09.12.2023 

Ausgebremst. Das Urteil zur Schuldenbremse bringt die Bundesregierung in die Bredouille

Das Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Schuldenbremse nicht mehr so einfach umgangen werden kann. Jetzt fehlen etliche Milliarden Euro im Bundeshaushalt, vor allem für Industriesubventionen. FDP und Union wollen bei den Sozialausgaben sparen.

von Peter Samol

Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/49 vom 07.12.2023

Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht einen Bundeshaushalt für nichtig erklärt. Dort klafft seit dem Urteil vom 15. November ein Milliardenloch. Konkret ging es darum, ob die Bundesregierung 60 Milliarden Euro, die eigentlich zur wirtschaftlichen Bewältigung der Covid-19-Pandemie gedacht waren, für den sogenannten Klima- und Transformationsfonds (KTF) umwidmen durfte.

Dass Mittel von einem Budgetposten zum anderen geschoben werden, ist eigentlich ein normaler Vorgang. Dass es in diesem Fall verfassungswidrig war, liegt an der sogenannten Schuldenbremse. Sie schreibt vor, die Haushalte von Bund und Ländern ohne Kreditaufnahme auszugleichen. Ausnahmen gibt es nur in außergewöhnlichen Notlagen – wie der Covid-19-Pandemie. 2021 konnte die Bundesregierung deshalb zusätzliche Schulden aufnehmen, von denen dann allerdings 60 Milliarden Euro nicht ausgegeben wurden. Das Geld wurde für den KTF umgewidmet, um es in den folgenden Jahren für andere Zwecke auszugeben. De facto war das eine Umgehung der Schuldenbremse. CDU-Abgeordnete klagten dagegen – und bekamen nun vom Bundesverfassungsgericht recht. Die Bundesregierung habe den Zusammenhang zwischen dem Klima-Transformationsfonds und der Notsituation durch die Pandemie nicht ausreichend begründet, die Umwidmung sei daher nichtig. Nun fehlen 60 Milliarden Euro im KTF, der unter anderem die Transformation der deutschen Industrie finanzieren soll. Es geht um Subventionen für neue Chipfabriken oder für die Umrüstung von Stahlwerken zur Produktion von „grünem Stahl“.

Und das war noch nicht alles. Eine Woche später gab das Bundesfinanzministerium bekannt, dass auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) gesperrt werden musste, besser bekannt als „Doppelwumms“. Die Bundesregierung hatte den Fonds 2022 mit 200 Milliarden Euro ausgestattet, um die Energieverteuerungen in Folge des russischen Angriffskriegs abzufedern. Der Bundestag bewilligte den Fonds für die Jahre 2022 bis 2024. Aus ihm wurden seitdem die sogenannten Strom- und Gaspreisbremsen für Verbraucher sowie entsprechende Stützungsmaßnahmen für Unternehmen finanziert.

In dem Urteil vom 15. November hat das Bundesverfassungsgericht nun jedoch entschieden, dass bei einer Aussetzung der Schuldenbremse die entsprechenden Kredite in dem Jahr genutzt werden müssen, für das die Notsituation erklärt wurde. Damit steht in Frage, ob die Mittel des WSF auch nach 2022 noch verwendet werden dürfen. Aus dem Fonds sind 2023 bereits knapp 30 Milliarden Euro ausgeschüttet worden, für 2024 waren etwa 15 Milliarden geplant.

Die Bundesregierung war deshalb gezwungen, für das laufende Jahr einen Nachtragshaushalt zu beschließen und die Schuldenbremse erneut auszusetzen. Sollte der Bundestag dem, wie zu erwarten, zustimmen, werden die 2023 geflossenen Gelder für die Strom- und Gaspreisbremse nachträglich legitimiert. Der WSF wird mit Jahresende auslaufen. Dann könnten energieintensive Betriebe in große Schwierigkeiten geraten.

Die Schuldenbremse ist seit 2011 in Kraft. Bislang herrschte die Praxis vor, sie mit Hilfe sogenannter Sondervermögen systematisch zu unterlaufen. Dabei handelt es sich sind in der Regel um nichts anderes als schuldenbasierte Fonds, die nicht auf den Bundeshaushalt angerechnet werden. Nach Angaben des Bundesrechnungshofs unterhält der Bund zur Zeit insgesamt 29 Sondervermögen. Das älteste stammt aus dem Jahr 1951. Nicht alle sind schuldenfinanziert, einige bestehen aus tatsächlich vorhandenem Kapital. Beim überwiegenden Teil handelt es sich jedoch um Kredite, die sich Ende 2022 auf insgesamt 522 Milliarden Euro summierten. Vom jüngsten Urteil betroffen sind allerdings nur Sondervermögen, die nach Inkrafttreten der Schuldenbremse, also seit 2011, entstanden sind. Ebenfalls nicht betroffen sind die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, weil diese mit Hilfe der Union mit mehr als zwei Drittel der Stimmen im Bundestag separat im Grundgesetz legitimiert wurden.

