21.11.2023 

Buchrezension: Das Sklavenschiff und die Entstehung des Kapitalismus

Nele Fuchs

In seinem Buch „Das Sklavenschiff“ beschreibt der Historiker Marcus Rediker die grausamen Zustände auf den Sklavenschiffen des 18. Jahrhunderts. Durch mitreißende Erzählungen lässt er die Leser∙innen am unvorstellbaren Leid der Verschleppten und Versklavten auf den Schiffen teilhaben. Rediker setzt eine Vielzahl von Biografien wie ein Mosaik zusammen und beschreibt damit jenes Instrument, ohne das die Sklaverei und die Entwicklung des globalen Kapitalismus nicht möglich gewesen wäre: das Sklavenschiff.

Im literarischen Stil wird Geschichte from below erzählt, inspiriert von E. P. Thompsons The Making of the English Working Class. Es geht um die gewaltsame Einhegung von Menschen in den Kapitalismus, die mit verzweifelten Akten des Widerstandes versuchten, dem zu entkommen. Hungerstreik, Selbstmord und Revolte gehörten auf den Sklavenschiffen genauso zum Alltag, wie der Terror des despotischen Kapitäns und die bestialische Gewalt der Besatzung gegen die Versklavten.

Das Sklavenschiff ist für Rediker eine Kombination aus Kriegsmaschine, mobilem Gefängnis und Fabrik. Er betrachtet die Schiffsbesatzung als Produzenten der Ware Sklave, ähnlich wie Arbeiter∙innen in einer Fabrik Waren herstellen. Die Produkte sind Arbeitskräfte, die über den Atlantik verschifft und in einen international organisierten Arbeitsmarkt überführt werden. Was der spezifisch historische Charakter der kapitalistischen Produktion zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels ist, beantwortet Rediker allerdings nicht. Ebenso bleibt offen, wie genau Waren und Wert an Bord produziert werden. Es scheint vielmehr so, dass die bloße Tatsache, dass ein Sklave auf den Märkten der Amerikas mehr Geld einbringt als auf denen an der westafrikanischen Küste, den Autor dazu bewegt, von einer Wertproduktion auf den Schiffen zu schreiben. Rediker geht hier implizit davon aus, dass kapitalistische Produktionsverhältnisse kategorial bereits entwickelt sind. Mir scheint das Einhegen von Sklaven in den globalen Kapitalismus dagegen ein Prozess der sogenannten ursprünglichen Akkumulation (Marx) zu sein. Menschen werden demnach aus vorkapitalistischen Gesellschaften in den Kapitalismus hinein verschifft. Auf den Schiffen werden die Versklavten gewaltsam zu einer ökonomischen Abstraktion degradiert: zur Ware Sklave. Wenn die Versklavten jedoch als Waren wie Zucker oder Tabak bestimmt werden, gerät das spezifische Gewaltsystem aus dem Blick, welches dafür sorgt, dass die Menschen zu Waren werden. Auf den Schiffen herrschte ein widerlicher Balanceakt zwischen Folter, Zwangsernährung und blutigem Niederschlagen von Revolten.

Rediker folgt der viel zitierten These von Eric Williams, dass Rassismus eine Folge der Sklaverei ist und nicht umgekehrt. Das Sklavenschiff stellt für ihn einen entscheidenden Schlüssel dar, um den historischen Ursprung des Rassismus zu verstehen. Die Besatzung war demnach beim Betreten des Schiffs in ihren Heimathäfen durch einen Klassengegensatz geprägt: auf der einen Seite der Kapitän, der das Handelskapital repräsentierte, und auf der anderen Seite die Seemänner, die aus England, Irland, Schweden, Haiti oder Westafrika stammten. Auf dem Weg zur westafrikanischen Küste wurde dieser Gegensatz von dem Terror des Kapitäns aufrechterhalten und zementiert. Mit der Verladung der Versklavten an der westafrikanischen Küste wurde der Gegensatz schwächer, denn nun musste die Besatzung kooperieren, um die Waren lebendig über den Atlantik zu transportieren. Ein neuer Antagonismus entstand, ein Disziplinierungsinstrument, das Rasse genannt wurde.

Redikers Perspektive müsste um eine historisch-kategoriale Einordnung der Genese kapitalistischer Produktion erweitert werden, um den Zusammenhang von Sklaverei, Rassismus und Kapitalismus genauer bestimmen zu können. Oder anders ausgedrückt: Die Erkenntnisse des Buchs müssen noch in eine schlüssige Gesellschaftstheorie eingebettet werden.

Marcus Rediker: Das Sklavenschiff. Eine Menschheitsgeschichte. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2023, 479 S., 24 €