16.08.2013 

Empörung und dann?

Ernst Lohoff

Den Protestbewegungen in aller Welt fehlt vor allem eine Idee, wo eine gesellschaftliche Alternative zu suchen sein könnte.

Die Straßen und Plätze der großen Städte dieser Welt gehören seit zweieinhalb Jahren nicht wie ansonsten allein dem Warenverkehr, den Konsumenten und Touristen. Seit der sogenannten Jasmin-Revolution in Tunesien vom Ende 2010/Anfang 2011 treibt es in einem Land nach dem anderen Hunderttausende von Menschen zu Massenprotesten auf die Straße.

Auf den ersten Blick scheinen die Bewegungen nicht allzu viel gemeinsam zu haben. Bereits die Anlässe, an denen sich der Protest jeweils entzündet, könnten kaum unterschiedlicher sein. Richteten sich die Proteste in Tunesien gegen das autoritäre und korrupte Regime, das aus der früheren nationalen Befreiungsbewegung entstanden war, so wollen es die »Indignados« nicht hinnehmen, dass Spaniens Regierung in voraus­eilendem Gehorsam gegenüber der sogenannten Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds die Lebensperspektiven einer ganzen Generation ihrer Totsparpolitik opfert. In Bra­silien bringt dagegen eine höchst kostspielige Fußball-WM das Fass zum Überlaufen.

Auch die betroffenen Länder könnten kaum unterschiedlicher sein. Anfang 2011 brachte in Ägypten die Tahrir-Platz-Bewegung das autokratische Regime Mubaraks zu Fall. Monate später erschütterte der Massenprotest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten Israel, eine etablierte parlamentarische Demokratie, in ihren Grundfesten; und nachdem das im ökonomischen Totalabsturz begriffene Griechenland immer wieder Proteste erlebt hatte, gingen vor Kurzem im benachbarten wirtschaftlichen Boomland Türkei Millionen von Menschen gegen die gewählte Regierung auf die Straße.

Trotzdem bestehen augenfällige Gemeinsamkeiten zwischen diesen Bewegungen. Sie alle entzünden sich an der immer rücksichtsloseren Unterordnung des gesamten Lebens unter die Verwertungsimperative, die ihren politischen Ausdruck in einem sich verschärfenden Autoritarismus findet, sei es nun in der Gestalt von korrupten Modernisierungsregimes oder einer gnadenlosen Krisenverwaltung.

Aber auch der Form nach ähneln sich die Bewegungen, so unterschiedlich ihr unmittelbarer Anlass sein mag: Sie entstehen quasi über Nacht, sind aber auch schnell wieder von der Bildfläche verschwunden. Das gilt beispielsweise für die Occupy-Bewegung, die sich vor knapp zwei Jahren von den USA aus innerhalb weniger Wochen über die westliche Welt verbreitete, inzwischen jedoch in sich zusammengefallen ist. Wenn es darum geht, Handlungsoptionen und konkrete Forderungen zu entwickeln, überlassen die Protestbewegungen anderen das Feld, zum Beispiel den etablierten politischen Parteien. Die geringe organisatorische Potenz ist dabei noch das kleinere Problem. Es fehlt vor allem die Grundorientierung, es fehlt jede Idee, wo eine gesellschaftliche Alternative, die diesen Namen verdient, überhaupt zu suchen sein könnte.

Unverhüllt tritt diese Schwäche im Kernland des »arabischen Frühlings« zu Tage. Der Massenprotest auf dem Tahrir-Platz Anfang 2011 hatte sich vor allem gegen jahrzehntelange Bevormundung gerichtet und war primär von areligiösen antiautoritären Kräften getragen worden. Die reaktionären Muslimbrüder spielten in der Bewegung nur eine Nebenrolle. Der Sturz des Regimes führte indes zur sofortigen Marginalisierung der tragenden Kräfte der Bewegung; deren Erfolg fiel den Späteinsteigern zu, weil die Islamisten mit politischen Zielvorstellungen und sozialen Versprechungen aufwarten konnten und deshalb in den Wahlen auch die Stimmen derjenigen auf sich ziehen konnten, die mit ihrem regressiven Weltbild keinesfalls übereinstimmten. Der antiautoritäre Protest dagegen bekam die Quittung dafür, dass er einen großen Bogen um die Frage geschlagen hatte, die heute wie schon vor 100 Jahren jede emanziporische Bewegung beantworten muss, um Boden unter die Füße zu bekommen: Wie gehen Freiheit und Fressen zusammen?

Dementsprechend befindet sich das antiautoritäre Lager eineinhalb Jahr nach seinem Triumph über das Regime Mubaraks in einer niederschmetternden Situation. Ohnmächtig und desorientiert zollt es dem Militär dafür Beifall, dass dieses die mit Hunderten von Toten erkämpften demokratischen Grundlagen außer Kraft setzt und die regierende islamistische Reaktion zusammenschießt.

