05.01.2019 

Marx ist wichtig, aber er ist kein Zeitgenosse!

Anmerkungen zu Michael R. Krätkes „Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx“

von Richard Aabromeit

Die wenigsten gesellschaftskritisch denkenden Menschen unserer Tage bestreiten ernsthaft die Aktualität und Relevanz der Schriften von Karl Marx, ob sie sie selbst gelesen haben oder nicht; zumindest vom Hörensagen kennen doch viele das eine oder andere seiner Werke. Nun sind anlässlich des zweihundertsten Geburtstages von Marx (zur Erinnerung: er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren) eine Reihe von Büchern und anderen Publikationen erschienen, die seine Versuche, die ›kapitalistische Produktionsweise‹ – er selber spricht fast nie von ›Kapitalismus‹ – zu begreifen und zu kritisieren behandeln, seine Biographie mehr oder weniger gelungen wiedergeben, sowie die Aktualität seines Werkes und seiner Kritiken untersuchen. Darunter ist nicht allzu viel Lesenswertes oder gar Neues zu finden. Eine eher angenehme Ausnahme bietet das Buch »Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx« von Michael R. Krätke, erschienen 2017 im VSA: Verlag Hamburg (248 Seiten; 19,80 Euro). Es enthält eine Zusammenstellung von fünf teilweise aktualisierten Beiträgen, die in den Jahren 2005 bis 2011 »in der vorliegenden oder in einer stark gekürzten Form, auf Deutsch oder in einer anderen Sprache bereits veröffentlicht [wurden]« (S. 245), ergänzt durch eine kurze Einleitung. Krätke möchte gegen alle diejenigen Marxist/inn/en und Marxolog/inn/en vorgehen, die seiner Meinung nach Marx’sche Aussagen dogmatisiert oder missverstanden haben: »Dafür ist die Beschäftigung mit dem Hauptwerk des Zeitgenossen Marx unentbehrlich« (Klappentext). Krätke (*1950) ist »Professor für Politische Ökonomie an der ›Faculty of the Arts and Social Science‹ der Universität Lancaster« (S. 2) und Mitherausgeber der ›Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft‹ (spw), sowie Mitglied in den wissenschaftlichen Beiräten von ›attac‹, der ›Rosa-Luxemburg-Stiftung‹, sowie Mitarbeiter im wissenschaftlichen Beirat des ›Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V.‹. Ich denke, für alle an gesellschaftskritischer Theoriearbeit ernsthaft Interessierten stellt sein Buch einen akzeptablen Einstieg dar. Wenigstens gilt das für die ersten drei Kapitel, während die beiden letzten für mehr oder weniger Fortgeschrittene in Sachen Marxologie und Marxismus eine gute Gelegenheit bieten, sich an Krätke zu reiben. Und was alle vermeintlich oder tatsächlich ›fortgeschrittenen‹ Theoretiker/innen interessieren dürfte: Krätke hat eine Menge an »ungelösten Problemen der Marxschen Ökonomie« ausgemacht, die er nicht »in diesem Band, aber in einem folgenden« (S. 16) behandeln möchte. Was zusammenfassend in jedem Falle anerkannt werden muss: Krätke gehört zu den besten und belesensten Marx-Kennern im deutschsprachigen Raum unserer Zeit! Und das gilt aus meiner Sicht selbst dann, wenn man konzediert, dass Krätke kein Wertkritiker ist und es wohl auch nicht sein will.

Schon in der Einleitung macht Krätke klar, was Karl Marx‘ Hauptanliegen in Bezug auf den Kapitalismus war, und was nicht allen sich antikapitalistisch dünkenden Aktivist/inn/en auf Anhieb gefallen wird: »[…] er wollte ihn nicht aburteilen, sondern begreifen.« (S. 8). Und: »Er will die klassische politische Ökonomie vollenden und zugleich überwinden« (S. 10). Und Marx schätzte weder »heiße« noch »kalte Wut« (Dietmar Dath), denn er ahnte wohl, was Theodor W. Adorno knapp hundert Jahre später sagen würde: »Wer denkt, ist nicht wütend.« – Et vice versa!

