04.03.2010 

Arm, aber mutig

Julian Bierwirth


Der Kapuzinermönch richtet seinen besorgtem Blick in die Kamera: Viel zu viele Jugendliche in Deutschland lebten in zu großer Not, hätten keine Arbeit und kein zu Hause. Deshalb, so Bruder Paulus, unterstütze er das Europäische Jahr 2010, weil es die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben fordere. Die Kamera zoomt dichter an den Geistlichen heran. Alles im Auftreten des Bettelmönchs ist auf einen Effekt aus: der sorgsam einstudierte Text, der mitfühlende Blick, das aufmunternde Nicken beim Sprechen, die sorgsam eingestreuten Vokabeln aus einer vermeintlichen Alltagssprache von Jugendlichen: es soll Lebensnähe und Fürsorglichkeit, Kompetenz in der Sache und Ernsthaftigkeit im Anliegen gleichermaßen zum Ausdruck bringen.

Zu finden ist dieser Effekt auf der Homepage zum Europäischen Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung mit dem passenden Titel ‘Mit neuem Mut’. Unter diesem Motto nämlich möchten EU und Bundesregierung gemeinsam mobil machen – nein, nicht gegen Armut und Ausgrenzung. Aber zumindest doch dafür, dass Armut und Ausgrenzung den Menschen nicht egal sein sollte. In ihrem Grußwort zählt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen einige der vielen Probleme auf, die mit Armut einhergehen. Und verkündet auch gleich, wie sie die Probleme anzugehen gedenkt: „Überall in Deutschland gibt es eine Vielzahl von Initiativen, die gezielte Unterstützung anbieten und den Betroffenen neuen Mut machen.“

Und so konnten sich soziale Initiativen bewerben, um von der EU ein wenig finanzielle Unterstützung zu bekommen. Über 800 Projektanträge sind eingereicht worden Es habe „sehr gute, sehr mutige Ideen“ gegeben, so von der Leyen. Und ganze 40 von ihnen sollen nun als „Leuchttürme“ im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung die deutsche Sozialpolitik hell erstrahlen lassen. In Göttingen gibt es beispielsweise ein Projekt, das vom Landkreis Göttingen in Kooperation mit der Kreisvolkshochschule angeboten wird und das dem einzigen Zweck dient, Langzeitarbeitslose in Ein-Euro-Jobs zu vermitteln. In einem Projekt in Sassnitz sollen Jugendliche dazu animiert werden sich weiterzuqualifizieren und „erforderliche Schulabschlüsse“ nachzuholen, um „mittelfristig am Erwerbsleben teilnehmen können“. In einer mecklenburgischen Kleinstadt sollen Jugendliche durch Lehmbau Selbstbewusstsein aufbauen und Gemeinschaftsgefühl erleben, in Bremen zielt die Teilnahme an einem Zirkusprojekt auf ganz ähnliche Ziele.

Was diese überaus mutigen Projekte eint, ist der grundsätzliche Blick auf Armut und Ausgrenzung: sie gelten nicht als gesellschaftlich hervorgebrachte und entsprechend auch nur gesellschaftlich lösbare Phänomene, sondern als im wesentlich selbstverantwortet und durch individuelle Hilfestellungen aus der Welt zu schaffen. Dabei liegt das Problem gemäß dieser Sichtweise auch weniger in fehlenden finanziellen Ressourcen als vielmehr im Ausschluss der Betroffenen aus einem als wesentlich erachteten gesellschaftlichen Bereich: dem der Arbeit.

So reiht sich das Europäische Jahr gegen Armut und Ausgrenzung in einen Zeitgeist ein, der zwar von individuellem Fehlverhalten gerne spricht, von der Krise der Arbeitsgesellschaft aber um so vehementer schweigt. Da die besagte Krise nicht zuletzt auch in einer Krise des Leistungsprinzips besteht, soll letzteres reanimiert werden. Dabei wird die gängige christliche Doktrin, dass nur essen soll wer auch arbeitet ergänzt um die umgekehrte Annahme, dass wer nicht isst, scheinbar vor allem der Arbeit bedarf. Vor dem Hintergrund von sinkenden Staatseinnahmen und steigenden Staatsausgaben sollen die staatlichen Sozialleistungen durch Eigenengagement und nichtstaatliche Projekte abgelöst werden. Damit kann der Staat einerseits das ernsthafte Bemühen zu künftigen Einsparungen demonstrieren und andererseits die Ideologie forcieren, die Menschen seien selbst schuld an ihrem Schicksal.

