und Wert aus ihrem »Schattendasein« befreien kann (mitsamt seinen geschlechterspezifischen Zuschreibungen; siehe dazu unten). Die praktisch vollzogene Abstraktion von jedweder qualitativen Differenz der Produkte innerhalb des Warentauschs impliziert, dass dieselben nur mehr als Inkorporationen abstrakt gleicher Arbeit, abstrakter Arbeit also gelten. Abstrakte Arbeit ist nicht eine besondere Art von Arbeit (etwa monotoner Fließbandarbeit), sondern Abstraktion von der Ungleichheit der konkreten Arbeit (Tischlern, Schreiben, Unterrichten usw.) der privat Produzierenden im Tausch. Konkrete Arbeit produziert Gebrauchswert, abstrakte Arbeit hingegen bildet die gesellschaftliche »Substanz« des Werts. Folglich bestimmt die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige abstrakte Arbeitszeit, die erst und allein im Tausch »sichtbar« wird – im Unterschied zur konkreten Arbeitszeit konkreter Arbeit, die mit der Uhr messbar ist – die Wertgröße einer Ware.7 Mit der von der Konkurrenz um den Mehrwert getriebenen Entwicklung der Produktivkraft ist damit ein Standard für alle Warenproduzierenden gesetzt, den sie auf Gedeih und Verderb halten müssen. Benötigen sie für die Herstellung einer Ware länger als dieser Standard vorgibt, gilt dieses Mehr an Arbeit nicht als gesellschaftlich und bildet keinen Wert; ein Tisch von bestimmter Qualität und Proportion etwa ist nicht deshalb mehr wert, weil er in drei Tagen statt in der üblichen halben Stunde produziert wurde.

Eine Geldwirtschaft ohne Geld?

Die akademische Ökonomie leitet Geld pragmatisch und historisch aus dem Tausch bzw. der Arbeitsteilung ab (Rakowitz, 2000, S. 121ff.). Geld würde demnach einen geschichtlich vorgängigen Naturaltausch unter den Bedingungen fortgeschrittener Arbeitsteilung lediglich vereinfachen – eine Ansicht, die Marx mit den Worten ironisiert, Geld sei in diesem Verständnis nichts anderes als ein »pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel« (MEW 13, S. 36f.).

Die Wertformanalyse hingegen zeigt, dass ein System allgemeinen Warentauschs nur geldvermittelt denkbar ist. Der innere Widerspruch, der »ideelle Doppelcharakter« der isoliert betrachteten Ware, sowohl Gebrauchswert als auch Wert zu sein, löst sich begrifflich auf erst mit der materiellen Verdopplung in Ware und Geld. Ware erscheint dann als Gebrauchswert, Geld hingegen als inkarnierter Wert, selbstständiges Dasein des Werts, als allgemeines Äquivalent, auf das sich alle Waren als Werte und damit auch aufeinander beziehen lassen. Geld tritt nicht der Vereinfachung des Warentauschs wegen äußerlich hinzu, sondern ist konstitutiv für den gesellschaftlichen Zusammenhang vereinzelter Warenproduzierender. Folglich ist unabhängig vom Geld weder eine Bestimmung der Wertgröße der Waren noch überhaupt ein allgemeiner Warenaustausch möglich. In welche Widersprüche sich der Versuch verstrickt, Wertgrößen unabhängig von Geld und Tausch bestimmen zu wollen, zeigt das vom Sozialisten Pierre Joseph Proudhon entwickelte Modell einer Stundenzettelökonomie, mit dem er den Kapitalismus zu überwinden glaubte. Dabei sollen die Arbeitszeiten aller privat Produzierenden auf Arbeitsstundenzetteln vermerkt werden, die eine Tauschbank verwaltet. Mittels der Stundenzettel sollten die jeweils benötigten Waren »zu gleichen Werten« eingetauscht werden können. Diese Tauschbank hätte allerdings, wie Marx feststellt, unlösbare Aufgaben: sie müsste den Tauschwert aller Waren auf Basis der Arbeitszeit authentisch fixieren; dazu müsste sie die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit für alle Waren bestimmen (andernfalls würden die Langsamsten die wertvollsten Waren produzieren); damit alle Produzierenden auf gleichem Produktivitätsniveau arbeiten könnten, müsste sie die Arbeitsmittel verteilen; dies wäre auch vonnöten, um die Produktivkraftentwicklung und damit die Wertverhältnisse der Waren kontrollieren zu können; um die Stundenzettel konvertibel zu machen, müsste sie auch die Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiedenen Produktionszweige organisieren; damit die Bedürfnisse der Arbeitenden im Austausch befriedigt würden, müsste sie auch diese ermitteln und abgleichen. (vgl. Reichelt, 2001, S. 190f.; Rakowitz, 2000, S. 80ff.). Die Tauschbank entpuppt sich so, ganz im Gegensatz zur Intention von Proudhon, als ein Moloch vom Schlage des realsozialistischen Staatskapitalisten. Würde eine »Tauschbank« hingegen nur die Buchführung der gesellschaftlichen Produktion erledigen, so gäbe es weder einen individuellen Austausch noch eine quantitative »Bewertung« bzw. Wertgegenständlichkeit der Produkte (Rakowitz, a. a. O.).

Der wirkliche Gott

Der Wert, dessen stofflicher Träger die Ware ist, stellt den gesellschaftlichen Zusammenhang als einen Zusammenhang von Dingen her. In einer Gesellschaft, die für ihren Bedarf in privater Form produziert, ist die Vermittlung der Beziehungen der Personen durch Sachen notwendiges Resultat. Die real existierenden gesellschaftlichen Beziehungen werden nicht bewusst als solche hergestellt, die wechselseitige materielle Abhängigkeit wird nicht auf direkt-kommunikativem Wege reguliert, der gesellschaftliche Stoffwechsel nicht auf gesellschaftlicher Ebene kontrolliert. Gesellschaftlichkeit erhält eine von ihr unterschiedene, sachliche Gestalt im Geld und wird solcherart in die Produkte projiziert. Insofern die sozialen Beziehungen ein dingliches »Eigenleben« annehmen, gerade so als existierten sie außerhalb der Sozietät, erscheinen sie in der Form von – logisch unmöglichen, in diesem Sinne real-absurden, verkehrten – Ding-Beziehungen. Rückwirkend beherrscht die vergegenständlichte Projektion, als wären die Produkte von Geisterhand beseelt, das gesellschaftliche Handeln in Gestalt von Sachzwängen, versachlichten sozialen Zwängen. Die Stichwörter dieses allgegenwärtigen Phänomens sind wohlbekannt: Wirtschaft muss wachsen; Unternehmen müssen Profit machen; zum Leben braucht man Geld; wer nicht konkurrenzfähig ist, muss weichen usw. Anders als vor- und nicht-moderne Fetischformen (etwa in Gestalt der Religion) entscheiden gesellschaftliche Sachzwänge dieser Art buchstäblich und unmittelbar über Tod und Leben.

