31.10.2023 

Eine gewaltige Herausforderung. Deutsche Jüdinnen und Juden schweben in großer Gefahr

Die Lage für deutsche Jüdinnen und Juden wird bedrohlicher. Nachdem bereits die Hamas zu globalen Aktionen aufgerufen hat, fordert nun auch al-Qaida zu Angriffen gegen Jüdinnen und Juden auf.

Von Martin Brandt

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2023/42 vom 19. Oktober 2023

Doron Bruck war auf dem Weg von Berlin nach Israel, als ihn am 7. Oktober bei der Zwischenlandung an einem türkischen Flughafen die Nachricht erreichte, dass Hamas-Terroristen dabei seien, den jüdischen Staat zu überfallen. Weil ihm Bekannte davon abrieten, seine Reise fortzusetzen, kehrte er am selben Tag nach Berlin zurück. Dort angekommen, verzichtete er aus Sicherheitsgründen auf den Besuch der Synagoge, mit dem er ansonsten den höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur begangen hätte. »Ich fühle mich so bedroht wie noch nie in Deutschland«, sagte Bruck, der in einem Podcast des Tagesspiegel seine Eindrücke nach dem Massaker in Israel schilderte. Er sei vorsichtiger beim Tragen der Kippa geworden; auch in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, versuche er in bestimmten Situationen zu vermeiden, sagte der 28jährige, der Kapitän der Fußball-Oberliga-Mannschaft des jüdischen Vereins TuS Makkabi Berlin ist. Wie ihm geht es vielen Juden in Deutschland. »Die verstörenden Szenen auf deutschen Straßen, die Unterstützung des barbarischen Hamas-Terrors und der unverhohlene Aufruf zu Judenhass und Gewalt gegen jüdische Einrichtungen haben Jüdinnen und Juden in Deutschland erschüttert«, bestätigte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, auf Nachfrage der Jungle World. »Der unverhohlene Aufruf zu Judenhass und Gewalt gegen jüdische Einrich­ tungen haben Jüdinnen und Juden in Deutschland erschüttert.« Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden Die zuständigen Behörden beispielsweise in München, Kassel oder Berlin untersagten viele der israelfeindliche Versammlungen, weil sie antisemitische Ausrufe, Gewaltverherrlichung, Einschüchterung und Gewalttätigkeiten erwarteten. Dennoch gingen in den vergangenen anderthalb Wochen teils mehrere Hundert arabischsprachige Menschen, Anhänger israelfeindlicher und linksradikaler Kleingruppen sowie Personen aus der queerfeministischen und postkolonialen Szene spontan auf die Straße. Dort stimmten sie arabische Sprechchöre an, skandierten Parolen wie »Free Palestine« und »From the river to the sea, Palestine will be free« und feierten die grausame Ermordung, Vergewaltigung und Verschleppung von jüdischen Zivilistinnen und Zivilisten, darunter Kinder, Babys und Seniorinnen und Senioren, als legitimen Befreiungskampf der Palästinenserinnen und Palästinenser. Bei der bislang größten Versammlung am Samstag am Potsdamer Platz in Berlin kamen rund 1 000 Demonstrantinnen und Demonstranten zusammen. Die Polizei löste die Kundgebung auf, da es sich um eine Ersatzveranstaltung für eine zuvor verbotene Versammlung gehandelt habe. In einem Video der Beobachtungsstelle Democ sieht man, dass viele Palästina-Fahnen schwenkten, Palästinensertücher trugen und Parolen riefen wie »Intifada bis zum Sieg«, »Allahu Akbar« (»Gott ist groß«) und »Mit unserem Blut und unserer Seele werden wir uns für al-Aqsa aufopfern« – al-Aqsa steht für die al-Aqsa- Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem. Zwischen den Teilnehmenden und der Polizei kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Marco Siegmund vom Bundesverband der zivilgesellschaftlichen Recherche- und Informationsstelle gegen Antisemitismus (Rias) bestätigte der Jungle World, dass viele dieser Versammlungen von israelfeindlichen Gruppen wie Samidoun oder »Palästina spricht« organisiert wurden. Bei Samidoun handelt es sich um eine Vorfeldorganisation der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), deren Verbot das Bundesinnenministerium derzeit vorbereitet. Auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln hatten mutmaßliche Mitglieder der Organisation am Tag des Terrorangriffs Süßwaren verteilt. Der Berliner Bezirk Neukölln, seit vielen Jahren Inbegriff einer verfehlten Integrationspolitik, bildet bundesweit einen Schwerpunkt der Proteste. Hier wohnen viele Menschen arabischer Herkunft. Die Integrationsbeauftragte des Bezirks, Güner Balcı, sagte kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel, dass große Teile dieser Bevölkerungsgruppe »Sympathien für die Terroristen« hegten. »Ich würde