Die Neue Marx-Lektüre…

…ist für Krätke u. a. ein »arroganter und uninformierter Blödsinn. Klingt zwar flott und modisch, hilft aber nur dem eigenen Ego.« (S. 49f.). Immer wieder ganz kurz, aber am längsten – fast eine Seite lang! – setzt sich Krätke mit der ›Neuen Marx-Lektüre‹ à la Michael Heinrich im Kapitel »Was treiben eigentlich die Kritiker der politischen Ökonomie?« (S. 76ff.) auseinander. Er möchte sie dort einordnen, wo sie seiner Meinung nach hingehört: »Was leistet die ›neue Marx-Lektüre‹ zur Aktualisierung, zur Wiederbelebung und Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie? Weniger als nichts. Sie gefällt sich in der Wiederholung von Einwänden gegen Marx« (S. 77). Das mag ein wenig übertrieben sein, aber von meiner Seite ist da nicht allzu viel hinzuzufügen.

Die Wertkritik…

…scheint Krätke gar nicht zu kennen; jedenfalls erwähnt er sie an keiner Stelle, auch nicht nebenbei. Trotz seiner oben schon genannten Marx-Belesenheit erliegt Krätke zuweilen eher keynesianischen Vorstellungen von Geldpolitik, beispielsweise wenn er schreibt: »Die Europäische Zentralbank EZB, die auf ihrer Nullzinspolitik beharrt, hätte im Krisenfall nichts mehr entgegenzusetzen – die Fed schon.«[1] Kritiklos unterstellt Krätke, dass durch ein anderes Verhalten der EZB, also einem, das sich demjenigen der Fed annäherte, ernstzunehmende Erfolge in der Krisenbekämpfung möglich wären. Es hätte ihm durchaus auffallen können, dass alle Instrumente aller Zentralbanken bestenfalls lediglich Krisenmoderation, nie aber Krisenüberwindung bewirken können.

Marx unser Zeitgenosse?

Krätke will den vor über 135 Jahren verstorbenen Marx partout zu unserem Zeitgenossen erklären, was er ja bereits im Untertitel hervorhebt; dazu hat er schon 2011 einen Beitrag: »Marx, notre contemporain« auf Französisch verfasst und in »Actuel Marx« (No 50) publiziert, aber auch im vorliegenden Buch nunmehr auf Deutsch. Nun, in einem gewissen, eingeschränkten Sinne  könnte man Marx durchaus auch heute als aktuell und daher als Zeitgenossen anerkennen: Z. B. bewahrheitet sich in der Gestalt der Globalisierung von Markt und Produktion Marx‘ Einsicht, dass die kapitalistische Produktionsweise den Weltmarkt zur Voraussetzung hat und diese sich allmählich – und heute sehr rasch und intensiv – durchsetzt. Außerdem können wir heute in aller schrecklichen Klarheit beobachten, wie die widersprüchliche Beschaffenheit und Entwicklung des allgemeinen Kapitalverwertungszwanges, die Marx über fast ein ganzes Werk hinweg dargelegt hat, sich immer deutlicher als krisenhaft erweist. Was aber einem dem 19. Jahrhundert angehörigen Denker noch nicht auffiel oder vielleicht auch gar nicht auffallen konnte, das waren zumindest zwei in unseren Tagen kaum noch zu leugnende, basale Tatsachen: Zum einen, dass die subjektiven Dispositionen der Menschen im Kapitalismus nicht nur einfach Nebensache sind und umstandslos aus ihrer ›Stellung im Produktionsprozess‹ ableitbar sind, was z. B. für das Verständnis von Antisemitismus wichtig ist. Kein Wunder ist es also, dass der traditionelle Marxismus die enorme Gefährlichkeit von Antisemitismus nicht begreifen konnte. Zum anderen hat sich der Marxismus positiv auf die bürgerliche Subjektform bezogen, so dass eine Kritik des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses nur oberflächlich angegangen wurde. Daher ist es auch kein Wunder, dass der Marxismus den Kapitalismus und erst recht dessen Produktionsprozess als geschlechtsneutral dachte und Sexismus als feudales Relikt ansah, dem durch eine ›Verstaatlichung der Küche‹ beizukommen wäre. Insofern ist Marx keinesfalls ein Zeitgenosse. Von diesen Einwänden einmal abgesehen, muss man Krätke dankbar sein, dass er sich entschlossen gegen alle möglichen Marxismen in Stellung bringt, seien sie orthodox, Mainstream oder sonst wie gestaltet. »Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin«, zitiert Krätke Karl Marx (S. 18). Und weiter: »Marx sprach […] nie von ›Historischem Materialismus‹, ebenso wenig verkündete er einen ›Dialektischen Materialismus‹« (ebd.). Marxens Kritik war eben unter anderem auch eine »Kritik der proletarischen Rechtsvorstellungen und Freiheitsillusionen, Kritik des hilflosen Antikapitalismus wie der Utopien der Arbeiterbewegungen« (S. 20) schreibt Krätke allen hilflosen Marx-Interpret/inn/en ins Stammbuch.

