08.07.2010 

Die etwas andere Normalisierung

Der Teheraner Frühling und die Krise des warenproduzierenden Weltsystems

Ernst Lohoff

1.
Keine Frage, in diesen Tage fiebert man mit denen mit, die in den Städten des Irans auf die Straße gehen und den Schlägertrupps Khameneis und Ahmadinedschads die Stirn bieten. Die Formierung einer breiten Protestbewegung angesichts der Wahlmanipulationen nach Jahren der politischen Apathie und des Rückzugs ins Private war ein Hoffnungszeichen. Wird der Protest niedergeschlagen, dann geht auch davon weit über das Land hinaus eine Signalwirkung aus. Umso mehr, als der Teheraner Frühling, gemessen an dem Bild, das sich in anderen Abteilungen der Weltgesellschaft bietet, aus dem Rahmen fällt. Trotz der Weltwirtschaftskrise und des größten Verarmungsschubs der Geschichte stellt sich in den meisten Ländern die politische Lage erstaunlich stabil dar. Warum macht da ausgerechnet das Mullah-Regime eine Ausnahme und ist pünktlich zu seinem 30. Geburtstag in seine bisher schwerste Krise gestürzt?
Anders lautenden Gerüchten zum Trotz handelt es sich bei der islamischen Republik keineswegs um eine Steinzeitveranstaltung, sondern um eine im Scheitern begriffene Modernisierungsdiktatur. Die islamische Geistlichkeit gelangte 1979 nicht aus Versehen an die Spitze der Anti-Schah-Bewegung. Sie konnte damals plausibel machen, dass der Islam und seine Sprecher weit besser das Allgemeininteresse des Landes verkörpern als die bis dahin herrschende Clique und auch besser als die linke Konkurrenz. Der Islam, so die Fama, stehe über allen egoistischen Privatinteressen und sei im Gegensatz zu weltlichen Regimes immun gegen Korruption. An diesem Gründungsmythos der „islamischen Republik“ hat der Zahn der Zeit allerdings inzwischen kräftig genagt. Das als religiöse Tugenddiktatur organisierte Modernisierungsprojekt ist sowohl aufgrund seiner beschränkten Erfolge als auch seiner Misserfolge wegen gehörig unter Druck geraten. Nicht zuletzt aufgrund des Ölreichtums des Landes gehört der Iran zu den Ländern der Semipheripherie mit dem höchsten Lebens- und Bildungsstandard. Gerade in der Zeit nach der islamischen Revolution sind breite Bevölkerungsschichten entstanden, die der permanenten kulturellen Bevormundung wenig abgewinnen können. Inbesondere in der jüngeren Generation weckt diese einen antiautoritären Impuls. Gleichzeitig konnte das islamische Modernisierungsregime aber auch seine Entwicklungsversprechen nicht einlösen. Parallel dazu hat der Nimbus des Regimes als unbestechlicher Hüter des Gesamtinteresses schwer gelitten. Die in der Verfassung verankerte Sonderstellung des Wächterrats und der Figur des Revolutionsführers, die in ihren Augen unislamische Kräfte vom politischen Leben ausschließen können, wurde ursprünglich mit deren vermeintlicher Überparteilichkeit begründet, die in der Religion fundiert sei. Diese Ordnung hat sich aber längst als ein System parteilicher Überparteilichkeit entpuppt. Das betrifft nicht nur die politischen Machtkämpfe, an denen der Wächterrat und der Revolutionsführer Khamenei gleichzeitig als Schiedsrichter und Mitspieler partizipieren. Dieses Doppelspiel findet in der Verschwisterung von politischer und wirtschaftlicher Macht seine Fortsetzung. Aus der Tugendrevolution von einst, die das Schah-Regime als durch und durch korrupt bekämpfte, sind zunehmend klientelökonomische Strukturen erwachsen, die dieses Attribut mindestens genauso verdienen. Die religionistische Mobilisierung1 verbindet sich mit der Zuteilung von Pfründen und der Belohnung mit sozialen Brosamen, womit sie sich einerseits delegitimiert und sich andererseits eine soziale Basis schafft.