Hierzulande wurde der »arabische Frühling« als eine Art 1789 gefeiert, als Einstieg der islamischen Welt in einen Prozess nachholender Demokratisierung nach westlichem Vorbild. Diese Analogie ist an Weltfremdheit kaum zu überbieten. Der Prozess der Durchkapitalisierung war schon in früheren Entwicklungsphasen nur in den Weltmarktgewinnerregionen mit einer Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am kapitalistischen Reichtum und einem halbwegs gleichberechtigten Interessenausgleich vereinbar. Aber selbst in Europa und den USA läuft diese Zeit aus. Der Triumph des totalen Marktes geht zwar tatsächlich mit einer Art Systemkonvergenz einher, deren Fluchtpunkt aber ist nicht die westliche Demokratie mit sozialstaatlicher Absicherung. Kapitalismus reimt sich heute vielmehr auf Ausschluss und einen neuen Typus von Entmündigung und Autoritarismus.

Dieser Trend ist keineswegs nur das Ergebnis bestimmter politischer Entscheidungen, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise auch wieder revidieren ließen. Er beruht vielmehr auf tiefgreifenden Veränderungen im System der kapitalistischen Reichtumsproduk­tion. Die Demokratisierung der westlichen Gesellschaften wurde nicht zufällig in einer Phase ­kapitalistischer Entwicklung durchgesetzt, in der das Kapital immer weitere Bevölkerungskreise als Arbeitskraftverkäufer und Konsumenten in den Verwertungskreislauf integrierte. Auch wenn sich die herrschende Klasse zunächst einmal mit Händen und Füßen wehrte, so entpuppten sich die demokratische Teilhabe dieser Neubürger und das Austarieren der immanenten Interessenunterschiede zwischen Kapital und Arbeit letztlich als für das System funktional.

Heute ist dagegen das Kapital bei seiner Selbstvermehrung auf Quellen angewiesen, bei deren Nutzung die breite Bevölkerung und ihr demokratisches Mitspracherecht nur ein Hindernis darstellen können. Das gilt erstens für die großangelegte Kapitalisierung digitaler Informationen, die nun einmal auf der Aushebelung der informationellen Selbstbestimmung beruht. Zweitens wird vor allem in den erfolgreichen Ländern der Weltmarktperipherie (zum Beispiel der Türkei und Brasilien) das Wachstum primär von einer atemberaubenden Kapitalisierung des Bodens und anderer Naturressourcen getragen; deren reibungsloses Funktionieren lässt sich indes umso besser garantieren, je mehr die von den negativen Folgen dieses Prozesses Betroffenen vom individuellen Überlebenskampf absorbiert und möglichst rechtlos sind. Und drittens schließlich gilt: Wie könnten die staatlichen Instanzen die marode Finanzindustrie am Laufen halten, wenn die »nichtsystemrelevante« Bevölkerungsmehrheit und deren Repräsentanten in den Parlamenten bei der Verabschiedung der diversen Rettungsmaßnahmen ein Wörtchen mitzureden hätten?

Wenn das warenproduzierende System sogar in seinen traditionellen Zentren mit geradezu atemberaubendem Tempo das Versprechen von Wohlstand und Teilhabe dementiert, mit dem es viele Jahrzehnte seine Herrschaft gerechtfertigt hat, muss das zu einer tiefen Legitimationskrise führen. Die überall aufflackernden Protestbewegungen dokumentieren diese. Diese Bewegungen machen indes zugleich sichtbar, wie tief der herrschende marktwirtschaftliche Irrsinn im Denken und Handeln verankert ist. Wo der spontane Aufschrei sich präziser zu artikulieren versucht, beschränkt sich das darauf, die entsorgten Ideale der bürgerlichen Gesellschaft gegen deren Wirklichkeit zu mobilisieren und die früheren Versprechen gegen die inzwischen etablierte Praxis. Unabhängig davon, ob der Protest sein unmittelbares Anliegen durchsetzen kann oder nicht, bleibt er auf dieser Grundlage in einem Kreislauf aus Resignation und kurzzeitiger Empörung gefangen und letztlich zum Scheitern verurteilt. Egal wie viele Abermillionen sich unter diesem Vorzeichen vorübergehend mobilisieren lassen, die wirklich gesellschaftsverändernde Kraft bleibt die kapitalistische Dynamik. Und die strategische Initiative in den an allen Ecken und Enden aufbrechenden gesellschaftlichen Konflikten liegt bei den Vorkämpfern von Verarmung, Vereinzelung und neuem Autoritarismus.

Damit sich daran etwas ändert und das Lager der Emanzipation die Fähigkeit zur Initiative zurückgewinnt, muss es den Grundwiderspruch überwinden, der es heute lähmt. Die warenproduzierende Gesellschaft bietet erstmals in ihrer Geschichte keine nennenswerten emanzipativen Spielräume mehr. Gleichzeitig sind alle darauf fixiert, die Lösungen der Malaise innerhalb des Rahmens der Diktatur von Ware, Geld und Staatlichkeit zu suchen.