23.09.2021 

Die Metamorphosen Gottes

Über den inneren Zusammenhang von Religion und Kapitalismus

von Norbert Trenkle

Dieser Text beruht auf einem Zoom-Vortrag vom 31. Mai 2021, der hier einsehbar ist: https://www.youtube.com/watch?v=6SNtfSUXi4o

1. Das Erstarken neoreligiöser Bewusstseinsformen, Bewegungen und Fundamentalismen in den letzten Jahrzehnten ist von der liberal-demokratischen und linken Öffentlichkeit zunächst mit großem Erstaunen zur Kenntnis genommen worden. Bis in die 1980er und 90er Jahre hinein herrschte die Vorstellung vor, dass mit der Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auch die Religion und das religiöse Denken nach und nach zurückgedrängt würden. Dahinter stand die klassische modernisierungstheoretische Vorstellung, der Kapitalismus sei ein durch und durch rationales System und gehe mit einer säkularen Lebensführung einher, die Religion letztlich zum Verschwinden bringe. Die allgemein konstatierte „Wiederkehr der Religion‟ ist vor diesem Hintergrund folgerichtig als Einbruch vormoderner, traditioneller Denk- und Bewusstseinsformen in den Prozess der Moderne wahrgenommen worden.

Liberale und Teile der traditionellen Linken nehmen das zum Anlass, nun erst recht, das hochzuhalten, was sie für zentrale Errungenschaften der kapitalistischen Moderne halten: die Säkularisierung und die „Werte der Aufklärung‟. Diese sollen notfalls mit aller Härte gegen all jene Kräfte verteidigt werden, die vermeintlich für einen Rückfall in vormoderne und archaische Muster stehen, vor allem gegen „den Islam‟, der als eine besondere Bedrohung identifiziert wird.

Auf der anderen Seite ist aber auch das Lager derjenigen gewachsen, die dem Vormarsch vorgeblich vormoderner, religiöser Denkweisen und Ideologien prinzipiell positiv gegenüberstehen, weil sie darin eine Bestätigung ihres eigenen antimodernistischen Weltbildes erkennen, wonach die moderne Rationalität „seelenlos‟ und „wurzellos‟ sei und auf den Müllhaufen der Geschichte gehöre. Gegen „den Islam‟ (oder das, was sie darunter verstehen) positionieren sie sich nur deshalb, weil sie durch ihn „das Abendland‟ bedroht sehen. Darin sehen sie einen Weckruf, sich endlich wieder auf den angeblich unwandelbaren Kern der „eigenen‟ (christlich-abendländischen, deutschen, polnischen, ungarischen, russischen etc.) Kultur zu besinnen (Trenkle 2008).

2. Beide Sichtweisen ideologisieren auf je ihre Weise das Phänomen des religiösen Fundamentalismus. Tatsächlich stellen die modernen Formen der Religiosität keinen Rückfall in traditionelle Denk- und Verhaltensmuster dar, sondern lassen sich nur aus der historisch-spezifischen Form kapitalistischer Vergesellschaftung erklären. Was diese Form in ihrem Innersten ausmacht, ist zunächst das Prinzip ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit (Trenkle 2019). Die Menschen treten sich als vereinzelte Einzelne gegenüber und stellen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang darüber her, dass sie ihre privaten Arbeitsprodukte miteinander in Beziehung setzen. Daraus ergibt sich zum einen, dass die persönlichen Beziehungen einen fremden und äußerlichen Charakter annehmen; zum anderen erzeugen die Menschen, indem sie auf diese Weise in Beziehung treten, einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der ihnen als fremde Macht gegenübertritt, also eine spezifische Form versachlichter Herrschaft, die als „natürlich‟ und unaufhebbar erscheint.