Wo sich der Sozialzusammenhang über Geld und Ware, also über den Austausch von Wertgleichem, Äquivalentem herstellt, ist Mehrwert bzw. Mehrgeld (Profit) dominanter Produktionszweck, Geld als Mittel des gesellschaftlichen Stoffwechsels zugleich selbst Zweck der produktiven Aktion. »Dass dieser Mittler nun zum wirklichen Gott wird, ist klar, denn der Mittler ist die wirkliche Macht über das, womit er mich vermittelt. Sein Kultus wird zum Selbstzweck. Die Gegenstände, getrennt von diesem Mittler, haben ihren Wert verloren. Also nur, insofern sie ihn repräsentieren, haben sie Wert, während es ursprünglich schien, dass er nur Wert hätte, so weit er sie repräsentierte. Diese Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses ist notwendig« (MEW 40, 446). Notwendig ist diese Umkehrung, weil Reichtum und Individuum als gesellschaftliche nur gelten in der Form von Geld und Geldbesitzerin, nicht als konkretes Produkt und Individuum. Geld nun unterscheidet sich von sich selbst allein der Menge nach. Wo Geld Produktionszweck ist, existiert deshalb der Imperativ zur Mehrgeld-, das heißt Profitproduktion. Aus 100 € kann man 1000 € machen und so fort; mit 100 € 100 € zu produzieren, macht hingegen keinen Sinn. Das Profitmotiv schließlich ist endlos, denn an sich selbst findet das Geld als Produktionszweck keine Grenze. Diese »innere Natur« des Kapitals macht sich den einzelnen Kapitalisten gegenüber geltend als äußerer Zwang der Konkurrenz. Damit nun sind wir bei einem ersten Begriff des Kapitals angelangt: die rast- und maßlose, verselbstständigte, auf sich selbst bezogene Verwertung des Werts. Sofern wir das Kapital aus der Perspektive der Zirkulationssphäre, des Warentauschs betrachten und vom Produktionsprozess der Waren einmal begrifflich absehen, erscheint es als ein »automatisches Subjekt« (MEW 23, S. 169). Kapital also ist kein Ding, sondern die gesellschaftliche Form der Produktion voneinander scheinbar unabhängig Produzierender. Anders gesagt: Kapital ist die Projektion des gesellschaftlichen Lebens in die Produkte der Gesellschaft.

Die Masken der subjektlosen Herrschaft

Im Unterschied zu den überwiegend persönlich-konkreten Abhängigkeitsverhältnissen des Feudalismus dominieren in der bürgerlichen Gesellschaftsformation Abhängigkeiten versachlichten, unpersönlichen, abstrakten Charakters. »Das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts als die den scheinbar unabhängigen Individuen selbstständig gegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d. h. ihre ihnen selbst gegenüber verselbstständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen«, weshalb »diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen auch so (erscheinen) (…), dass die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind« (MEW 1974, S. 82).8 Es handelt sich hierbei nicht um verständige Abstraktionen in der Art von Gattungsbegriffen (Apfel, Birne und Banane sind alle Obst), sondern um materiell wirksame, durch eine bestimmte soziale Praxis bedingte Real-Abstraktionen (Alfred Sohn-Rethel).

Ausbeutung erfolgt als geldvermittelte nunmehr in fetischisierter Form: Der Lohn erscheint als Preis der Arbeit, während er doch Preis der Ware Arbeitskraft ist. Diese verrichtet – neben der zur Deckung ihrer Reproduktionskosten notwendigen – noch unbezahlte Mehrarbeit, die den Mehrwert produziert, der sich im Profit darstellt. Der Fetischismus der ökonomischen Formen verschleiert allerdings nicht bloß ein im Grunde feudales Ausbeutungs- und Klassenverhältnis, ist nicht moderner »Oberflächenschleier« eines historischen Kontinuums von Klassenkämpfen. Die Mystifizierung der Ausbeutung ist lediglich ein Aspekt des Fetischismus; in dieser Hinsicht ist er für den Kapitalismus nicht spezifisch, denn auch religiös-fetischistische Ordnungen zeigen dieses Verschleierungsmoment. Zentrale Bestimmung des modernen Fetischismus ist vielmehr die allgemeine Verselbstständigung der sozialen Beziehungen auf Basis einer realen, materiell- objektiv und nicht bloß ideell-subjektiv wirksamen Verkehrung. Diese Verkehrung beinhaltet die Verselbstständigung des Ausbeutungsprozesses gegenüber den Kapitalisten, die ihn exekutieren. Indem die Produktion sich selbst zum einzigen Zweck gerät, büßt Ausbeutung in kapitalistischer Form das rationale Moment vor-kapitalistischer Herrschaft ein. Im Vergleich mit einem feudalen Herrscher ist das sinnliche Leben eines durchschnittlichen Kapitalisten oder Managers deshalb geradezu armselig, lassen sie doch nicht primär um ihres Genusses, sondern um der Produktion willen produzieren.

Die Konstitution und das Handeln sozialer Akteure behandelt die Kritik der politischen Ökonomie bloß insoweit, als diese »Personifikation ökonomischer Kategorien, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen« (MEW 23, S. 16) darstellen. »Die ökonomischen Charaktermasken der Personen« sind dabei »nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse (…), als deren Träger sie sich gegenübertreten« (a. a. O., S. 100), schein-persönliche Repräsentation gesellschaftlich gültiger Abstraktionen also. In diesem Sinn ist der einzelne Kapitalist »bewusster Träger« der Wertbewegung, und »nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital« (a. a. O., S. 167). Der Verkehrung der sozialen in sachliche Beziehungen entspricht die Personifikation der sachlichen Zwänge.

