31.10.2023 

Die Schule ist kein sicherer Ort. Der Gaza-Krieg ist in deutschen Klassenzimmern angekommen

Deutsche Schulen haben meist keine Idee, wie sie mit Antisemitismus umgehen sollen. Konkrete Strategien gibt es bislang nicht. Für jüdische Schülerinnen und Schüler ist die Bedrohung real.

Von Martin Brandt

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2023/43 vom 26. Oktober 2023

Der neue Gaza-Krieg hat Berliner Schulen längst erreicht. Eltern hätten Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken, berichtete die Psychologin Marina Chernivsky im Interview mit der Zeit. Sie berät in diesen Tagen jüdische Eltern. Diese Angst wurde auch am Freitag vergangener Woche im Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn geäußert. Der CDU- Vorsitzende Friedrich Merz war zu Besuch gekommen, um mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe über ihre Erfahrungen seit dem 7. Oktober zu sprechen. »Ich bin schon sehr bewegt zu hören, dass fast alle Schülerinnen und Schüler gesagt haben: Wir haben Angst«, sagte Merz nach dem Treffen vor Pressevertretern. »Sie haben Angst im Alltag, in der S-Bahn, mit der sie zum Teil gar nicht mehr fahren, sie verzichten auf das Tragen jüdischer Symbole und werden über die sozialen Medien angegriffen.« Dies bestätigten verschiedene Schülerinnen und Schüler im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Viele von ihnen waren allerdings auch enttäuscht, dass Merz nur mit einem Teil der Schülerschaft gesprochen hatte. Jüdische Schülerinnen und Schüler können derzeit oft nur unter verstärktem Polizeischutz oder gar nicht zur Schule kommen; so beispielsweise am vorvergangenen Freitag, als die Hamas weltweit zu Aktionen gegen jüdische und israelische Personen und Einrichtungen aufgerufen hatte. Jüdische Schulen blieben an diesem Tag weitestgehend leer. Dies bedeute »de facto, dass Judenhasser die Entscheidungshoheit über das jüdische Leben in Berlin an sich gerissen haben«, heißt es hierzu in einem Brandbrief zweier Lehrkräfte aus dem Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn und der Rabbinerin-Regina- Jonas-Schule an den Regierenden Bürgermeister Berlins, Kai Wegner (CDU). Die Berliner und die deutschen Politiker seien daher in der Verantwortung, »diese unsägliche Situation zu ändern«. »Eine so emotionale Situation lässt sehr wenig Raum für eine gründliche und rationale pädagogische Ausein-andersetzung und Bearbeitung.« Michael Hammerbacher, Verein Demokratie und Vielfalt Bereits drei Tage nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel ging ein Video viral, aufgenommen auf dem Schulhof des Ernst-Abbe-Gymnasiums in der Neuköllner Sonnenallee. Die verwackelte Handyaufnahme zeigt, wie ein Lehrer auf dem Schulhof mit einem Schüler wegen einer Palästina-Flagge aneinandergerät, diesen ohrfeigt und von dem Jungen mit Wucht zu Boden getreten wird. Der Ohrfeige soll ein Kopfstoß gegen den 61jährigen Lehrer vorangegangen sein, was der 15jährige Schüler einem Polizeibericht zufolge bestreitet. Der 15jährige und ein weiterer Schüler wurden daraufhin suspendiert, der Lehrer meldete sich krank und die Schulgemeinschaft arbeitet die Übergriffe auf. Der Staatsschutz ermittelt wegen wechselseitiger Körperverletzung. Der Vorfall am Ernst-Abbe-Gymnasium zeigt symptomatisch, wie aufgeladen die Stimmung an einigen Schulen ist, insbesondere dort wo es überproportional viele Schülerinnen und Schüler mit einem muslimischen oder palästinensischen Hintergrund gibt. Die zuständigen Behörden versuchten, schnell auf die Vorkommnisse zu reagieren. Am vorvergangenen Freitag verschickte Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) ein Rundschreiben an alle Berliner Schulen. »Jede demonstrative Handlungsweise oder Meinungsäußerung« seien untersagt, die die Angriffe auf Israel unterstütze oder billige, weil dies in der gegenwärtigen Situation eine »Gefährdung des Schuldfriedens« darstelle, heißt es im Rundschreiben. Demzufolge betrifft dies nicht nur ohnehin verbotene und strafrechtlich relevante Äußerungen, Videos und Symbole wie das Emblem der Hamas, sondern dezidiert auch nicht strafbare Symbole und Parolen wie die Kufiya (das sogenannte Palästinensertuch), Sticker oder Halsketten mit dem Umriss eines Palästina, das sich ganz Israel einverleibt hat, in den palästinensischen Nationalfarben oder der Ausruf »Free Palestine«. Bei einer Zuwiderhandlung könnten die Schulen mit »Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen« reagieren. Der Protest gegen das Rundschreiben ließ nicht lange auf sich warten. SPD-Mitglieder wie der Neuköllner Bundestagsabgeordnete Hakan Demir und die beiden bildungspolitischen Sprecher der Berliner SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Maja Lasić und Marcel Hopp, witterten ein »pauschales Verbot« palästinensischer Symbole. Auch Derviş Hızarcı, der Vorsitzende des Bildungsvereins Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, kritisierte den Vorstoß der Senatsverwaltung: »Sanktionen und Verbote allein sind meiner Meinung nach eine hilflose Aktion und kein wirklich zielführendes Angehen der Ursachen«, sagte er dem Nachrichtenportal News4Teachers. Eine Elterninitiative aus Neukölln befürchtete in einem offenen Brief gar »Diskriminierung« und forderte die Rücknahme des »Verbots«, wie die Taz berichtete. Ein Sprecher der Senatsverwaltung stellte hingegen auf Nachfrage der Jungle World klar, dass die Regelung »kein pauschales Verbot« darstelle. »Allein für den Fall, dass eine Schulleitung oder Schule den Schuldfrieden für gefährdet hält, kann sie davon Gebrauch machen«, sagte der Sprecher. Einige Schulleitungen hätten sich von selbst an die Senatsverwaltung gewandt und ein klärendes Schreiben angeregt, so der Sprecher. Michael Hammerbacher ist der Leiter und Bildungsreferent des Berliner Vereins Demokratie und Vielfalt (Devi), eines Trägers der politischen Bildung im Bereich der Extremismusprävention und Demokratiebildung. Er begrüßte die »kurzfristige Grenzziehung«, die das Rundschreiben leiste. Die Infragestellung des Existenzrechts Israels und die Rechtfertigung des Hamas-Terrors erforderten eine klare Positionierung seitens der Lehrkräfte, sagte er der Jungle World. »Eine so emotionale Situation wie derzeit lässt leider sehr wenig Raum für eine gründliche und rationale pädagogische Bearbeitung und Auseinandersetzung«, so Hammerbacher weiter. Diese sei jedoch längerfristig notwendig. Sein Verein hatte in der vergangenen Woche zusammen mit der Ibn-Rushd-Goethe- Moschee der Rechtsanwältin Seyran Ateş, dem Präventionsprojekt Mind Prevention des Psychologen Ahmad Mansour und zwei weiteren Organisationen eine Erklärung veröffentlicht. Darin fordern sie unter anderem, dass öffentlich geförderte Träger und Projekte in den Bereichen Schule und Jugendsozialarbeit das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels sowie die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance in der von der Bundesregierung erweiterten Fassung aus dem Jahr 2017 anerkennen sollen, die israelbezogenen Antisemitismus einschließt. »Meines Wissens nach gibt es unter den derzeit im Feld tätigen Trägern keine gemeinsame Absprache, mit welcher pädagogischen und fachpolitischen Linie man bei den jetzigen Präventionsangeboten auf die Schulen zugeht«, sagte Hammerbacher. Er sehe eine »reale Gefahr« darin, »dass etwa die Verteidigungsaktivitäten Israels praktisch gleichgesetzt werden mit dem Angriff der Hamas auf Israel«. In der Erklärung heißt es zudem, dass pädagogische Fachkräfte darin ausgebildet werden müssen, Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen zu erkennen. Auch dürften Lehrkräfte mit »herausfordernden Situationen in diesem Kontext« nicht alleingelassen werden – zum Beispiel mit »konfrontativ-provokativem Dominanzverhalten, das sich auf politisch-extremistische oder ideologisiert-religiöse Hass-Botschaften« beziehe. Doch es sind nicht nur die Schülerinnen und Schüler, die den israelisch-palästinensischen Konflikt in die Einrichtungen tragen, auch Eltern heizen die Situation an. So hatte eine Elternvertreterin des Ernst-Abbe-Gymnasiums zwei Tage nach dem Vorfall eine Kundgebung unter dem Motto »Kein Platz für Rassismus, kein Platz für Gewalt« organisiert, die von der Versammlungsbehörde verboten wurde, weil sie als potentielle Ersatzveranstaltung für Hamas-Sympathisanten eingeschätzt wurde. Auch Fake News wurden in Umlauf gebracht, unter anderem von Ferat Koçak, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die Partei »Die Linke«. Etwa 40 Schülerinnen und Schüler, teils gekleidet mit Palästinensertüchern, trotzten eine Zeitlang dem großen Polizeiaufgebot und riefen Parolen wie »Free Palestine« und »From the river to the sea, Palestine will be free«. Es wurden Flugblätter der antizionistischen Gruppe Young Struggle Berlin verteilt, die das bestialische Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten als »einen historischen Moment für alle Befreiungskämpfe der Welt« verherrlichten und mit einem Spruch wie »Von Berlin bis nach Gaza, yallah Intifada!« zu weiteren Taten dieser Art aufriefen. Auch einige Unterstützer des offenen Briefs nutzten die Gelegenheit, um Antizionismus zu verbreiten. So ließ sich Mai Zeidani Yufanyi, die den Brief mit ihrer Gruppe Berlin Muslim Feminists mitinitiiert hatte, in der Taz mit der Aussage zitieren, sie finde es problematisch, »dass zurzeit oft jüdisch sein mit einer Unterstützung israelischer Politik gleichgesetzt wird«. Schließlich werden auch Fake News in Umlauf gebracht. Ferat Koçak, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die Partei »Die Linke«, teilte auf X das Schulhofvideo und rief zur Kundgebung vor der Schule auf. Er verbreitete dort vergangene Woche auch ein Foto eines Arbeitsblatts, das in einer sechsten Klasse an einer Kreuzberger Schule verteilt worden sein soll. Die Sechstklässler hätten dort Fragen beantworten sollen, wie sie zum Krieg in Israel stünden, ob es sie das Töten israelischer Bürger für »okay« hielten oder sich an antiisraelischen Demonstrationen beteiligen würden. Ein Sprecher der zuständigen Senatsverwaltung sagte dem ND jedoch, dass es sich dabei um eine Falschmeldung handele. Die Beschuldigung der Schule und die Verbreitung der Meldung bezeichnete der Sprecher als »unverantwortlich«. Bis zur Löschung ging das Posting allerdings viral. Am 23. Oktober gestand Koçak seinen Fehler auf X dann doch – nicht aber ohne zu behaupten, dass es tatsächlich ähnliche Fälle gegeben habe.