Was wird die Bundesregierung jetzt angesichts des fehlenden Geldes tun? Das dringendste Problem ist der Beschluss des Haushalts für das Jahr 2024. Es eilt, denn der 15. Dezember ist der letzte Sitzungstag des Bundestags. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bezifferte die Finanzierungslücke für 2024 auf 17 Milliarden Euro. Er will beim Sozialstaat kürzen, sagte er vergangene Woche im ZDF: Es müsse dafür gesorgt werden, dass die Menschen, die arbeiten könnten, auch tatsächlich arbeiteten. Eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse für das Jahr 2024 lehnt er ab.

Unklar ist auch das Schicksal des Klima- und Transformationsfonds. Woher soll Ersatz für die fehlenden 60 Milliarden Euro kommen? Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnte vergangene Woche, die Projekte, die mit dem KTF verbunden seien, beträfen den „wirtschaftlichen Kern Deutschlands“. Die Mittel müssten deshalb unbedingt anderswo aufgetrieben werden.

Bisher hat die Regierungskoalition stets Geld genutzt, um Meinungsverschiedenheiten zu überdecken. Jeder bekam etwas: Die SPD die Umwandlung von Hartz IV zum Bürgergeld (die zwar äußerst bescheiden ausfiel, aber doch ein wenig mehr Kosten verursachte), die FDP die Aktienrente und die Grünen den Klima- und Transformationsfonds. In Zukunft können die stillgestellten Konflikte aufbrechen, weil sich nicht mehr alles finanzieren lässt. Ein Ausweg wäre eine Reform der Schuldenbremse, für die es aber eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag bräuchte. Die wiederum ist ohne CDU/CSU nicht zu haben – und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat wiederholt betont, dass er die Schuldenbremse unverändert beibehalten möchte. Er fordert wie Lindner Kürzungen im Sozialetat.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stärkt die Schuldenbremse enorm und hat eine große Tragweite. Den meisten Möglichkeiten, sie zu unterlaufen, ist jetzt ein Riegel vorgeschoben. Für den deutschen Wirtschaftsstandort ist das keine gute Nachricht, denn staatliche Einnahmeüberschüsse und Reserven reichen heutzutage in den seltensten Fällen aus, um nötige Investitionen zu finanzieren.

Seit mindestens einem halben Jahrhundert beruht unser Wirtschaftssystem darauf, Investitionen fast ausschließlich aus Schulden zu finanzieren und diese anschließend aus den resultierenden Erträgen zurückzuzahlen. Das gelingt nicht immer – dann platzen Kredite und es gibt entsprechende Verluste. Doch ohne Schulden sind größere Investitionen heutzutage kaum noch möglich.

Die in Deutschland immer noch tonangebende neoklassische Wirtschaftstheorie nimmt diese Tatsache partout nicht zur Kenntnis und setzt ihre falsche Auffassungen immer wieder durch. Auf ihrem Mist ist auch die Schuldenbremse gewachsen und ihr folgen bis heute ideologisch die FDP, die Unionsparteien und große Teile der SPD. Aber der wegen der beginnenden Klimakatastrophe überfällige Umbau der Wirtschaft lässt sich mit Sparen und Umschichten allein nicht finanzieren, genauso wenig wie der enorme Modernisierungs- und Nachholbedarf bei Infrastruktur und der Digitalisierung.

Die Schuldenbremse ist faktisch eine Investitionsbremse, die bisher von allen Regierungen umgangen oder ausgesetzt wurde. Andere Länder nehmen noch viel höhere Schulden auf, um ihre Projekte zu finanzieren. Die deutsche Staatsverschuldungsquote – das ist das Verhältnis der Schulden zum jährlichen Bruttoinlandsprodukt – liegt mit 66 Prozent im Jahr 2022 relativ niedrig. In den USA ist sie mit knapp 120 Prozent fast doppelt so hoch. China liegt zur Zeit bei 77 Prozent, allerdings steigt die Quote dort derzeit deutlich an. Gerade die USA haben in den vergangenen Jahren riesige Subventionspakete verabschiedet, um die Transformation ihrer Wirtschaft voranzutreiben und neue Industriezweige zu fördern. Mit der Schuldenbremse hat sich Deutschland selbst Fesseln angelegt und droht, in der Konkurrenz zurückzufallen. Sogar die Financial Times urteilte kürzlich, dass sich die Schuldenbremse „für Deutschland als sehr schlechte Idee erwiesen“ habe.

Weil eine höhere Besteuerung von großen Vermögen und Einkommen ebenfalls ausgeschlossen wird, werden weite Teile des deutschen Staats einem strengen Spardiktat unterworfen, die nicht nur wirtschaftlich ins Abseits führt. Dass im Gesundheits- und Bildungssektor Investitionen fehlen, ist allseits zu spüren, die Infrastruktur ist marode, es gibt nicht genug Mittel für die Integration von Flüchtlingen, und der wachsenden Armut in immer größeren Bevölkerungsteilen wird nichts entgegengesetzt. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, warnte deshalb im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass die Schuldenbremse reformiert werden müsse, „so dass Investitionen auch über Kredite finanziert werden können. Sonst fliegen uns dieser Staat und diese Gesellschaft um die Ohren.“