Diese Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen ist im Anschluss an Max Webers berühmte Formulierung oft als „Entzauberung der Welt‟ beschrieben worden. Doch das zielt am Kern der Sache vorbei. Denn sosehr die kapitalistische Gesellschaft nach dem Prinzip der „Sachlichkeit‟ und der „instrumentellen Vernunft‟ (Horkheimer) funktioniert, so sehr ist dieses Prinzip doch gerade Ausdruck davon, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber ihren Akteur*innen verselbstständigt haben und außerhalb ihres bewussten Zugriffs liegen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die kapitalistische Gesellschaft einen spezifischen metaphysischen Charakter hat (Lohoff 2005), also selbst quasi-religiöse Züge trägt (vgl. dazu den Text von Karl-Heinz Lewed in diesem Band). Nur werden die Menschen hier nicht, wie Marx in seinen Bemerkungen über den Fetischcharakter der Ware schreibt, von den Produkten ihres Kopfes beherrscht, die sie in den Himmel projizieren, wie die Menschen in früheren Epochen; vielmehr sind es die Produkte ihrer Privatarbeit, die sich zu einer scheinbar fremden Macht entwickeln, der sich die Menschen unterwerfen müssen.

3. Diese merkwürdige Verkehrung findet auch ihre Entsprechung in den Köpfen, also in der Art, wie die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang wahrnehmen. Da sie diesen nicht durchschauen, wird er ideologisiert und mystifiziert. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Sehr verbreitet ist etwa die Ontologisierung der bürgerlichen Verhältnisse als „natürlich‟ oder „dem Menschen‟ entsprechend. Nicht weniger beliebt sind aber auch religiös geprägte Wahrnehmungsmuster. Diese mögen auf den ersten Blick als „traditionell‟ und „vormodern‟ erscheinen, beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie adäquat nur aus der inneren Logik der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise und ihrer historischen Binnenentwicklung erklärt werden können.

In der frühen Neuzeit, als sich die ersten Ansätze kapitalistischer Verhältnisse im Schoße der europäischen Feudalgesellschaft herausbildeten, war die ideologische Flankierung des stattfindenden gesellschaftlichen Umbruchs noch ganz geprägt vom christlichen Weltbild. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die protestantische Ethik, die die Durchsetzung der kapitalistischen „Tugenden‟ wie rastloser Arbeitswut und individueller Erfolgsorientierung flankiert.1 Auch das bürgerliche Familienmodell und die dazugehörigen binären Geschlechtsidentitäten kommen zunächst in christlichem Gewand daher. Fand schon in der Gotik und der Frührenaissance eine ikonographische Aufwertung der „Mutter Gottes‟ und der „Heiligen Familie‟ statt, so trugen die Hexenverfolgungen auf brutale Weise zur Durchsetzung der modernen geschlechtlichen Abspaltung bei: die Herstellung der rational zugerichteten „Männlichkeit‟ ging mit der Vernichtung der abgespaltenen, sinnlich-emotionalen Momente an „den Frauen‟ einher.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Aber darauf kommt es hier nicht an. Festzuhalten ist vielmehr , dass sich das kapitalistische Fetischsystem aus dem christlichen Fetischsystem heraus entwickelt. Das ist nicht nur im Sinne einer bloßen historischen Abfolge gemeint. Vielmehr sind bestimmte Grundmuster der kapitalistischen Vergesellschaftung im Monotheismus im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen bereits angelegt. Das soll nicht heißen, dass sich der Kapitalismus aus dem Christentum heraus entwickeln musste; eine solche übergreifende, transhistorische „Logik der Geschichte‟ existiert nicht. Dennoch gibt es deutliche Kontinuitäten, insbesondere was die Subjektkonstitution und die Herstellung des abstrakten Individuums betrifft (schon Marx sprach vom Kultus des abstrakten Menschen im Christentum2). Dabei ist freilich auch zu bedenken, dass es „das Christentum‟ nicht gibt, sondern dieses selbst permanenten historischen Wandlungen unterliegt, die sich aus den Veränderungen der gesellschaftlichen Lebens- und Herrschaftsverhältnisse ergeben und auf diese zugleich zurückwirken. So hat zwar die protestantische Ethik ihre Wurzeln in der klösterlichen Lebensweise, doch mit dem Wandel von der „innerweltlichen‟ zur „außerweltlichen Askese‟ vollzieht sich eine grundlegende Veränderung der Weltbeziehung, die einen qualitativen Bruch mit dem mittelalterlichen Universum darstellt. Die Arbeit entwickelt sich nun zum Zentralgestirn, um das die gesamte Gesellschaft kreist. Und in dem Maße, wie sich die kapitalistische Produktionsweise allgemein durchsetzt, überformt sie auch die christlichen Glaubensinhalte und verwandelt sie sich an.3 Deshalb kann die moderne Religiosität auch nicht mehr durch Rückgriff auf irgendwelche Traditionen und durch theologische Auslegungen von alten Schriften erklärt werden, wie es heute gerade im Hinblick auf „den Islam‟ gerne gemacht wird; vielmehr muss sie in Bezug gesetzt werden zu den Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung und deren historischer Entwicklung.