Mit dieser Entwicklung steht der Iran alles andere als alleine dar. In allen möglichen zur Peripherie und zur Semiperipherie des warenproduzierenden Weltsystems gehörenden Ländern haben sich in den letzten Jahrzehnten ähnlich Prozesse abgespielt. Aus Entwicklungsregimen sind unmittelbar postdemokratisch-autoritäre Klientelregime hervorgegangen (Simbawe) oder sie sind durch solche abgelöst worden (Russland).
Vom Grundtypus sind sie einander alle ähnlich: Der Anspruch, die eigene Gesellschaft als Ganze zu integrieren und warengesellschaftlich zu entwickeln, bleibt bei dieser Sorte neuer Staatlichkeit höchstens noch pro forma erhalten; umso schrillere und irrationalere Formen nimmt dafür die ideologische Mobilmachung an. Die Beschwörung national oder religionistisch definierter „imaginärer Gemeinschaftlichkeit“ ersetzt die fehlende reale soziale und ökonomische Integration. Die ökonomische Basis dieser Regime beruht auf dem Zugriff auf die wenigen weltmarkttaugliche Segmente der heimische Warenproduktion; in der Regel beschränkt sich das auf Rohstoffe. Dieser Zugriff erlaubt diesen poststaatlichen Gebilden nicht nur ihren Apparat zu finanzieren, sondern darüberhinaus auch noch Loyalität gegen soziale Brosamen einzukaufen und sich damit eine gewisse Massenbasis zu verschaffen. Ihre Hauptstütze findet diese stukturell im Grunde schwache Macht indes in der Apathie einer vom elendsökonomischen Überlebenskampf absorbierten Bevölkerung.
Demokratietheoretisch betrachtet ist ein entscheidendes Merkmal bei der Herausbildung dieser paternalistischen Regime die Auflösung der Grenze von Politik und Ökonomie und die enge Verzahnung von staatlicher und privatwirtschaftlicher Macht. Gleichzeitig macht aber auch die ehemalige abstrakte Allgemeinheit, der Staat, eine postdemokratische Fortentwicklung durch, die es in sich hat. Diese Entwicklung geht in Richtung auf einen Zustand, in dem der gleiche Macht-Klüngel je nach Bedarf mal als Exekutive, Legislative oder Judikative auftritt. Dessen Stellung wird durch die Kontrolle der offiziellen Medien (vierte Gewalt) komplettiert und durch die Zusatzoption auch mit außerstaatlichen Schlägertrupps à la Basiji und meist inoffiziell arbeitenden Todesschwadronen für Ordnung zu sorgen.2

2.
Das Aufkommen von postdemokratische-autoritären Regimes ist ein historisches Unglück, aber kein bloßer Unglücksfall. Es gibt keinen Grund sich mit der Existenz dieser Ambrosia-Pflanzen unter den politischen Gewächsen abzufinden, aber gute Gründe den Boden in Augenschein zu nehmen, auf dem sie erblühen. Das gehört zu den Voraussetzungen einer wirksamen Bekämpfung. Die Veränderungen im Gefüge des Politischen lassen sich nicht für sich begreifen, sondern nur als Teilmoment der Gesamtentwicklung des warenproduzierenden Weltsystems. Das gilt für dessen Aufstiegsgeschichte, das gilt aber erst recht für dessen Zerfalls- und Verwilderungsepoche.
Die Vorstellung einer von allen Privatinteressen säuberlich getrennten abstrakten Allgemeinheit, eines Leviathans, der seine Bürger als freie und gleiche Rechtssubjekte anerkennt und qua Selbstverpflichtung verspricht, sich dem Prinzip der Menschenrechte zu unterwerfen, hat seine ideengeschichtlichen Wurzeln bekanntlich in der Aufklärungsphilosophie. Allerdings dauerte es nicht nur fast zwei Jahrhunderte, bis diese Vorstellung zum allgemein akzeptierten ideellen Rahmen von Staatlichkeit aufgestiegen war, dieser Erfolg ging mit einer grundlegenden Revision des ursprünglichen Bürger- und Menschenrechtskonzepts einher. Die feierliche Selbstvereidigung der Staaten des kapitalistischen Zentrums3 auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, wie sie im Dezember 1948 mit der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ratifiziert wurde, war bereits ein genuines Produkt des „sozialdemokratischen Zeitalters“ (Ralf Dahrendorf).