Als mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital organisiert der Kapitalist den Verwertungsprozess, die Auspressung des Mehrwerts, der sich in Mehrgeld darstellt als fetischisierte, schein-gegenständliche Form unbezahlter Mehrarbeit. Die in einem doppelten zynisch-realen Sinne »freien Lohnarbeitenden« (vgl. a. a. O., S. 183) – einerseits frei von Mitteln, ihre Subsistenz zu sichern und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen andererseits – fügen sich unter dem sachlichen Zwang der Verhältnisse zum Selbstverkauf dem Kommando des personifizierten Kapitals, das alles daran setzt, soviel Mehrarbeit wie möglich auszupressen. Das direkte Herrschaftsverhältnis in der Produktion ist zwar von der indirekten Herrschaft der Wertform durchaus unterschieden, doch ist es kein persönliches, insoweit der Kapitalist lediglich als Repräsentant des Kapitals agiert. Die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verletzt dies wohlgemerkt in keiner Weise. Vielmehr ist »der Austausch von Tauschwerten (…) die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben (…)« (Marx, 1974, S. 156). Denn der Kapitalist bezahlt den Tauschwert der Ware Arbeitskraft wie jeder anderen auch und erhält dafür das Recht, ihren Gebrauchswert, der in der Produktion von Tauschwert besteht, zu konsumieren.

Markt und Kapital

Insofern die Marxsche Wert- und Kapitaltheorie den Nachweis führt, dass der Formenkomplex Wert-Ware-Geld-Kapital den gesellschaftlichen Zusammenhang in einer verselbstständigten, gegen konkrete Produktionszwecke und -inhalte gleichgültigen, und deshalb destruktiven Weise herstellt, entzieht sie Vorstellungen eines »sozialen« oder »ökologischen Kapitalismus « ebenso wie dem Konzept einer »(öko)sozialen Marktwirtschaft« die theoretische Grundlage. Kurz gefasst: Die Übel des Kapitalismus abschaffen und den Markt – zumal als bestimmende Beziehungsform – erhalten zu wollen ist ein unmögliches Projekt.

Zwar hat es Märkte auch in vormodernen Gesellschaften gegeben, doch vorrangig an den »Rändern der Gemeinwesen« (Karl Marx), dort also, wo Menschen begannen, einander als Fremde zu betrachten. Der verallgemeinerte Tausch ist gewissermaßen eine Verallgemeinerung des Einander-Fremd-Seins. Die Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels über den Tausch widerspricht einer Koordination desselben auf Basis einer bewussten Kollektivität. Denn der Tausch setzt den Menschen als isoliertes Individuum ebenso wie den gesellschaftlichen Reichtum in Form des Privateigentums voraus. Sofern Menschen kooperieren – in der Familie, in der Fabrik, im Rahmen der traditionellen Agrargemeinschaft, in den mannigfachen Bereichen des Ehrenamts, der Wissenschaft, aber auch in der Freien Software-Produktion –, existiert wohl ein Wechsel von Stoffen und von Informationen zwischen den Individuen, jedoch es existiert kein Tausch (vgl. Schandl, 1999). Grundsätzlich unterscheiden sich vormoderne Gesellschaften mit Märkten von der kapitalistischen Marktgesellschaft (Karl Polanyi) dadurch, dass erstere weder einen Arbeitsmarkt noch eine umfassende Konkurrenz, noch auch eine freie Verwendung der Produktionsmittel kennen. 9 Die bewusste Koordination des gesellschaftlichen Stoff- und Energieflusses jedenfalls kann schwerlich auf vor- und nichtmoderne Marktformen als Alternative zum modernen Markt zurückgreifen. Denn jene bewerkstelligen die stofflich und geographisch eng begrenzte Vermittlung von isolierten Subsistenzwirtschaften, die keine wesentlichen direkt-kooperativen Bezüge aufweisen. Als Medium einer gesamtgesellschaftlichen Koordination scheiden sie damit aus.

Der Wunsch nach einer »Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapital« jedoch ist eine breitenwirksame Vorstellung, die nicht erst die Globalisierungskritik aus der Taufe gehoben hat. So will die auf den Anarcholiberalen Silvio Gesell zurückgehende und von Proudhon beeinflusste Freiwirtschaft den Kapitalismus überwinden, indem das Geld vom Zins »befreit« wird auf dem Wege einer »Degradation des Geldes« zur »verderblichen Ware«.10 Ähnlich der Ökofeminismus, sofern er »lokale Märkte in Frauenhand« als emanzipatorische Leitvorstellung propagiert und damit voraussetzt, dass Geld nicht auch als Kapital, sondern bloß als »pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel« funktioniert – es ist kein Zufall, dass sich der freiwirtschaftliche und der ökofeministische Diskurs in dieser Frage überlappen. Die Widersprüche der Stundenzettelökonomie sind auch in Hinblick auf die in diesen Zusammenhängen propagierten Tauschkreis- und Lokalmarktmodelle lehrreich, sofern diese den Tausch zu gleichen, von der Arbeitszeit bestimmten Werten garantieren wollen bzw. voraussetzen. Solche Modelle sind praktisch wenig mehr als Notfallsökonomien auf niedrigem materiellen Niveau oder aber begrenzte Experimente mit enger Perspektive. Denn sobald kooperative Warenproduktion (Fabrik, Betrieb) existieren würde, wäre entweder die Bezahlung der Arbeitskraft vonnöten, also der »Austausch« zwischen Kapital und Arbeit, folglich die Aneignung unbezahlter Mehrarbeit, der Zwang zu Mehrgeldproduktion, Konkurrenz usw. gesetzt; oder aber ein despotischer Apparat in der Art der Proudhonschen Tauschbank.11

Das System der Trennungen

Historisch betrachtet finden wir Ware, Geld und Wertbewegung in verallgemeinerter – genauer: sich fortlaufend verallgemeinernder – Form erst ab jener Epoche, die gemeinhin als jene der industriellen Revolution bezeichnet wird. Dabei handelte es sich im Kern freilich nicht um eine technische Revolutionierung, sondern eine tiefgreifende soziale Umwälzung. Kapitalistische Produktion gründet sich historisch auf der Auslöschung von Subsistenzproduktion, der Herauslösung der Individuen aus traditionellen Sozialbeziehungen, ihre – geschlechterspezifisch segmentierte – Integration in das System von Kauf und Verkauf, die Kommodifizierung der menschlichen Lebenszeit in Form der Arbeit.