4. Einen weiteren qualitativen Einschnitt im Verhältnis von religiösen Denkformen und kapitalistischer Vergesellschaftung markiert die Herausbildung säkularer Formen fetischistischer Weltdeutung im 19. Jahrhundert, die fortan hegemonial werden sollten. Diese Weltdeutungen stellen zwar einen Bruch mit den religiösen Inhalten dar, den Formen nach geht der christliche Glaube jedoch in vielfacher Weise in sie ein. Nicht zufällig hat sich für Ideologien wie den Nationalismus, den technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsglauben und die Überhöhung der Arbeit der Begriff der Säkular- oder Diesseitsreligionen eingebürgert. Der Grund für diese Kontinuität sind allerdings nicht irgendwelche Restbestände traditioneller Religiosität, die noch überwunden werden müssten. Vielmehr verweist die religiöse Überhöhung der kapitalistischen Kategorien und Institutionen auf den fetischistischen Charakter dieser gesellschaftlichen Konfiguration.

Dennoch kann man von einem Einschnitt in der historischen Entwicklung insofern sprechen, als sich die Säkularreligionen in ihren Heilsversprechen nicht mehr auf irgendein Jenseits beziehen, sondern sich ganz diesseitig geben, auch wenn sie sich tatsächlich auf eine Herrschaftsform beziehen, die aufgrund der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Beziehungen selbst quasi-metaphysische Züge trägt. Religion im engeren Sinne, also jene, die am Jenseitsglauben festhält, gerät angesichts dieser Hegemonie der Säkularreligionen in die Defensive und verliert ihren allgemeinverbindlichen und eigenständigen Charakter als Weltdeutung. Tendenziell entwickelt sie sich – zumindest in den kapitalistischen Zentren – in zwei Richtungen. Zum einen verwandelt sie sich in ein stark individualisiertes Angebot der „Sinngebung‟ für die vereinzelten Einzelnen. Zum anderen verbindet sie sich mit den kapitalistischen Institutionen und Säkularreligionen und wird in diese integriert.

Die erste Tendenz tritt am augenscheinlichsten in der Esoterik zutage. Schon deren Urform, die Theosophie, ist ein wilder Mischmasch aus Versatzstücken, die sich ihre Begründerin, Helena Blavatsky, im späten 19. Jahrhundert aus den verschiedensten Religionen, Mythen und magischen Vorstellungswelten zusammengeklaubt hat. Erfolgreich war sie damit zunächst vor allem bei Angehörigen des Großbürgertums (und hier vor allem bei Frauen), die mit den verkrusteten Formen institutionalisierter Religion nicht mehr viel anfangen konnten, aber dennoch Halt in irgendwelchen Jenseitsvorstellungen suchten. Seitdem hat eine explosionsartige Vermehrung von esoterischen Gruppen, Sekten und Bewegungen stattgefunden, die im Prinzip die immergleichen Grundelemente neu kombinieren und sie mit jeweils aktuellen gesellschaftlichen Inhalten füllen. Wesentlich dabei ist stets die Überzeugung, „sich selbst‟ zu finden und als Individuum unmittelbar Zugang zu irgendwelchen „ewigen Wahrheiten‟, zum „Universum‟ oder zu irgendeiner „Ganzheit‟ zu erlangen. Was aber anfangs noch wenigstens teilweise eine Befreiung aus den starren bürgerlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts war – genauer gesagt: eine Freisetzung abstrakter Individualität –, ist längst zu einem massenhaften Betätigungsfeld des grassierenden Narzissmus geworden, der ein Kernelement der modernen Subjektform darstellt (Samol 2016; Bösch 2000).