Das ursprüngliche liberal-aufklärerische Verständnis fasste das Bürger- und Menschenrecht sowohl inhaltlich eng als auch was den Kreis seiner potentiellen Inhaber betrifft. Die Forderung nach Rechtsförmigkeit beschränkte sich auf die Beziehung des weißen besitzenden Mannes zum Staat und zu seinesgleichen. Unmündige wie Frauen und Nicht-Weiße, aber auch die bloßen Besitzer der Ware Arbeitskraft, blieben dagegen vom Status des Rechtssubjekts ausgeschlossen. Von einer sozialen Dimension kann man beim liberal-aufklärerischen Menschen- und Bürgerrechtskonzept nur negativ sprechen. Es schrieb das unveräußerliche Recht auf Privateigentum fest und verpflichtete die abstrakte Allgemeinheit dieses zu schützen. Ansonsten sollte der Staat, was die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums angeht, passiv bleiben. Die Neubestimmung des Menschen- und Bürgerrechts im „sozialdemokratischen Zeitalter“ richtete sich gegen die Frontstellung von politischen Freiheitsrechten und sozialen Forderungen und zielte auf die Erweiterung der Rechtssubjektivität auf bisher von ihr ausgeschlossene Bevölkerungsteile. Es würde zu kurz greifen, die Umorientierung auf die Verzahnung von „politischen und sozialen Rechten“ nur als ideengeschichtliche Entwicklung zu fassen oder allein als Ergebnis sozialer Kämpfe. Sie hat darüber hinaus genauso wie die mit ihr verbundene Wendung vom passiven Nachtwächterstaat zum Interventionsstaat ihren handfesten „materiellen“ Hintergrund in der Entwicklung der Warengesellschaft selber. Der Aufstieg und die Expansion der Arbeitsgesellschaft erweiterte den Kreis derer, die selber positiv als Arbeits- und Warensubjekte an der Warengesellschaft partizipieren um bis dahin ausgeschlossene soziale Gruppen. Damit waren aber auch die Bedingung für eine Ausweitung des ideellen Ausdrucks wertförmiger Vergesellschaftung gegeben. Im Zentrum dieses Prozesses stand die Verwandlung der Proletarier in freie und gleiche Rechtssubjekte und Staatsbürger. Aber auch der rassistische und sexistische Ausschluss verlor sukzessive seine rechtliche Verankerung und funktioniert stattdessen informell. Mit der Anerkennung neuer sozialer Gruppen als freie und gleiche Rechtssubjekte veränderte sich auch der Inhalt des Bürger- Menschenrechtskanons, auf den sich die staatliche Macht verpflichtet. Neben das heilige Recht auf Eigentum traten soziale Rechte.
Dieser Prozess der Verrechtlichung und Verstaatlichung hatte vom Standpunkt der Emanzipation einen doppelbödigen Charakter. Auf der einen Seite ging er insbesondere in den kapitalistischen Zentren mit einer realen Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse einher und erlaubte bisher marginalisierten Schichten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Partizipieren hieß aber: in den warengesellschaftlichen Formen partizipieren. Die Erfolge der Arbeiterbewegung und anderer emanzipatorischer Bewegungen auf dem Boden von Staatlichkeit, Recht und Menschenrecht stellen zugleich deren Integration in die herrschenden Ordnung sowie ein Moment der Etablierung des Wertverhältnisses dar. Die Erkämpfung des Rechtssubjektstatus brachte den Unterprivilegierten einen größeren Spielraum innerhalb der herrschenden Ordnung, der mit deren Omnipräsenz der warengesellschaftlichen Form und der Selbstunterwerfung unter diese bezahlt wurde.
Die Verwandlung von Freiheitskampf in das Streben nach Freiheitsrechten und von sozialer Emanzipation in die gleichberechtigte Teilhabe am warengesellschaftlichen Irrsinn bedeutet eine brutale Reduktion ihres emanzipatorischen Gehaltes. Es gibt aber noch einen zweiten, für uns Nachgeborene fast noch wichtigeren Pferdefuß. Die erzielten Erfolge haben so etwas wie ein historisches Verfallsdatum. Diesem Produkt der Aufstiegsphase der Warengesellschaft bricht mit deren Ende sukzessive die Grundlage weg. Dass die Warengesellschaft ihre Integrationskraft verliert und massenhaft nach ihren Kriterien überflüssige Menschen produziert – Geldsubjekte ohne Geld, Arbeitssubjekte ohne Arbeit – geht nicht spurlos an Recht und Politik vorbei. In dem Maße wie Wertvergesellschaftung nicht mehr repressive Vergesellschaftung sondern Entgesellschaftung und soziale Desintegration bedeutet, findet sie in einen neuen logischen Fluchtpunkt: Rechtssubjekte ohne Recht, verwilderte Staatlichkeit, die den Charakter abstrakter Allgemeinheit sukzessive abstreift.