Die Durchsetzung des Kapitals als bestimmendes gesellschaftliches Verhältnis ist ein umfassender Prozess der Trennung. Dieser Prozess ist dreifach dimensioniert. Es handelt sich: erstens um die Trennung der Individuen voneinander – da sie sich nun nicht mehr direkt, sondern über den Umweg von Kauf und Verkauf, als »Hüterinnen ihrer Waren und Geldbeträge «, aufeinander also erst vermittelst des Bezugs auf ein außerhalb ihrer existierendes Drittes beziehen; zweitens die (real-paradoxe) Trennung von sich selbst – da sie sich zu sich selbst wie zu außerhalb ihrer selbst befindlichen Objekten verhalten, wenn sie Teile ihrer Lebenszeit und -energie auf dem Arbeitsmarkt verkaufen und folglich den Lebenszusammenhang in Arbeit und Freizeit, in Öffentlichkeit und Privatheit separieren; drittens die Trennung von ihren Lebens- und Produktionsmitteln – da sie erstere gegen Geld erwerben und sich dem Kommando der Besitzer zweiterer unterwerfen müssen, um zu Geldeinkommen zu gelangen.

Verallgemeinerte Trennung der Individuen und Privatisierung der Produktion für einen gesellschaftlichen Bedarf begründen zugleich einen neuen sozialen Zusammenhang, der sich über das Geld, die dingliche oder symbolische Darstellungsform des Werts, herstellt. Genau diese widersprüchliche Einheit von Trennung und Vermittlung charakterisiert die bürgerlich-kapitalistischen Beziehungen: Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels in einer fetischistischen Form, über eine Objektivation, oder, noch einmal anders gesagt: über eine vergegenständlichte Projektion. Die Gesellschaft atomisiert sich zum einen und zum anderen vereinen sich die atomisierten Individuen über die Welt der Waren und des Geldes.

Warenproduzierendes Patriarchat

Die Kritik der politischen Ökonomie ist weder Gesellschaftstheorie noch geschichtliche Untersuchung. Allerdings findet eine Perspektive, die das Gesamt der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick bekommen und in Beziehung setzen will, an ihr die notwendigen begrifflichen Ausgangspunkte. Dies deshalb, weil »die Ökonomie« als Kern der bürgerlichen Verhältnisse erscheint, insofern der Wert eine abstrakt-allgemeine Vermittlung der Individuen konstituiert. Dass die Sphäre der Wertverwertung bloß abhängiges Teilmoment dieser Verhältnisse ist, zeigt sich allerdings bereits an der Kategorie des Werts selbst. Denn »der Grundwiderspruch der Wertvergesellschaftung von Stoff (Inhalt, Natur) und Form (abstrakter Wert) ist geschlecherspezifisch bestimmt« (Scholz, 1992, S. 23).

Was in der abstrakten Form des Werts an Konkret-Sinnlichem nicht aufgeht wird demnach abgespalten und als weiblich halluziniert. Häusliche Tätigkeiten, »Liebe«, Sinnlichkeit, »Emotionalität« und Pflege als unverzichtbare Grundlagen sowohl der Reproduktion des Kapitals als auch der Subjekte fallen damit in einen Privatbereich, der den Frauen zugewiesen wird und der als »weiblich« gilt. Die Wert-Abspaltung (Scholz, 1992; 2000) erweist sich als ein übergreifendes gesellschaftliches Verhältnis, innerhalb dessen die Form der Wertvergesellschaftung verwiesen bleibt auf den von ihr selbst konstituierten »Schatten«, auf ihr »eigenes Anderes«, das sie zugleich diskriminiert.

»Frau« und »Mann« sind in dieser Hinsicht »sexuelle Charaktermasken« (Robert Kurz), Bündelungen kollektiver Zuschreibungen von bestimmten Qualitäten (Gender) an binär gefasste biologische Geschlechter (Sex). Gender ist in diesem Sinn eine weitere Fetischform, in der gesellschaftliche Verhältnisse in eine scheinbare Natureigenschaft der Personen verkehrt sind. Allerdings erlaubt die patriarchale Heterosexualität prinzipiell ein flexibles Changieren und die Neukomposition von Rollenfragmenten und Gender-Attributen – ein Phänomen, das die postmoderne Verfasstheit des Geschlechterverhältnisses kennzeichnet, ohne allerdings der fortdauernden Benachteiligung von biologischen Frauen zu widersprechen (vgl. Scholz, 2000). Mit der Auflösung der starren Rollenbilder des Fordismus und der rechtlichen Gleichstellung der Frauen bildet sich vor allem in den kapitalistischen Zentren tendenziell ein »Ein-Geschlecht-Modell« heraus (vgl. Scholz, 2005 u. a.; vgl. Kurz, 2003b). Männer müssen nun »weibliche Qualitäten« (emotionale, kommunikative, »kultur-kreative« und Team-Fähigkeiten sowie Flexibilität) entwickeln, während Frauen beruflich aufschließen, sofern sie sich strukturell »männliche«, konkurrenzistische Fähigkeiten aneignen und mit »weiblichen Qualitäten« nun ökonomisch punkten können. Für die Mehrzahl der Frauen, die weiterhin für reproduktive Tätigkeiten zuständig gemacht werden und die »weibliche Sorgearbeit« nicht an weibliche Hausarbeitskräfte (meist Migrantinnen) auslagern können, ist dieser Spagat freilich kaum zu leisten. Darüber hinaus bedeutet das »Ein-Geschlecht-Modell« eine Verschärfung sozio-psychischer Krisenphänomene.

Der von der Konkurrenz geschützte »häusliche Bereich« der »weiblichen Sorgearbeit«, in dem eine »Logik der Zeitverausgabung« (Frigga Haug) gilt, erodiert. Im Gegenzug nimmt die ökonomische Zeitsparlogik »weibliche Qualitäten« in Beschlag, die sie betriebswirtschaftlich formiert (dazu dienen u. a. »Gefühlsmanagement«, »Persönlichkeitsentwicklung « usw.) und (ver)nutzt. Damit steigen die psychischen Belastungen der »individualisierten Individuen«, es verschlechtern sich die Sozialisationsbedingungen der Kinder und zugleich erodieren die (repressiven) Grundlagen von tragfähigen erotischen Beziehungen unter bürgerlichkapitalistischen Verhältnissen.