Die zweite Tendenz zeigt sich am deutlichsten an der Verbindung von institutionalisierten Religionen und staatlicher Herrschaft. Neben den Schulen und dem Militär spielten die Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert fast überall eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Gehorsam gegenüber dem Staat und von kapitalistischer Arbeitsethik sowie bei der Durchsetzung des bürgerlichen Familienmodells samt den dazugehörigen Geschlechtsidentitäten. Zudem gingen in vielen Ländern religiöse Motive in die nationalen Identitätskonstrukte ein, vor allem soweit diese dazu geeignet waren, in einem multiethnischen Umfeld Abgrenzungen und Ausschlüsse zu definieren. Andererseits gab es aber auch Verbindungen zwischen religiösen Motiven und emanzipativen Strömungen, etwa in Gestalt des „christlichen Sozialismus‟ oder der Theologie der Befreiung. In jedem Fall jedoch überlebte die Religion nur, indem sie sich in ein Moment der kapitalistischen Vergesellschaftungsform verwandelte.

5. Demgegenüber mag der Aufschwung religiöser Fundamentalismen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, die sich angeblich auf die Ursprünge des „wahren Glaubens‟ berufen, auf den ersten Blick als die Rückkehr archaischer und vormoderner Formen von Religiosität erscheinen. Doch der Schein trügt. Diese „Religionismen‟ (Lohoff 2008) sind ihrem Wesen nach höchst modern. Sie bedienen das Bedürfnis nach kollektiver Identität, das mit der Zerstörung der vormodernen Vergemeinschaftungsformen und der Durchsetzung der Vereinzelung als gesellschaftlichen Grundprinzips entsteht. Die Identifikation mit einem imaginierten Großsubjekt folgt dem Drang, sich aus dieser Vereinzelung und dem damit einhergehenden Ohnmachtsgefühl zu befreien – was allerdings das gerade Gegenteil von Emanzipation im emphatischen Sinne bedeutet, weil es einer Auflösung, Gleichschaltung und Vernichtung des Individuums gleichkommt. Die Urform davon findet sich jedoch nicht in den traditionellen Religionen und Kulturen, sondern in den modernen Kollektividentitäten, insbesondere im Nationalismus, der im 19. und 20. Jahrhundert eine entscheidende Triebkraft für die Durchkapitalisierung und Durchstaatlichung der Welt darstellte.

Auch die Berufung auf vorgeblich uralte Traditionen und mythische Ursprünge verweist auf den modernen Charakter der Religionismen. Denn es gehört zu den Grundmerkmalen essentialistischer Identitätskonstrukte, dass sie sich stets auf ein vorgängiges „Wesen‟ oder irgendwelche mystifizierten Ursprünge beziehen, die als Gegenbild zur „Künstlichkeit‟ und „Leere‟ der kapitalistischen Rationalität und des modernen Staates erfunden werden. Wenn die diversen Religionismen sich auf irgendwelche göttlichen Offenbarungen und religiösen Traditionen berufen statt auf „Kulturen‟ und „Nationalvölker‟, wurde damit zwar der Inhalt ausgetauscht, das Grundmuster jedoch ist identisch. Der Inhaltswechsel aber verweist auf eine gesellschaftliche Veränderung.