3.
Die Verfallsgeschichte des warenproduzierenden Weltsystems ist nicht weniger vielschichtig und reich an Wendung wie es die Aufstiegsgeschichte war und dementsprechend setzt die repressive Zersetzung von Rechtsform und Staatlichkeit in verschiedenen Weltregionen sich in unterschiedlichen Formen und Geschwindigkeiten durch. In den Ländern der Peripherie waren abstrakte Allgemeinheit und Rechtsform zu dem Zeitpunkt, an dem die warengesellschaftliche Ordnung in den 1970er Jahren ihren Zenit erreicht hatte, noch in der Herausbildung begriffen. Der Übergang vom Durchsetzungs- zum Zerfallsprozess vollzog sich dort oft fließend. In einigen Fällen ging die Metamorphose vom Entwicklungsregime zum klientelökonomischen Plünderungssystem sogar ohne Wechsel der Führungspersonage vonstatten.4 Vor diesem Hintergrund interpretiert die herrschende Ideologie den Vorsprung dieser Weltregionen im Zerfall des gesamten warenproduzierenden Weltsystem5 noch immer gern als einen Entwicklungsrückstand bei der Herausbildung dieser Ordnung. Dieses Missverständnis wird zusätzlich dadurch gefördert, dass in den kapitalistischen Zentren der einsetzende Desintegrations- und Entgesellschaftungsprozess seine ideologische und praktische Durchsetzungsform in einem Umgestaltungsprojekt fand, das selber noch einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch erhob: dem Neoliberalismus.
Das neoliberale Projekt war eine Reaktion auf die Krise des Fordismus, in der die Grenzen der Integrationskraft des Waren produzierenden System sichtbar wurden. Angesichts der Unfähigkeit des sozialdemokratischen Interventionsstaates, die kapitalistische Gesellschaft weiterhin auf Wachstumskurs zu halten, machte die neoliberale Ideologie aus der Not eine Tugend. Das neoliberale Programm war darauf ausgerichtet, die abstrakte Allgemeinheit von ihrer sozialen Pflicht für die arbeitsgesellschaftliche Integration zu entbinden und die für die vorhergehende Phase charakteristische Verzahnung von sozialen Rechten und Freiheitsrechten aufzubrechen. Die staatliche Macht sollte sich auf die Garantie der rechtsstaatlichen Form und der Freiheitsrechte der Marktsubjekte konzentrieren, während die Verantwortung für die soziale Integration in die „unsichtbare Hand des Marktes“ gelegt wurde. Die Hegemonie dieser Strömung erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass es ihr gelang, ihr Programm als Stärkung der Freiheitsrechte zu verkaufen, als Gegenkonzept zu staatlicher Bevormundung. De facto war es darauf ausgerichtet, die sukzessive soziale Desintegration der Gesellschaft in Kauf zu nehmen und voranzutreiben, aber die rechtsstaatliche Integration aufrecht zu erhalten, also das absolute Primat des Privatinteresses mit der Fortexistenz einer abstrakten Allgemeinheit zu verbinden. Dieser Widerspruch muss früher oder später zu einer Auflösung finden, weil er letztlich zu unhaltbaren Zuständen führt.
Aus zwei Gründen griff dieses Programm in den kapitalistischen Zentren aber vorerst. Zum einen gelang es dreißig Jahre lang die basale Krise der Arbeit mit der Entfesselung des Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung zu überspielen. So prekär auch seine Grundlage ist, der Wachstumskurs der kapitalistische Ökonomie hielt den sozialen Desintegrationsprozess zunächst einmal in Grenzen. Zum anderen ließ sich in den kapitalistischen Zentren die in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen geschaffene sozialstaatliche Substanz nicht auf einen Schlag entsorgen, sondern nur sukzessive abtragen. Das gilt insbesondere für Kontinentaleuropa, wo die neoliberale Abrissbirne eigentlich erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts voll zum Einsatz kommt.