Der mühsame und »lange Weg zum ›Kapital‹« (S. 42ff.), den Marx gegangen ist, ist ein eigener Abschnitt bei Krätke. Anders als Norbert Wohlfahrt es in seiner Rezension behauptet, nämlich dass sich hier »eine Schwäche des Buches an[deutet], die auch in den folgenden Texten nicht korrigiert wird: Krätke analysiert die Aussagen des Kapital von Marx nicht darauf hin, was sie an der Wirklichkeit des Kapitalismus heute erklären, sondern mit Blick auf den Stellenwert, den sie für eine radikale Kritik der politischen Ökonomie haben bzw. haben könnten«[2], halte ich dies eher für eine Stärke des Krätke-Textes.

Kritik der politischen Ökonomie früher und heute

Dieses und das folgende Kapitel in Krätkes Buch sind meiner Ansicht nach die beiden interessantesten und sowohl für routinierte Marx-Kenner/innen als auch für weniger Geübte sehr informativ. Es geht um die »Politische Ökonomie – einst und jetzt« (S. 57ff.), sowie um deren Kritik. Wir erfahren, wie Marx seine Kritik der politischen Ökonomie u. a. an diejenige von Simonde de Sismondi (1773 – 1842) anknüpft und, selbige erweiternd, »gleich dreierlei Kritiken« leisten wollte: »Erstens ging es um die Kritik des modernen Kapitalismus […] Zweitens geht es […] um die Kritik der gängigen ökonomischen Theorien […] Drittens ging es um die ›Kritik der ökonomischen Kategorien‹« (S. 59f.). Schon das allein sind meines Erachtens gewichtige Stichworte und eine gute Motivation für Interessierte, sich in Marxens Schriften weiter zu vertiefen. Allerdings sollten Krätkes Ausführungen nicht derart verkürzt interpretiert werden, wie es Winfried Schwarz gerät, der Marx sozusagen auf den Kopf stellt, indem er ihn »quasi als ein ›Vollender‹ der klassischen Ökonomie«[3] apostrophiert.

Nach einem kurzen Schlenker zur ›postautistischen Ökonomik‹, also einer Ökonomie, die von Vertreter/inne/n – überwiegend »Elitestudenten einiger der Pariser Universitäten« – eines Aufstandes »gegen die Neoklassik« (S. 63) inszeniert wurde, widmet sich Krätke den »Spielarten der politischen Ökonomie heute«, die seiner Ansicht nach »in der Regel von Nicht-Ökonomen betrieben« (S. 68) werden. Er zählt drei davon auf: 1) Die Neue Politische Ökonomie (new political economy), 2) Die Internationale Politische Ökonomie (international political economy), sowie 3) Die Komparative Politische Ökonomie (comparative political economy). (vgl. S. 68ff.). Völlig zu Recht fordert er von einer Kritik der politischen Ökonomie, dass sie, will sie auf der Höhe der Zeit sein, »nicht nur der Entwicklung der Marxschen oder Marxistischen politischen Ökonomie folgen« dürfe; sie sei »weit mehr als das« (ebd.). Später wird er glücklicherweise noch konkreter: »Zu einer Kritik der politischen Ökonomie […] gehört erstens eine Kritik der neoklassischen Orthodoxie, zweitens eine Kritik der diversen Versuche, eine heterodoxe Sicht der ökonomischen Dinge zu begründen […] Dazu gehört drittens auch die Kritik der drei großen etablierten Subdisziplinen [s. o.], die unter dem Namen politische Ökonomie fahren.« (S. 75). Letztere seien »mitten im positivistischen Mainstream« und sie würden »immer neue Modelle« (S. 74) konstruieren, weswegen von Kapitalismuskritik keine Rede sein könne. Auch hier ist Krätke zuzustimmen.