Die religiösen Fundamentalismen von heute treten das Erbe dieser Säkularreligionen an, die in der Ära des Krisenkapitalismus ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, weil sie ihre (ohnehin fragwürdigen) Zukunftsversprechen nicht mehr einlösen können (Lohoff 2008; Lewed 2008). Augenscheinlich ist das vor allem dort, wo aufgrund von Kolonialismus und Post-Kolonialismus die nachholende Bildung von National- und Rechtsstaaten fast unmittelbar in deren krisenhaften Zerfall eingemündet ist. Es ist kein Zufall, dass hier der Religionismus, insbesondere in seiner islamistischen Ausprägung, den Nationalismus und den mit ihm verbundenen „Sozialismus‟ weitgehend abgelöst hat. Denn gerade in Krisen wächst das Bedürfnis der vereinzelten Einzelnen nach einem scheinbar Schutz gebenden Großsubjekt, und da es im Diesseits nicht mehr viele Anhaltspunkte dafür gibt, wird die Kollektividentität eben aus den Versatzstücken der alten Jenseitsreligionen konstruiert.

6. Als höchst modern erweisen sich die Religionismen aber auch darin, worin sie sich am archaischsten gebärden. Der Fundamentalismus, der ja vorgeblich zu den „wahren Ursprüngen‟ zurückwill, ist bereits eine Form der Reaktion auf die Erschütterung aller traditionellen Selbstverständlichkeiten, die gerade weil sie selbstverständlich waren, keines rigiden Dogmatismus bedurften. Und das, was dieser Dogmatismus dann als „Fundament‟ bezeichnet, ist nichts als eine ziemlich willkürliche Konstruktion, die sich zwar aus dem historischen Fundus der Religionen bedient, diese aber nach Mustern arrangiert, die alles andere als vormodern sind. Das ist gerade für den Islamismus im Einzelnen sehr genau nachgezeichnet worden (etwa durch Olivier Roy 2006 oder Thomas Bauer 2011), dennoch hält sich hartnäckig das Bild, es handle sich dabei um ein „Zurück zur Tradition‟. Partiell richtig daran ist nur, dass der Dogmatismus, die rigide Unterscheidung zwischen „Wahrheit‟ und „Häresie‟, mit dem Monotheismus in die Welt tritt (Assmann 2003)4 und es in diesem Sinne eine lange Kontinuität gibt. Doch diese Vorgeschichte betrifft die kapitalistischen Denkformen insgesamt und taugt daher nicht für eine Abgrenzung zwischen vorgeblicher moderner „Offenheit‟ und religiös-verbohrter „Tradition‟.

Für die Modernität des Fundamentalismus spricht zudem, dass dieser auch in den Kostümen solcher Religionen daherkommt, die ihrer Geschichte nach gar keinen Wahrheitsfanatismus im monotheistischen Sinne kennen, wie insbesondere der Hinduismus und der Buddhismus. Dass nun auch der Fundus dieser Religionen genutzt wird, um exkludierende Kollektividentitäten zu konstruieren (einschließlich Pogromen, wie etwa gegen die Rohingya in Myanmar), erklärt sich nur aus dem Import dieser Muster im Gefolge der kapitalistischen Durchdringung der betreffenden Gesellschaften. Auch der traditionelle „Volksislam‟ war monotheistisch nur dem Namen nach. In ihm wimmelte es – genau wie im mittelalterlichen Katholizismus – nur so vor Heiligen, Geistern und sonstigen Elementen des Polytheismus sowie allen möglichen Formen von Spiritualität und des Mystizismus. Es sind gerade die angeblich so vormodernen Taliban und andere islamistische Fanatiker, die nun alles daransetzen, diese Traditionen (vor allem den Sufismus) brutal auszumerzen und die „eine Wahrheit‟ durchzusetzen, ganz so, wie mit der kapitalistischen Vergesellschaftung die ganze Welt unter ein Prinzip unterworfen wird.