Ein ganz anderes Bild bietet die Weltmarktperipherie. Zum einen bot die direkte Unterwerfung unter das Weltmarktdiktat nur einigen wenigen Regionen überhaupt eine praktikable Alternative zu den gescheiterten Projekten nachholender etatistischer Modernisierung, die auf die Entwicklung des Binnenmarktes ausgerichtet gewesen waren. Zum anderen war die Idee der abstrakten Allgemeinheit und der Rechtsstaatlichkeit sowohl institutionell wie mentalitätsgeschichtlich weit weniger tief verankert als in den kapitalistischen Zentren. Vor diesem Hintergrund konnte der pure Neoliberalismus dort kaum Fuß fassen.6 Stattdessen gediehen in den Trümmern der gescheiterten Projekte nachholender Modernisierung postdemokratisch-autoritäre Regime, die sich bisher als relativ stabile Zerfallsprodukte der warengesellschaftlichen Ordnung erwiesen.
Das Verhältnis postdemokratisch-autoritärer Herrschaft zu der in den 1980ern und 1990ern in den kapitalistischen Zentren hegemonialen Strömung des Neoliberalismus ist mehrdeutig. Auf der einen Seite wird von deren Ideologen die Freiheit des Einzelnen, die das neoliberale Entgesellschaftungsunternehmen legitimiert, als Inbegriff von Dekadenz und moralischer Verderbnis interpretiert.7 Die Beschwörung der eigenen Nation oder Religion dient nicht allein als Ersatzantwort auf die realen Verheerungen, die vom totalen Weltmarkt ausgehen; diese Kulturalisierung rechtfertigt gleichzeitig die Entmündigung der eigenen Bevölkerung als Verteidigung der heiligen nationalen bzw. religiösen Identität. Viele autoritär-postdemokratische Regimes geben sich zusätzlich sozial paternalistisch und grenzen sich auch insofern scharf gegenüber der neoliberalen Ideologie ab. Auf der anderen Seite verwirklichen sie alle geradezu vorbildlich das Primat des Privatinteresses und die Wirtschaftsnähe, die der Neoliberalismus den westlichen Regierungen Jahrzehnte lang gepredigt hat. Eine wirtschaftsnähere Regierung als die an den Staatshebeln sitzende Mafia ist schließlich kaum denkbar. Der Neoliberalismus betrieb ein Projekt sozialer Desintegration, wollte aber an der rechtsstaatlichen Integration mit größter Selbstverständlichkeit festhalten. Diesen Widerspruch lösen die postdemokratisch-autoritären Regime auf gemeingefährliche Weise auf. Das Soziale kehrt in einer perversen Form wieder. Diese Regime bieten den vom Weltmarkt zu Geldsubjekten ohne Geld und zu Arbeitssubjekten ohne Arbeit gestempelten Menschen in der Gestalt der Klientelwirtschaft eine Aussicht auf Restbeteiligung am warengesellschaftlichen Reichtum. Im Gegenzug findet so etwas wie eine sukzessive Privatisierung der abstrakten Allgemeinheit statt. Die Staatlichkeit setzt immer weniger als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) den vielen Sonderinteressen Grenzen und mutiert immer mehr zum organisierten Sonderinteresse einer staatsbesitzenden Klasse. Das Recht funktioniert immer weniger als allgemeines Regelwerk, dem alle Warensubjekte gleichermaßen unterworfen sind; stattdessen machen die Staatsbesitzer dieses zur Waffe und entscheiden je nach Eigenbedarf, inwiefern Gesetze gelten und welche. Ihre Hauptaufgabe findet die Staatsmacht jedenfalls darin, die Bevölkerung zu demoralisieren – mit ein wenig Zuckerbrot und sehr viel Peitsche für alle potentiell Unbotmäßigen.

4.