Der Widerspruch zwischen Integration und Trennung

Krise

Im historisch spezifischen Widerspruch einer arbeitsteiligen Privatproduktion, zwischen umfassender Integration der Individuen über die Wertform also und ihrer gleichzeitigen Trennung als Warensubjekte liegt die Notwendigkeit von Störungen und Brüchen in der Reproduktion der sozialen Beziehungen begründet.12 Aus der gegenläufigen Verselbstständigung von Momenten der erweiterten Reproduktion des Kapitals (seiner Akkumulation) resultieren ökonomische Krisen. Kauf und Verkauf, Produktion und Konsumtion bilden zusammengehörige Momente der Reproduktion des Kapitals und damit der Herstellung von Gesellschaft unter seiner Herrschaft. Aufgrund der Eigendynamik und Verselbstständigung dieser Momente kommt es immer wieder zu Ungleichgewichten, zu Unterbrechungen und Störungen der Reproduktion des Kapitals, also der Produktion von Profit.13 Die Krise selbst bereinigt diese Ungleichgewichte auf gewaltsame Weise, indem Kapital vernichtet wird. Allgemein gesagt: sie stellt den inneren Zusammenhang des äußerlich Selbstständigen immer wieder aufs Neue her. Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse (Akkumulationsdynamik, Natur- und Geschlechterverhältnisse, politische, institutionelle und symbolisch-kulturelle Formen usw.) ist ebenso wenig bewusst koordiniert wie die Reproduktion des Kapitals. Gegenläufige Entwicklungen dieser miteinander verbundenen, jedoch gegeneinander verselbstständigten Verhältnisse bedingen daher gesellschaftliche Krisen. Im Unterschied zu »bloß« ökonomischen, »kleinen« Krisen folgt einer »großen«, gesellschaftlichen Krise nicht notwendigerweise Stabilität (vgl. Lipietz in: Becker, 2002, S. 92). Eine stabile Regulationsweise, die erfolgreiche Prozessierung der Widersprüche und eine Kohärenz gesellschaftlicher Verhältnisse ist vielmehr historische Fundsache (Alain Lipietz). Sie kann sich etablieren – oder auch nicht.

Die Unselbstständigkeit von Kapital und Staat

Freilich existiert das Kapital nicht aus sich selbst heraus und für sich allein, sondern ist auf eine Reihe gesellschaftlicher »Rahmenbedingungen« angewiesen. 14 Kapitalistische Produktion benötigt erstens den Staat zur Herstellung bzw. Sicherung der nicht-profitablen Produktionsgrundlagen, also der geschlechtsspezfischen Funktionsteilung,15 von Teilen der Infrastruktur u. a. Darüber hinaus kanalisiert oder unterdrückt der Staat sozialen Widerstand und ist Akteur wie Terrain zur Sicherung des kapitalkonformen Ausgleichs sozialer Kräfte. Das Kapital ist zweitens auf zivilgesellschaftliche Institutionen (Medienunternehmen, reformistische Gewerkschaften, Unternehmerverbände usw.) zur Sicherung seiner Hegemonie angewiesen. Drittens benötigt es die systemkonforme Eigenleistung der Individuen. Wir müssen Kapitalismus in einer bestimmten Weise wollen, damit er existieren kann. Und wir »wollen« gewissermaßen zwangsläufig: Ohne Arbeit kein Geld und ohne Geld kein Einkauf. Diese Eigenleistung äußert sich neben der praktischen Anerkennung kapitalistischer Spielregeln auch in ideologischen Formen, der mehr oder minder bewussten ideellen Affirmation der Verhältnisse.

Ebenso wie das Kapital ist auch der Staat als eine Fetischform zu begreifen, ein dinglich erscheinender Reflex von sozialen Beziehungen, die in einer historisch spezifischen Weise widersprüchlich sind. Ähnlich wie im Fall des Werts changiert die bürgerliche Theoriebildung zwischen subjektivistischen und objektivistischen Staatstheorien. Während erstere den Staat als ein Produkt gesellschaftlicher Übereinkunft denken, missverstehen zweitere ihn als ein Objekt. Diese Position will Staat als ein der Gesellschaft äußerliches Steuerungszentrum verstehen und sieht darin ein neutrales Instrument, das einem beliebigen Interesse dienstbar gemacht werden kann (Poulantzas, 2002, S. 157ff.).16 Tatsächlich ist der kapitalistische Staat – und nur unter kapitalistischen Verhältnissen existiert Staat im engen Sinn als ein von Gesellschaft unterschiedener Herrschaftsapparat – »als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen« zu fassen (Poulantzas, 2002, S. 159; kursiv A. E.). Dies bedeutet, dass der Staat kein »monolithischer Block«, sondern von inneren Widersprüchen durchzogen ist (a. a. O., S. 163), staatliche Politik somit »als Resultante der in die Struktur des Staates (…) selbst eingeschriebenen Klassenwidersprüche« verstanden werden muss (a. a. O.).17 Er ist sowohl strategisches Feld als auch »ein Ort und Zentrum der Machtausübung, besitzt selbst jedoch keine eigene Macht« (a. a. O., S. 179), denn diese kann nur aus gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren und nicht aus ihren Objektivationen.

Die Fetischform Staat ist Resultat einer zur Wertform analogen Verkehrung gesellschaftlicher in sachliche, schein-objektive Verhältnisse: »Die Macht des Staates stammt also aus der Gesellschaft (…), während es gerade Inbegriff der Staatsform ist, diese Macht zu verkehren und der Gesellschaft als eine ihr fremde Macht entgegenzustellen« (Görg, 2003, S. 162). Wie die Geldform den allgemeinen, abstrakten Reichtum in besonderer Gestalt dar- und der Warenwelt gegenüberstellt, so existiert im Staat das gesellschaftlich Allgemeine als ein von der Gesellschaft Abgesondertes. Die bürgerliche Gesellschaft nämlich ist aufgrund ihrer Spaltung nach Konkurrenz und Klasse nicht zur Bestimmung eines konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen fähig (vgl. a. a. O., S. 160). Deutlich wird der historische Charakter der Staatsform im Vergleich mit feudalen Verhältnissen. Dort existiert eine Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre nicht, denn die Aneignung des Arbeitsprodukts erfolgt durch persönliche Herrschaft und in stofflicher Form, womit sich politischer Zwang nicht von ökonomischer Herrschaft unterscheidet.

Staat bzw. Politik und Wert bzw. Ökonomie bilden die beiden Grundformen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. Sie stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis, und zwar insofern, als der Staat dazu tendiert, die Bewegung des Kapitals einzuschränken, andererseits aber gerade von der fiskalischen Abschöpfung des Mehrwerts abhängig bleibt. Für emanzipative Praxis bedeutet dies: dass der Staat immanenter Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise und als solcher zwar Adressat emanzipativer Kämpfe ist, jedoch nicht Akteur einer Überwindung dieser Produktionsweise sein kann. Überwindung des Kapitalismus ist nur zugleich mit der Überwindung der Staatsform denkbar.