7. Noch in einer weiteren Hinsicht zeigt sich schließlich der moderne Charakter der neoreligiösen Fundamentalismen. Nicht anders als die esoterischen Zirkel sind auch sie äußerst attraktiv für „Sinnsuchende‟ jeder möglichen Herkunft, die einen identitären Halt suchen, um dem Leiden an der atomisierten Existenzweise zu entkommen. Häufig ist in diesem Zusammenhang von „Konvertiten‟ die Rede. Allerdings verweist dieser Begriff schon auf ein grundlegendes Missverständnis; er suggeriert traditionelle Religionszugehörigkeiten, die durch Missionierung und Übertritte verändert werden. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um vereinzelte Einzelne, die oft schon zwischen den verschiedensten modernen Identitätsangeboten hin- und hergewechselt sind, bis sie zum Beispiel in irgendeiner islamistischen Gruppe vorübergehend eine neue identitäre Heimat gefunden haben. Auch in den sogenannten islamisch geprägten Ländern haben oft gerade die fanatischsten Islamisten eine säkulare oder politisch linke Vergangenheit; soweit sie sich also auf ihre Herkunft berufen, hat dies deutlich erkennbar einen konstruierten Charakter (Roy 2005).

Wir haben es also nicht mit einer Alternative zwischen modernem Individualismus und vormodernem Kollektivismus zu tun, sondern mit den Polen eines Gegensatzpaares, die jederzeit ineinanderfallen und die alle möglichen Inhalte annehmen können. So gibt es auch extrem kollektivistische esoterische Sekten, deren Mitglieder sich so sehr selbst aufgeben, dass sie sogar gemeinsamen Selbstmord begehen. Umgekehrt kennt auch der Islamismus das Phänomen einer Vielzahl von Splittergruppen, die alle ihre eigene handgestrickte Version „des Islam‟ vertreten und sich vehement voneinander abgrenzen. Von den teils sehr anspruchsvollen theologischen Disputen aus der langen islamischen Geschichte haben diese Gruppen in aller Regel gar keine Ahnung und sie sind auch gar nicht daran interessiert. Auch darin erweisen sie sich als hochmodern; es ist der narzisstische Größenwahn der abstrakten Individuen, der sie glauben lässt, sie könnten ohne jede größere intellektuelle Anstrengung einen unmittelbaren Zugang zu einer absoluten „Wahrheit‟ finden. Bezeichnend dafür ist auch, dass die islamistischen nicht anders als die esoterischen Kreise extrem anfällig sind für die grassierenden Verschwörungsideologien.

8. Auch die andere große neoreligiöse Strömung, die der Evangelikalen, tritt in vieler Hinsicht das Erbe der verblichenen und in die Krise geratenen Säkularreligionen an. Ihre Hochkonjunktur setzt mit dem Scheitern des Befreiungsnationalismus in der kapitalistischen Peripherie und dem Beginn der neoliberalen Ära ein, die einen Schub krisenhafter Individualisierung auslöste. Besonders in Lateinamerika und Afrika wurden die Menschen massiv aus den teilweise noch erhaltenen traditionellen Lebensverhältnissen herausgerissen und „freigesetzt‟, ohne aber einer wirkliche Perspektive als Warensubjekte und Staatsbürger*innen zu erhalten. Unter diesen Bedingungen stellen die evangelikalen Sekten mit ihrer merkwürdigen Mischung aus protestantischer Arbeitsethik, berauschenden Gemeinschaftserlebnissen, oberflächlich inszenierten „Wundern‟ nach den Machart billiger Fernsehshows, Endzeitvorstellungen etc. ein attraktives Angebot dar, das auf verquere Weise die Lebenswirklichkeit von Menschen spiegelt, die dazu verdammt sind, in einem verwilderten Krisen-Kapitalismus unter prekärsten Bedingungen alltäglich um ihr Überleben zu kämpfen. Allerdings darf dabei auch nicht vergessen werden, dass die „Kirchengemeinden‟ in aller Regel auch soziale Funktionen erfüllen, indem die Mitglieder sich gegenseitig unterstützen. Das gilt übrigens genauso für die meisten islamistischen Gruppierungen, die ihre Anhänger*innen ebenfalls materiell und sozial unterstützen und diese dadurch zusätzlich an sich binden.