Wo Marx unersetzlich bleibt

Im dritten Kapitel des Buches geht es wieder um eine Auseinandersetzung Krätkes mit der Ökonomik unserer Tage und ihren neoklassischen Varianten. Gut nachvollziehbar wirft er den heutigen Ökonom/inn/en vor, unfähig zu sein, »eine rationale Erklärung der alten und neuen Krisenphänomene zu liefern.« (S. 83). Nicht nur die Weltwirtschaft befände sich in einer »Großen Krise«, sondern »die herrschende Lehre der Ökonomie ebenso.« (ebd.). Allerdings übersieht Krätke, dass sich unter den Ökonom/inn/en unserer Tage kaum eine/r befindet, der/die sich in das Prokrustesbett der Neoklassik oder des Neoliberalismus zwängen ließe – nur: das ändert in der Tat nichts daran, dass sie allesamt in verkrusteten Bahnen denken und schreiben. Die auch in seinem Buch bereits erwähnte, in 2000 an der Sorbonne entstandene Bewegung der ›postautistischen Ökonomik‹ führt er nochmals als Beispiel für die Unzufriedenheit zahlreicher Ökonom/inn/en über den Zustand ihrer eigenen Disziplin an. Allerdings verspricht sich Krätke nicht allzu viel von dieser Bewegung, denn sie »eint im Moment wenig mehr als die Ablehnung der neoklassischen Orthodoxie und der fromme Wunsch nach mehr ›Realismus‹ und weniger Axiomatik« (S. 87). Dieser Ansicht schließe ich mich an. Von Marx ist bei der pluralen oder postautistischen Ökonomik weit und breit nichts zu hören und nichts zu sehen, und auch die Kritik am Treiben ihres Faches hält sich in engen Grenzen.  »Die am weitesten gehende Forderung der Postautisten ist zweifellos, dass die Neoklassik als ganzes nicht mehr an den Universitäten gelehrt werden sollte«[4], und sie fordern »einen Pluralismus wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze«[5], weil sich die Mainstream-VWL zu stark »von komplexen mathematischen Modellen hatte bezaubern lassen«[6] – und viel mehr ist dort inhaltlich nicht geboten. Marx hätte das wohl alles unter Vulgärökonomie subsumiert. Und fast schon verzweifelt ruft Krätke aus, als er feststellen muss, dass mit einer Kritik der (politischen) Ökonomie heute eigentlich »die Stunde Marx‘« gekommen sei: »Das ist aber ganz und gar nicht so.« (ebd.). Vielmehr genüge es »heute üblichen ›akademischen Standards‹ vollauf«, um Marx abzutun, »[s]ich in einem Halbsatz gegen den ›Determinismus‹, ›Ökonomismus‹ und/oder ›Reduktionismus‹ Marxens abzugrenzen« (S. 91). Auch dieser Abschnitt in Krätkes Buch motiviert ganz sicher den einen oder die andere zur kritischen Vertiefung – u. a. bei Interessierten außerhalb der ortho- oder auch der heterodoxen Wirtschaftslehre an den westlichen Akademien. Weshalb also dann bleibt Marx unersetzlich? Zunächst einmal, so Krätke, weil er den Standpunkt der Nationalökonomie selbst verlässt und so die durchaus bahnbrechenden Kritiken an der damaligen politischen Ökonomie beispielsweise seitens Charles Fourier (1772 – 1837), Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) und auch Piercy Ravenstone (1789 – 1832; eigentlich: Richard Puller) seinerseits einer scharfen Kritik unterzog. Diese Marx’sche Kritik »sollte dem hilf- und begriffslosen Antikapitalismus und Antiökonomismus der zeitgenössischen Linken auf die Sprünge helfen.« (S. 96). Und das gilt bis heute!

Im Folgenden legt Krätke dann gut verständlich und auch für Marx-Anfänger/innen sehr flüssig lesbar dar, wie Marx mit sich selber sowie mit der politischen Ökonomie und deren frühen Kritikern kämpfte mit dem erklärten Ziel, diese Wissenschaft zu vollenden und zugleich zu überwinden. Dabei weist Krätke eher nebenbei, nämlich in einer Fußnote, darauf hin, was Marx erkennen musste und was ich für sehr aktuell und dabei außerordentlich wichtig halte: »›Es zeigt sich […] wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie […] ihre Grenzen kennt.« (S. 102 Fn50; aus: MEGA II/2, 91). Unter vielem anderem auch gerade deswegen ist Marx bis heute unersetzlich.