Beim Scheitern nachholender Modernisierung handelt es sich um einen globalen historischen Prozess. In der einen oder anderen Weise betrifft er alle Länder der Weltmarktperipherie und -semiperipherie – selbstverständlich auch den Iran. Die iranische Entwicklung weist freilich einige Besonderheiten auf. Dazu zählt, dass die Ablösung des Modernisierungsregimes des Schahs durch die „islamische Republik“ zu einem Zeitpunkt stattfand, zu dem der Gesamtprozess etatistischer nachholender Modernisierung längst im beschleunigten Niedergang begriffen war. Das religiös eingekleidete Modernisierungsregime gehört zu den letzten Modernisierungsregimen, die sich überhaupt neu etablieren konnten. Nicht zuletzt aus diesem Grund findet aber auch die Metamorphose der „islamischen Republik“ vom autoritären Entwicklungsregime zum postdemokratischen Autoritarismus verzögert statt. Nach 30 Jahren „islamischer Revolution“ hat sich die Schere zwischen Entwicklungs- und Allgemeinheitsanspruch und sozialer Wirklichkeit so weit geöffnet, dass dadurch die Legitimität der herrschenden Ordnung massiv in Frage gestellt ist; die postdemokratische Auflösung der Gesellschaft ist aber andererseits noch nicht so weit voran geschritten, dass sich die Bevölkerung demoralisiert widerstandslos ihrem Schicksal ergeben würde. Die punktuelle Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnte hat im Gegenteil für einen Individualisierungsschub gesorgt und massenhaft Menschen geschaffen, deren persönliche Lebensentwürfe in Widerspruch zur herrschenden religiösen Bevormundung stehen. Die Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise hat die Lage zusätzlich zugespitzt.
Im Teheraner Frühling haben sich zwei Elemente miteinander verbunden; der spontane Protest vor allem der Jugend, der primär einem antiautoritären Impuls folgt und vor allem individuelle Freiheitsspielräume erkämpfen will. Gleichzeitig gibt es im politisch-klerikalen Establishment massive Spannungen, was den weiteren Kurs des Landes angeht. Die sogenannten „Reformer“ haben sich das Ziel gesetzt, das Entwicklungsversprechen des Regimes doch noch einzulösen und aus dem Iran eine im globalen Wettbewerb konkurrenzfähige kapitalistische Gesellschaft zu machen. Dazu gehört für sie die Lockerung der religiösen Zügel.
Ohne das Bündnis dieser ungleichen Kräfte hätte es den Teheraner Frühling in dieser Form nicht gegeben. Dieses Bündnis ist für die Emanzipationsbewegung und ihre Ausrichtung allerdings alles andere als unproblematisch. Bei der ökonomischen und gesellschaftlichen Perspektive des Reformlagers handelt es sich um eine Fata Morgana. Das gilt vor allem für die Strömungen im „Reformlager“, denen die Umsetzung neoliberaler Wirtschaftskonzepte vorschwebt, wie dem früheren Präsidenten Rafsanjani. Ausgerechnet in dem Moment auf eine Privatisierung der weitgehend in Staatshand befindlichen iranischen Wirtschaft zu setzen, in dem selbst die kapitalistischen Zentren bei Notverstaatlichungen Zuflucht nehmen müssen, wäre nicht nur anachronistisch, sondern ökonomischer Selbstmord. Dagegen gilt der Präsidentschaftskandidat Mussawi zwar als undogmatischer Wirtschaftsfachmann8; nach reinem neoliberalen Harakiri dürfte ihm nicht der Sinn stehen, aber auch ein „pragmatisches“ Mischmasch aus Privatisierung und staatlicher Intervention wird die soziale und ökonomische Misere des Landes nicht beheben. Insofern liefert die Protestbewegung Kräften in der politischen Klasse eine Massenbasis, die selbst dann mittelfristig zum Scheitern verurteilt wären, wenn sie sich im Machtkampf durchsetzen würden.
Die soziale und ökonomische Misere hat selbstverständlich die Zuspitzung der Lage im Iran überhaupt erst ermöglicht. Die Mobilisierung gegen das Regime läuft aber ausschließlich auf der politischen Schiene. Im Fokus steht der Kampf für staatsbürgerliche Rechte, während die soziale Frage ausgeblendet bleibt. Diese Ausrichtung ist mehr als nur eine Reaktion auf die Wahlmanipulationen. Nur diese Engführung erlaubt es den heterogenen Kräften der Opposition überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das macht aber auch eine strukturelle Schwäche des Protestes aus. Ob Ahmadinedschad und Khamenei den Protest jetzt brutal niederschlagen können oder sich die autoritär-paternalistischen Kräfte in wenigen Jahren neu formieren, wenn die „Reformen“ scheitern, ihre gesellschaftliche Basis bleibt die gleiche: jene Teile der Bevölkerung, denen der Spatz in der Hand noch immer lieber ist als die Taube auf dem Dach, die sich an die klientelökonomischen Brosamen halten, statt an ein leeres marktwirtschaftliches Entwicklungsversprechen.