Die Krise des Fordismus

Sofern die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft temporär stabil bleibt, wirkt eine Vielzahl an Bedingungen kohärent zusammen. Dieser Bedingungszusammenhang ist hochgradig prekär, wie gerade auch die gegenwärtigen Entwicklungen illustrieren. Sind doch die letzten dreißig Jahre von der krisenhaften Auflösung des fordistischen Kapitalismus geprägt, für den ein relativ stabiles Regime der produktiven Akkumulation und eine Regulationsweise der gesellschaftlichen Widersprüche durch Reallohnsteigerungen, Binnenmarktwachstum, den Ausbau von Sozialstaatlichkeit und korporatistischer Strukturen charakteristisch war (vgl. Hirsch, 2002, S. 84ff.). Dieser Krisenprozess begann Anfang der 1970er Jahre. Nachlassende und sich verteuernde Produktivitätszuwächse, daraus resultierende Arbeitslosigkeit, Überkapazitäten in der Produktion, Ölpreissteigerungen und der Einbruch der US-Hegemonie aufgrund sich vertiefender Widersprüche zwischen den nationalen Akkumulationsregimen bildeten »objektive Krisentendenzen«. Damit stand teilweise auch eine breite soziale Rebellion (1968er-Bewegung, Neue Soziale Bewegungen, Arbeitskämpfe) in Verbindung. Sie konstituierte die kollektive Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krise wesentlich mit, beschleunigte auf diese Weise den Auflösungsprozess der alten Regulationsweise und beeinflusste ihn selektiv mit ihren Themen (Feminismus, Ökologie, Autonomie, Kreativität). Dieser Krisenprozess vertieft sich noch mit dem Rationalisierungsschub der Mikroelektronik ab den 1980er Jahren und dem anhaltenden Anstieg der Kapitalintensität, der warenproduktive Investitionen fortlaufend verteuert. Der Erhalt von Konkurrenzfähigkeit wird massiv erschwert, während zugleich ein Aufholen der Verlierer immer schwieriger wird.

Perspektiven der Emanzipation

Grenzen und Möglichkeiten

Die fordistische Regulationsweise war repressiv und rigide. Sie zeichnete sich allerdings durch eine relative Stabilität und hohe Akkumulationsraten aus und konnte so eine innerkapitalistische Perspektive von fortschreitender Integration in Warengesellschaft und Rechtsbeziehung bieten. Im Zuge des postfordistischen Krisenprozesses lösen sich diese Grundlagen einer »relativen Emanzipation« auf. Ein stabiles Akkumulationsregime ist nicht in Sicht, das Kapital weicht auf die globalisierten Finanzmärkte aus, die Akkumulation fiktiven Kapitals18 erzeugt neue Krisenpotenziale in globaler Dimension. Mit dem Rückgang der produktiven Akkumulation und der Transnationalisierung des Kapitals verliert der Staat seine finanziellen und ideologischen Möglichkeiten zur Befriedung sozialer Konflikte ebenso wie die fordistischen Spielräume zur Regulierung von Produktion und Verteilung. Das gilt insbesondere für die Regionen einer gescheiterten »nachholenden Modernisierung«, die schon frühzeitig auf dem Weg der Durchkapitalisierung der Gesellschaft stecken geblieben sind und der Staat hier mangels Einnahmen regelrecht zerfällt. Der Tendenz nach ist dies auch im globalen Nordwesten zu beobachten, wenn auch noch auf höherem »zivilisatorischen Niveau«. Insoweit es den Einzelnen immer schwerer fällt, sich in der Form der Ware zu reproduzieren und materielle Gratifikationen Stück für Stück zurückgenommen werden, steigt auch das Systemrisiko sozialer Widerständigkeiten. Um die Warenform zu sichern, verstärkt der Staat die Repression durch direkte Gewalt und Ausgrenzung. Diese Tendenz zur Entformung der bürgerlich-patriarchalen Verhältnisse ist zuerst einmal eine unmittelbare Bedrohung der gesellschaftlichen Reproduktion, die sich darin vollzieht.

Denn die Krise ist unter kapitalistischen Vorzeichen selbst noch eine Fetischform; sie erscheint prima vista als katastrophisch-selbstläufiger Naturprozess und nicht als Resultat historisch spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Bedrohungspotenzial dieser Entformungsprozesse ist daher keineswegs gering (vgl. z. B. Kurz, 2003a). Dies zeigt sich auf mehreren Ebenen. Erstens neigen die Warensubjekte in der Krise dazu, konkurrenzistisches Verhalten fortzusetzen. Wo die Konkurrenz um Arbeitsplätze und Profit in den so genannten zivilisierten Formen von Recht und Verkauf nicht mehr möglich ist, mündet Krise deshalb der Tendenz nach in eine – an den globalisierten Kapitalismus strukturell gebundenen – »Ökonomie der Gewalt« auf niedrigem materiellem Niveau (Münkler, 2003). Eine besondere Rolle spielen dabei die trocken gelegten Staatsapparate und gescheiterten nationalen Befreiungsbewegungen der (Semi-)Peripherie, die sich nun mit Waffengewalt ökonomisch über Wasser halten. Zweitens modifizieren sich die Fetischverhältnisse und beeinflussen so auch den Verlauf des Krisenprozesses. Sie dienen der sozio-psychischen Verarbeitung der Krisenerfahrung und stabilisieren bzw. strukturieren diverse Elendsvarianten der materiellen Reproduktion: das Patriarchat erfährt eine Neuformierung, wenn die patriarchale Kleinfamilie verschwindet, die männliche Arbeits- und Geldidentität an der ökonomischen Realität zerbricht und sich die soziale Verantwortung damit vollends »feminisiert«; die Globalisierungsverlierer flüchten massenhaft in die hochaggressive Gemeinschaft einer fundamentalistisch »modernisierten« Religion; Rassismus und Antisemitismus erfahren weltweit eine Konjunktur. Drittens sichert die Weltmacht USA infolge ihres Hegemonieverlusts die Vormachtposition, den Rohstoffzufluss usw. vermehrt mit militärischer Gewalt.