Marx als Journalist

Im folgenden Kapitel, dem vierten und längsten, referiert Krätke Marxens langjährige Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist. Für eingefleischte Kenner/innen des Marx’schen Werkes und dessen Rezeptionsgeschichte sind diese 79 Seiten (aus dem Jahre 2006) eine lohnende und teilweise sehr erhellende Lektüre. Allerdings können auch geduldige Neulinge eine ganze Menge Nutzen aus diesem Abschnitt. Zwar übertreibt Krätke notorisch die Rolle Marxens als (Wirtschafts-) Journalist und versäumt es daher, dessen Hauptwerke und insbesondere dessen bahnbrechende Erkenntnisse – erinnert sei nur beispielhaft an die Aufdeckung der fundamentalen Widersprüchlichkeit des kapitalistischen Produktionssystems sowie die Wertanalyse – mehr ins Zentrum seiner Betrachtungen zu stellen, aber wie gesagt: als Einstieg tut es seine Dienste. Nimmt man die Zeitungsartikel von Marx (und teilweise von Engels), wie Krätke selbst empfiehlt, als Hintergrund und Ergänzung zur deren Hauptwerken, so bekommt man ein durchaus interessantes Bild von den Gedankengängen und deren Entwicklung der Autoren über die Jahre. Da Marx sich in seinen Artikeln auch häufig mit gerade stattfindenden Krisen befasste bzw. befassen musste, nutzt Krätke diesen Umstand, auch einige wichtige Erläuterungen zur Krisentheorie wiederzugeben. Abgesehen von zahlreichen mehr oder weniger bekannten Thesen, ragt aus meiner Sicht ein Hinweis heraus, der sich mit einem Thema befasst, das zwar heute in aller Munde ist, aber von nicht allzu Vielen auch gedanklich durchdrungen wird: die Finanzkrise. Dazu lohnt sich ein längeres Zitat: »Eine Lehre hat Marx aus seinen journalistischen Arbeiten klar gezogen: Die ›Momente(n) eigentlicher Geldcrisen‹ [MEGA II/2, 22] sind doppelt zu verstehen – Geldkrisen können als besondere Geldmarktstörungen auftreten, aber sie sind auch regelmäßig wiederkehrende Momente der allgemeinen Krisen. So unterscheidet er bereits in der ersten Auflage des ersten Buchs des Kapital in einer Fußnote im 3. Kapitel zwischen zwei Formen der Geldkrise: Einmal als ›Phase jeder Krise‹, und zweitens, davon ›wohl zu unterscheiden‹, die ›besonder(e) Krisenart, die man auch Geldkrise nennt, die aber ein ganz selbständiges Phänomen bilden kann, so dass sie auf Industrie und Handel nur rückschlagend wirkt‹. Diese Geldkrisen sind ›Krisen, deren Bewegungszentrum das Geldkapital ist, und deren unmittelbare Sphäre die Sphäre der Haupt- und Staatsaktionen des Geldkapitals, Bank, Börse, Finanz« [MEGA II/5, 94]. Eine bemerkenswerte Unterscheidung, mit der Marx andeutet, dass besondere Konjunkturen und Krisen des Geld- und Kapitalmarkts möglich sind, ja eigentliche Finanzkrisen, die vom Verlauf des industriellen und kommerziellen Zyklus unabhängig auftreten können.« (S. 197f.; Hervorh. i. Orig.). Die seit Ende der 1960er Jahre zu beobachtenden ›Finanzzyklen‹ neben den klassischen Konjunkturzyklen der (mehrwert-) produktiven Wirtschaftssphäre gehören hierher. Allerdings sollte niemand übersehen, dass Marx nur davon spricht, dass Finanzkrisen von den Industriekrisen unabhängig auftreten können, es aber nicht müssen. Dies bedeutet, dass letztendlich bis heute eine finale Loslösung des Finanzsektors von der Bewegung des fungierenden Kapitals keinesfalls stattgefunden hat. Vielmehr kennzeichnen die von Marx (und Krätke) aufgezeigten Geld- bzw. Finanzkrisen lediglich gegeneinander verselbständigte Bewegungen, deren innerer Zusammenhang jedoch stets derselbe bleibt: der Zwang der Kapitalverwertung um ihrer selbst willen. Die Sphäre des ›Realkapitals‹ bleibt ja trotzdem mit derjenigen des Finanzkapitals kategorial verbunden, und die Globalisierung findet auch auf der Ebene der fungierenden Kapitale statt, selbst wenn sich die Finanzwelt allmählich und immer mehr in der Vordergrund schiebt; nur: eine weitere Entkoppelung der beiden ›Sphären‹ ist zu erwarten. Eine endgültige Abkoppelung oder Trennung aber würde die finale Katastrophe bedeuten, denn das würde innerhalb des Kapitalverhältnisses nicht mehr Gültigkeit erlangen können. Dennoch – oder gerade deshalb – ist Krätkes Buch auch bei diesem Thema ein sehr fruchtbarer Ideengeber und Motivator und nicht zuletzt Marx auch an dieser Stelle unentbehrlich.