Dass die iranische Protestbewegung zwar von der Freiheit, aber nicht vom Fressen spricht, ist keineswegs nur der Rücksichtnahme auf den Bündnispartner innerhalb der klerikal-politischen Klasse geschuldet. Was die soziale Frage angeht, ist sie auch selber ohne Konzept und von einer tragfähigen Kritik des marktwirtschaftlichen Irrsinns meilenweit entfernt. Natürlich wäre es höchst unfair, der spontanen Protestbewegung, die dieses Frühjahr im Iran aufgeflammt ist, aus diesem Manko einen Vorwurf zu machen. Sie hat die Entmischung von Fressen und Freiheit und die Reduktion von Freiheit auf staatsbürgerliche Rechte nicht erfunden, sondern als das Ergebnis der neoliberalen Epoche vorgefunden. Versagt hat nicht die neue iranische Opposition von 2009, das emanzipative Lager hat es weltweit seit den 1970er Jahren versäumt, den Kampf für Freiheit und gegen die krisenkapitalistischen Verwerfungen theoretisch wie praktisch zusammenzuführen. Die iranische Opposition – und das ist ihre Tragik – zahlt aber einen besonders hohen Preis für dieses allgemeine Versagen.

1 Zum Begriff des Religionismus und seiner historischen Einordnung in den Prozess der nachholenden Modernisierung vgl. meinen Aufsatz „Die Exhumierung Gottes“ in krisis 32 (2008)
2 Putin-Russland dürfte diesem Ideal im Augenblick am nächsten kommen. Als ein dem kapitalistischen Zentrum angehörendes Land steht Berlusconi-Italien noch relativ weit am Anfang dieses Wegs. Sein Beispiel verweist allerdings darauf, dass es durchaus so etwas wie eine Konvergenz zwischen den Entwicklungen an der Peripherie und der in den Zentren geben kann. Der Iran rangiert etwa in der Mitte der Skala.
3 Die diversen Entwicklungsdiktaturen behielten sich noch das Recht vor, die hehren Grundrechte des Individuums dem entwicklungsdiktatorischen Ziel unterzuordnen und im Bedarfsfall auszusetzen.
4 Ein Beispiel hierfür ist die Mugabe-Diktatur in Simbawe.
5 Karl Marx hat in seinem Hauptwerk zur Illustration der allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitals vor allem auf die englischen Verhältnisse zurückgegriffen. Im Vorwort zum „Kapital“ begründet er diese Vorgehensweise gegenüber einen imaginären „pharisäischen deutschen Leser“, der sich angesichts der „Zustände der englischen Industrie und Ackerbauarbeit“, sich damit beruhigt, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehen“. Er hält ihm entgegen: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.“ (MEW 23. S.12) Was während der Aufstiegsgeschichte des Kapitals plausibel gewesen sein mag, kehrt sich mit dem Übergang zur Abstiegsgeschichte um. Die Zukunft der Peripherieländer wird weit weniger Ähnlichkeit mit der Gegenwart der kapitalistischen Zentren haben, als die Zukunft der kapitalistischen Zentren mit der Gegenwart der Peripherie.
6 Am ehesten noch in einigen lateinamerikanischen Ländern.
7 In den Ländern, von denen die neoliberale Revolution ihren Ausgang nahm, war sie von Anfang an mit einer stark autoritaristischen Tendenz verschwistert. In den USA und Großbritannien fiel die Durchsetzung des Neoliberalismus mit der des Neokonservativismus zusammen. Die Befreiung des Inividuums von angeblicher staatlicher Bevormundung wurde als Rückbesinnung auf die fundamentalen religiösen und nationalen Werte verstanden. Insofern gibt es durchaus Parallelen zwischen der aus den angelsächsischen Ländern vertrauten ideologischen Landschaft und den antiwestlich orientierten autoritaristischen Ideologien.
8 Diesen Ruf hat er sich während des ersten Golfkrieges als Organisator der iranischen Kriegswirtschaft erworben. Glaubt man seinen Anhängern, dann hat er damit die Bevölkerung des Iran vor dem Verhungern bewahrt.