Doch damit nicht genug – auf der Kampagnenhomepage können wir lesen, worum es beim Europäischen Jahr 2010 gehen soll: „Das öffentliche Bewusstsein für die Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung zu stärken und die Wahrnehmung für ihre vielfältigen Ursachen und Auswirkungen zu schärfen – das sind die Ziele des Europäischen Jahres 2010“. Nun ist bekanntermaßen auch und gerade in der Regierung, der Arbeitsministerin von der Leyen angehört, das Bewusstsein für die Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht gerade besonders hoch. Erst vor kurzem bemerkte Vizekanzler Westerwelle, das Leben mit Arbeitslosengeld II sei geradezu „römische Dekadenz“ und auch Kanzlerin Merkel wollte ihm nicht widersprechen. „Das sind nicht meine Worte“, so konnten wir von ihr hören. In der Sache aber schien es keinen Dissenz zu geben.

Nun könnte es scheinen, als sei das Europäische Jahr ein bloßes Lippenbekenntnis, dass niemanden ernstlich interessiert. Dem ist jedoch bei Weitem nicht so. Vielmehr fügt es sich elegant ein in die sozialpolitischen Reformbestrebungen im krisenhaften Kapitalismus. So ist auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes entgegen der Hoffnung nicht zuletzt vieler Linker bei weitem noch nicht klar, wohin der Zug fährt: das Gericht hat ausdrücklich angemerkt, nicht die Höhe der Leistungen zu kritisieren, sondern lediglich ein Abweichen von einer als solcher problemlosen Berechnungsmethode an einigen wenigen Stellen. Ob das jedoch ein Mehr oder ein Weniger an Leistungen bedeutet, ist bislang noch nicht absehbar.

Die Auseinandersetzung um die zukünftige Höhe der Sozialleistungen ist jedenfalls in vollem Gange. Westerwelles Vorstoß dient wohl vor allem dazu, gesellschaftliche Ressentiments zu wecken und eine Erhöhung als Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen mit niedrigen Einkommen erscheinen zu lassen. Tatsächlich hat sich seit der Einführung des Arbeitslosengeld II ein ansehnlicher Niedriglohnsektor gebildet, in dem die Menschen oftmals nicht viel mehr verdienen, als ihnen an Arbeitslosengeld zusteht. Da insbesondere die Zuverdienstmöglichkeiten für sog. „Mini“- und „Midi“-Jobs verbessert wurden und die ausgezahlten Gelder für ein anständiges Leben vorne und hinten nicht reichen, gehen viele nebenbei Jobben – auch, wenn da nicht viel Geld extra im Portemonnaie ankommt.

Diese Erkenntnis ist nicht zuletzt das Ergebnis einer unlängst vorgestellten Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In der Studie wurde die finanzielle Absicherung von Arbeitslosen in Relation zu ihrem letzten Verdienst im internationalen Vergleich dargestellt. Die in Deutschland ausgezahlten Sozialbezüge liegen zwar oberhalb des Durchschnitts aller untersuchten Länder, innerhalb der EU allerdings in der unteren Hälfte. Das Ergebnis ist dabei ein ziemlich direkter Spiegel der Sozialpolitik in den letzten Jahren. So ist beispielsweise auffällig, dass in Deutschland sowohl bei Normal- als auch bei Geringverdienenden Haushalte mit Kindern besser abschneiden als Familien ohne Kinder. Während alleinstehende Langzeitarbeitslose im Durchschnitt nur 36% ihres letzten Nettoverdienstes ausgezahlt bekommen, bekommen sie satte 61%, wenn im Haushalt zwei Kinder leben. In Familien mit bislang einem Erwerbstätigen steigen die durchschnittlichen Sozialleistungen von 46% auf 63%, sobald zwei Kinder der Haushaltsgemeinschaft angehören. Der Grund ist dafür ist recht simpel: die Einkommen sind schlicht und ergreifend zu gering, um Familien mit Kindern auf einem erträglichen und deutlich über dem Existenzminimum liegenden Niveau zu versorgen.

Auch wenn es graduelle Unterschiede zwischen einzelnen Staaten gibt, vom Grundsatz her trifft dieser Befund für sie alle zu. In Zeiten knapper Kassen und kriselnder Ökonomien sollen die Bedürfnisse der Menschen nach einem guten Leben in noch stärkerem Maße ignoriert werden als das bislang der Fall war. Über diese Entwicklungen wird dann auch im März beim 6. Europäischen Sozialforum in Istanbul gestritten werden. Es wird sich zeigen ob die AktivistInnen der sozialen Bewegungen bereit sind, offensiv sowohl mit der staatlichen Verarmungspolitik als auch mit den endlosen Versuchen zur Stärkung des Leistungsprinzips zu brechen. Was es dafür bräuchte, wäre jedoch eine Perspektive nicht nur für soziale Sicherheit, sondern für eine solidarische Gesellschaft jenseits von Markt und Staat. Und davon ist derzeit allerdings nicht viel zu sehen.

(Der Text wurde in einer gekürzten und leicht veränderten Version in der Jungle World 08/2010 veröffentlicht.)