Das vermeintliche Marx-Engels-Problem

Zum Schluss widmet sich Krätke noch einem Thema, das seit dem Tode Marxens 1883 in den Debatten der sich meist selbst so nennenden Marxist/inn/en immer wieder hochkam: Hat Marx‘ bester Freund und lebenslanger Förderer die von ihm posthum herausgegebenen Werke Marxens verfälscht oder nicht? Und: Hat Engels die theoretischen und kritischen Erkenntnisse Marxens verflacht oder nicht? Nach Meinung Krätkes müsse die Antwort in beiden Fällen ganz klar ›nein‹ heißen, denn: »Marx selbst hat Engels als seinen kongenialen Partner bezeichnet« (S. 214). Und Karl Kautsky (1854 – 1938) folgend, der ob der Vorwürfe an Engels, dieser habe die Marx’schen Gedankengänge nicht korrekt erfasst und dessen Manuskripte falsch redigiert, fragte, ob denn er, Kautsky, den Marx’schen Gedankengängen näher käme, würde er seinerseits Texte auf der Basis der Marx’schen Manuskripte edieren, stellt Krätke die richtige Frage an uns Heutige: »Welche Gewähr haben wir, dass heutige Interpreten den ursprünglichen Marxschen Gedankengang besser treffen als Engels?« (S. 217). Wir haben keine, obwohl uns in der Form der neuen MEGA (Marx Engels Gesamtausgabe) Material zur Verfügung steht, das weitgehend authentisch und ziemlich vollständig ist. Nun liegen seit 2012 alle MEGA Bände der II. Abteilung (›Das Kapital‹ und Vorarbeiten dazu) vor, und somit können wir nun das, was »Engels selbst im Laufe seiner Redaktionsarbeit verändert, umgestellt, umformuliert bzw. ergänzt und erweitert hat […] en détail feststellen und im richtigen Kontext […] auch beurteilen. Damit sollte es mit der maßlos überzogenen Engels-Schelte eigentlich vorbei sein.« (S. 225). Diese sei ja ohnehin eher der dogmatischen Interpretation seitens des ZK der KPdSU Gelehrten geschuldet gewesen, die den »Mythos von den Dioskuren Marx-Engels« (S. 211) in die Welt gesetzt hätten, der dann wiederum vom »westlichen Marxismus« in eine »verständliche Aversion […] umgeschlagen« (ebd.) sei.

Ich bin durchaus Krätkes Meinung, dass Friedrich Engels‘ Auffassung und Bearbeitung der Marx’schen Originaltexte im Rahmen des zu berücksichtigenden work-in-process dieser Texte einigermaßen korrekt war. Was bei Krätke jedoch nicht auftaucht, aber sicherlich eine eigene Untersuchung wert wäre, das ist die Frage, ob vielleicht Engels sich mehr an dem ›exoterischen‹ Marx orientiert hat, also an dem Teil des Marx’schen Werkes, der sich auf die Arbeiterbewegung und das Kommunistische Manifest bezieht, als an dem »ganz anderen Marx einer viel tiefer gehenden Kapitalismuskritik, die auf den basalen Formzusammenhang des modernen warenproduzierenden Systems zielt«[7].

Vielleicht geht Krätke ja in einem möglichen Folgeband darauf näher ein?

 


Fußnoten

[1] So Krätke in »der Freitag« vom 4. Januar 2019.

[2] vgl. socialnet.de/rezensionen/22975.php.

[3] Schwarz, Winfried; Anmerkungen zu Krätkes »Zeitgenosse Marx«; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 111 (September 2017).

[4] Beckenbach, Frank; Postautistische Mikroökonomik: ein Kommentar; in: Thomas Dürmeier, Tanja von Egan-Krieger und Helge Peukert (Hg.); Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre; Marburg 2006. S. 79.

[5] Thomas Dürmeier, Tanja von Egan-Krieger und Helge Peukert im Vorwort zu: Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre; Marburg 2006. S. 10.

[6] Campbell, Deborah; Postautistische Ökonomik; übers. von Dirk Tegdmeyer; in: Thomas Dürmeier, Tanja von Egan-Krieger und Helge Peukert (Hg.); Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre; Marburg 2006. S. 194.

[7] Kurz, Robert; Marx lesen! Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert; Frankfurt am Main 2006; S. 12