In diesem Lichte erscheint die Feststellung, es hätte sich ein längerfristig stabiler Kapitalismus »im idealen Durchschnitt« etabliert ebenso problematisch wie die Behauptung, wir stünden kurz vor dem »Zusammenbruch« der kapitalistischen Produktionsweise. Mit der Totalisierung von Warenform und Verwertung, die bloß dem Schein nach universell und selbstgenügsam sind, tatsächlich aber auf ökologischen und sozialen Grundlagen ruhen, die sie selbst herzustellen nicht in der Lage sind, ist zwar zugleich auch deren Selbstdestruktion gesetzt. Dies führt jedoch ebenso wenig in das unstrukturierte Chaos einer »verwildernden« Herrschaft wie es »dem Begriff des Kapitalismus« entspricht, wenn sich die Konkurrenz aus ihrem formellen Rahmen zur direkten Gewalt entbettet oder wenn staatliche Apparate zu marodierenden Banden mutieren. Noch viel weniger aber bedeutet es einen »automatischen Sprung in die Emanzipation«. Vielmehr zeichnen sich die Konturen einer möglicherweise lang andauernden »Agonie der Warengesellschaft« (Jappe, 2005, S. 242) ab; und es ist schwerlich auszuschließen, dass sich historisch neue repressive soziale Formen etablieren. Die asynchrone Dynamik einer Vielzahl miteinander verbundener und sich wechselseitig abstützender Fetischverhältnisse bedeutet allerdings auch, dass sich Herrschaft prekarisiert.19 Sie schafft damit die objektiven Voraussetzungen einer Emanzipation, die weiter geht als in den relativ formstabilen Phasen des Kapitalismus. »Niemals in der Geschichte« ist deshalb »der bewusste Wille der Menschen so wichtig gewesen« (a. a. O.) wie im Zerfallsprozess der gesellschaftlichen Objektivationen. Hier findet kritische Theorie als Destruktion der gesellschaftlichen Objektivitationen ihre Grenze, dort nämlich, wo kollektives Handeln sich von eben diesen Schein-Objektivitäten zu befreien sucht. Entstehung und Verlauf solcher Handlungsweisen können deshalb, abgesehen von ausgesprochen allgemeinen Aussagen, auch nicht theoretisch abgeleitet oder prognostiziert werden. Emanzipation von bewusstlosen Verhältnissen ist per definitionem nur als bewusster Formbruch denkbar und kann sich weder auf immanente Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise noch auf krude, per se fetischimmanente »Interessenskämpfe« (für mehr Lohn, Arbeitsplätze usw.) stützen.20 Allerdings können auch bewusstlos etablierte Praxen wie etwa die Freie Software-Produktion mögliche Anknüpfungspunkte und kreative Orte für anti-fetischistische Bewegungen sein. Immanente Kämpfe sind dabei wichtig, doch emanzipatorischen Charakter gewinnen sie erst in Verbindung mit einer Perspektive, die nicht die Bewegung in den Fetischformen bezweckt, sondern daraus quasi zeitlich begrenzte Mittel für die Befreiung aus der Form ziehen will. Entscheidend wird dabei, ein »ethisches Kraftfeld« auf der Grundlage von Verbundenheit, Respekt und Achtsamkeit zu generieren, das den Mut zur Veränderung und soziale Kreativitäten stimuliert. Eine solche mit der Warenform nicht verträgliche Ethik muss sich auch in materielle Praxen umsetzen, die handfeste Lebensqualitäten erzeugen und damit zugleich die emotionellen Haltungen und Handlungsorientierungen einer post-kapitalistischen Vergesellschaftung stabilisieren können.

Emanzipation in Organisation

Im Unterschied zur lokal-subsistenten Produktion vor- und nicht-moderner Gesellschaften spielt unter modernen Verhältnissen die Kooperation der Individuen im Weltmaßstab und das in Maschinerie und Infrastruktur verkörperte Wissen vergangener Generationen die produktive Schlüsselrolle. Die Möglichkeiten der Produktion von materiellem und Beziehungsreichtum sind damit weit über das historisch bekannte Maß gewachsen. Diese Möglichkeiten sind allerdings in vieler Hinsicht bloß vorstellbare Potenzen. Sie wären erst einmal zu entwickeln und können nicht einfach in der Befreiung von einer äußerlich gedachten sozialen Form bestehen. In diesem Sinn verkürzt die traditionell-marxistische Rede vom »Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen«, der im Kommunismus lediglich »aufzuheben« sei das Problem entscheidend. Tatsächlich hat der Kapitalismus beispiellose Destruktivkräfte (Kriegführung, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Lebensfeindlichkeit der sozialen Verhältnisse) hervorgebracht, die eine einfache Fortführung der bestehenden Technologien und sozialen Organisationsweisen verbieten. Der Begriff einer abstrakten »Produktivkraft« selbst ist bloß Ausdruck der Wertverwertung, kein positiver Anknüpfungspunkt von Emanzipation. Deshalb sind auch die dominanten Vorstellungen des Marxismus problematisch, die davon ausgehen, dass es »nur« eines kollektiven Akts der Bewusstwerdung bedarf, um den gesellschaftlichen Charakter der Produktion von einer bloß äußerlich gedachten »Hülle von Kapital und Privateigentum« im Klassenkampf zu befreien. Das bewusste Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen im Sinne ihrer kollektiven Zwecksetzungen zu organisieren ist tatsächlich eine weit größere Herausforderung. Denn Gesellschaftlichkeit stellt sich unter kapitalistischen Verhältnissen über eine fetischistische Form her. Mit ihrer Auflösung fallen die Individuen daher der Tendenz nach auf ein niedrigeres Niveau der Vergesellschaftung zurück. Zwar ruht die postfordistische Produktion auf einem höheren Maß an kooperativer Eigenleistung als unter fordistischen Bedingungen. Doch realisiert sie sich in bestimmten gesellschaftlichen Formen, die dieser Kooperation nicht äußerlich sind.

Die Herausforderung ist auf der anderen Seite aber auch geringer. Denn es kann nicht darum gehen, ein ökologisch destruktives und sozial sinnloses Niveau der materiellen Integration auf globaler Ebene aufrechtzuerhalten. Vielmehr wäre es vonnöten, Integration dort auf neuer Grundlage zu entwickeln bzw. nach Maßgabe bewusster Zwecksetzungen selektiv fortzuführen, wo der Widerstand gegen den globalen Kapitalismus sie erfordert, sie für die Herstellung von High-Tech und kollektivem Wissen sowie die Bewältigung der kapitalistischen Verheerungen notwendig ist und der kulturellen Bereicherung dient.