In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass die neoreligiösen Gemeinden, egal welcher Couleur, eine Leerstelle füllen, die der abwesende Staat hinterlassen hat. Ein einigermaßen funktionierender Staat ist unter kapitalistischen Bedingungen unentbehrlich, um den allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang zu sichern, der durch die zentrifugalen Kräfte der Konkurrenz und der unzähligen Privatinteressen permanent in Frage gestellt wird. Der Zerfallsprozess staatlicher Institutionen verweist auf eine grundlegende Krise der kapitalistischen Ordnung, die längst nicht nur in den Ländern des globalen Südens, sondern auch in den kapitalistischen Zentren um sich greift. Die religionistischen Gruppen bieten den vereinzelten Einzelnen in dieser Situation einen identitären und (einen gewissen) materiellen Halt, jedoch nur in der Gestalt von zersplitterter Gruppensolidarität und Klientelismus; genau darin reflektieren sie den Zerfall der warengesellschaftlichen Kohärenz und treiben diesen zugleich weiter voran. Die aktuelle Konjunktur der religiösen Fundamentalismen stellt also keinen Rückfall in die Vormoderne dar. Sie ist gleichermaßen Symptom wie dynamisierendes Moment einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Moderne, die sich als zunehmend unhaltbar erweist.

Literatur

Assmann, Jan (2003). Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien: Carl Hanser Verlag

Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islam. Berlin: Insel Verlag

Bösch, Robert (2000): Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Zur Psychopathologie des bürgerlichen (d.h. männlichen) Subjekts. In: Krisis . 23, Münster 2000, 99-120

Cantzen, Rolf (2021): Heiliger Josef – Der brave Arbeitsmann. Feature im Deutschlandfunk vom 21.7.2021. https://www.deutschlandfunk.de/heiliger-josef-der-brave-arbeitsmann.2540.de.html?dram:article_id=499653

Lewed, Karl-Heinz (2008): Finale des Universalismus. In: Krisis 32, Münster 2008. Online abrufbar unter: http://www.krisis.org/2008/finale-des-universalismus

Lohoff, Ernst (2005): Die Verzauberung der Welt.In: Krisis 29, Münster 2005. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2005/die-verzauberung-der-welt/

Lohoff, Ernst (2008): Die Exhumierung Gottes, Krisis 32, Münster 2008. Online abrufbar unter: http://www.krisis.org/2008/die-exhumierung-gottes

MEW 23 = Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin (Ost) 1983

Roy, Olivier (2005): Wiedergeboren, um zu töten. Der terroristische Islamismus ist keine traditionelle, sondern eine höchst moderne Glaubensrichtung. Sie wurzelt in Europa, in: DIE ZEIT 21. Juli 2005

Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung; München 2006.

Samol, Peter: All the Lonely People. Narzissmus als adäquate Subjektform des Kapitalismus. Krisis 4/2016 http://www.krisis.org/2016/all-the-lonely-people-krisis-42016/

Trenkle, Norbert (2008): Kulturkampf der Aufklärung. In: Krisis 32, Münster 2008. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2015/gottverdammt-modern/www.krisis.org/2008/kulturkampf-der-aufklaerung

Trenkle, Norbert (2019): Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit. Der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft als Kernpunkt gesellschaftskritischer Theorie. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2019/ungesellschaftliche-gesellschaftlichkeit/

Fußnoten

1 Darauf hat übrigens auch Marx schon hingewiesen: „Der Protestantismus spielt schon durch seine Verwandlung fast aller traditionellen Feiertage in Werktage eine wichtige Rolle in der Genesis des Kapitals.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 292, Anm. 124.

2 „Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werten, zu verhalten und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehen als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deismus usw. die entsprechendste Religionsform.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 93.

3 Sehr plastisch lässt sich das an der Rolle des Josef nachzeichnen, der im mittelalterlichen Glaubenskanon praktisch keine Rolle spielte, im Zuge der aufkommenden Modernisierung aber immer weiter aufgewertet und zur Identifikationsfigur sowohl des braven Familienvaters als auch des fleißigen Arbeitsmannes gemacht wird (Cantzen 2021).

4 Vgl. auch den Beitrag von Peter Samol zu dieser Religionsdebatte: „Von der Entstehung des Monotheismus‟.