Entfaltung zum Beziehungsreichtum

Die Krise zeigt, dass Menschen ihr grundsätzliches Aufeinander-Angewiesen- Sein zwar leugnen, ihm jedoch nicht »entkommen« können, dass die kollektiven Projektionen an Funktionalität verlieren, wachsende Schmerzen produzieren und an Stabilität einbüßen. Die Tatsache allseitiger Verbundenheit holt uns immer wieder ein – ob wir wollen oder nicht. Emanzipation würde in diesem Sinn auch bedeuten, wechselseitige Abhängigkeit, die sich in der Krise gewaltsam geltend macht, zu erkennen und das Handeln entlang dieser Einsicht neu zu orientieren. Es ginge dann darum, die Projektion unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs, unseres Aufeinander-Angewiesen-Seins zurückzunehmen, die versachlichten Zwänge von Ware und Verwertung zu überwinden, indem wir unser Zusammenleben bewusst und koordiniert gestalten. Die inneren Widerstände, sich aufeinander direkt einzulassen, sind dabei nicht zu unterschätzen. Die Fähigkeit, wechselseitige Abhängigkeit zu erkennen und bewusst zuzulassen ohne einander der individuellen Anerkennung zu berauben, muss vielfach erst entwickelt werden. Genau darin bestünde nämlich eine autonome Individualität, die sich von der scheinbaren Autarkie des unterschiedslosen Warensubjekts im Grundsatz unterscheidet. Ihr Ziel wäre ein Reichtum an Beziehungen, der es erlaubt und auch voraussetzt, einander nicht als Grenze zu empfinden, sondern vielmehr als Bedingung und Erweiterung der je eigenen Entfaltungsmöglichkeiten.

Anmerkungen

1 Mit dem Begriff der Selbstorganisation wird ein ursprünglich biologisches Konzept auf Gesellschaftliches übertragen, vielfach in affirmativer Absicht. Markt und Kapital bilden in diesem Sinne ihren Inbegriff. Unter diesem Vorbehalt greife ich den Begriff der Selbstorganisation zwar positiv auf, möchte im Folgenden jedoch das Problem der historischen Formbestimmung sozialer Organisation in den Vordergrund stellen. Der springende Punkt ist nämlich nicht die Selbstorganisation als solche, sondern vielmehr die Frage, ob Selbstorganisation in den bestehenden sozialen Formen erfolgt oder nicht.

2 So bezeichnet er den Wertbegriff als den »abstrakteste(n) Ausdruck des Kapitals selbst und der auf ihm ruhenden Produktionsweise« (Marx, 1974, S. 662).

3 Hier ist vorerst einmal vom Wertbegriff, das heißt von Wert als einer historisch bestimmten sozialen Form die Rede, weder von der Wertform (Form, die der Wert im Tauschwert bzw. Geld annimmt), noch vom Inhalt des Werts (der so genannten Wertsubstanz), noch von der Wertgröße. Zur kritischen Darstellung bürgerlicher Werttheorien siehe Heinrich (2001a und b) sowie Höner (2005).

4 Zur ausführlichen Kritik der Nutzentheorie: Rakowitz, 2000, S. 39ff.

5 »Sage ich, Arbeit oder Nutzen im Verein mit Seltenheit [die beiden konkurrierenden Werttheorien der ökonomischen Wissenschaft; A. E.] bestimmt den Wert, so unterscheide ich schon grammatisch Arbeit und Nutzen als Satzsubjekt vom Wert als Akkusativobjekt; Arbeit ist Arbeit und nicht Wert, wie auch Nutzen als bestimmter Begriff vom Wert zu unterscheiden ist. Es muss also möglich sein, den Wert als Wert zu beschreiben « (Backhaus, 1997, S. 391).

6 Zur Methodik der Kritik der politischen Ökonomie siehe Heinrich 2001a.

7 Sichtbar wird dies erst im Tausch, weil die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit sowohl vom zahlungsfähigen Bedarfsvolumen als auch vom Produktionsvolumen der Konkurrenten abhängt. Beides ist vorab unbekannt, da die Produktion nicht von vornherein als gesellschaftliche gilt, sondern in privater Form erfolgt; ausführlicher: Heinrich, 2004, S. 45ff.

8 Die Kritik der politischen Ökonomie befasst sich mit Gesellschaft auf der grundlegendkategorialen Ebene jener Abstraktionen. Sie behandelt »nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt« (MEW 25, S. 839).

9 Für eine ausführliche Darstellung historischer Marktformen – z. T. in kritischer Absetzung von Polanyi – siehe Bürgin (1996; zur Problematik der Reichtumsproduktion in der griechischen Polis vgl. etwa Enderwitz, 2000).

10 Zur Kritik von Freiwirtschaft und Tauschkreisen: Exner, Grohmann, 2005.

11 Das Projekt einer Befreiung des Marktes vom Kapital ist auch Kernbestand der Idee einer »sozialistischen Warenproduktion«; vgl. zu den damit verbundenen Widersprüchen: Stahlmann, 1990; Conert, 1990; Lohoff, 1996.

12 Im Folgenden beziehe ich mich z. T. auf die von Becker (2002) rekonzeptualisierte Regulationstheorie.

13 Ausführlicher zur Krisentheorie: Heinrich, 2001b.

14 Ausführlich: Hirsch, 2002.

15 Zum strukturell und nicht bloß empirisch patriarchalen Charakter des Staates siehe Genetti, 2002.

16 Nicht zuletzt das Scheitern sowohl des real- und entwicklungssozialistischen wie auch des sozialdemokratischen Staatsdirigismus ist ein starkes empirisches Argument gegen solche Auffassungen. Als eine autonome Steuerungsinstanz der Gesellschaft ist der Staat in der Globalisierungsära weniger denn je zu begreifen.

17 Freilich spielen nicht-klassengebundene Widersprüche und soziale Kämpfe dabei eine ebenso wichtige Rolle.

18 Akkumulation von Eigentumstiteln.

19 Interessant ist diese allgemeine Feststellung auch vor dem Hintergrund der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise aus feudalen Fetischverhältnissen (vgl. Becker, 2002, S. 129 und S. 39f.).

20 Historisch sind diese Annahmen deshalb auch blank gescheitert; vgl. z. B. Boggs in diesem Band.

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