keinem raten, seinen jüdischen Glauben in Neukölln sichtbar zu machen«, sagte Balcı. Wer eine Kippa trage, müsse schon in ruhigeren Zeiten Angst haben, bespuckt und beschimpft zu werden. Nachdem die Hamas am Freitag vergangener Woche Muslime weltweit zu Aktionen gegen jüdische und israelische Personen und Einrichtungen aufgerufen hatte, ließen Berliner Eltern in Rücksprache mit den Schulleitungen ihre Kinder nicht in die jüdischen Schulen und Kindertagesstätten gehen. Die Betreiber des israelischen Restaurants »Doda’s Deli« im Berliner Ortsteil Friedrichshain schlossen an diesem und dem Folgetag ihren Laden; auf ihrer Instagram-Seite schrieben sie, dass sie Angst um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Gäste hätten. In München sagte das Jüdische Museum seine Teilnahme an der Langen Nacht der Münchner Museen »aus Sicherheitsgründen« ab. Dass die Sorge vor Angriffen nicht unbegründet ist, zeigen erste Auswertungen von Rias. Bereits jetzt stellten ihre Monitoring-Stellen »bundesweit ein erhöhtes Aufkommen an Meldungen antisemitischer Vorfälle« fest, teilte Siegmund mit. Darunter zählen sie auch mehrere antisemitische Schmierereien und Plakate. So hatte der Tagesspiegel berichtet, dass Unbekannte am Donnerstag vergangener Woche im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg einen blauen Davidstern an die Eingangstür eines Mehrfamilienhauses gesprüht hatten, in dem eine jüdische Mieterin wohnt. Berichten der Berliner Polizei zufolge waren in der Hauptstadt zahlreiche weitere Wohnhäuser mit Davidsternen markiert worden. Auch in Dortmund sprühten der Polizei zufolge Unbekannte Davidsterne an fünf Wohnhäuser. Mehrere Israel-Flaggen, die von öffentlichen Einrichtungen aus Solidarität mit dem angegriffenen jüdischen Staat gehisst worden waren, wurden entwendet oder zerstört. In der niedersächsischen Gemeinde Drochtersen stahlen Unbekannte eine am Rathaus gehisste Israel-Flagge, am Rathaus des Berliner Bezirks Reinickendorf zündeten Unbekannte die dort gehisste Flagge an – um nur wenige Beispiele zu nennen. Obwohl den zuständigen Behörden bislang keine konkreten Hinweise auf schwere Gewalttaten oder Terroranschläge vorlägen, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Freitag voriger Woche versicherte, wurde der Schutz jüdischer und israelischer Einrichtungen erhöht. Faeser zufolge habe dieser Schutz »höchste Priorität«. Am vergangenen Samstag rief nun auch die Terrorgruppe al-Qaida zu Angriffen gegen Jüdinnen und Juden auf. »Möge sich der Jihad gegen die aggressiven Juden und ihre Verbündeten über jedes Land, jedes Meer und jeden Himmel erstrecken«, hieß es in einer Mitteilung. Marina Chernivsky von der Opferberatungsstelle Ofek berichtete der Jungle World von einem stark erhöhten Beratungsaufkommen. Ihr Verein berät Opfer von Gewalt, aber auch Institutionen wie Schulen und Hochschulen bei antisemitischen Vorfällen; Ofek hat im Zuge des Terrorangriffs seine psychosoziale und psychologische Unterstützung ausgebaut – die unter anderem auf Hebräisch angeboten wird. Chernivsky äußerte die Sorge, dass das repetitive Sprechen über die wachsende Bedrohung zu einer »sich selbst erfüllenden Prophezeiung« geraten könnte. Schließlich dürfe der Alltag durch die Warnungen nicht übermäßig dominiert werden. Jüdinnen und Juden stünden hierzulande vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits sind sie mit dem unmittelbaren Schock und dem Trauma konfrontiert, weil der Terrorangriff sie zum Teil direkt trifft und auch die »verstörendsten Bilder und Erinnerungen von Pogromen in der Vergangenheit« wachrufe, also die Shoah, aber auch andere Anschläge in Israel, so Chernivsky. »Andererseits müssen sie aber auch mit der hiesigen Realität, also mit teils offenen, aber auch uneindeutigen antisemitischen Grundtönen umgehen, die aus der nächsten Nachbarschaft und aus dem Umfeld« kämen. Beides sei eine »gewaltige Herausforderung für die gesamte jüdische Community«. Dabei betonte Chernivsky, dass es nicht allein um »brachiale antisemitische Vorfälle« gehe, sondern um »antisemitische Strukturen, Untertöne und Grundstimmungen im Nahraum, aber auch auf der diskursiven Ebene« – also darum, was Menschen hören, lesen und in den sozialen Medien mitbekommen. Mehrere Mannschaften des Vereins von Doron Bruck ließen sich schließlich von der Situation nicht einschüchtern und traten am Sonntag unter Polizeischutz an; am Wochenende zuvor hatte der TuS Makkabi seine Pflichtspiele sicherheitshalber abgesagt. »Wir wollen uns weder verstecken noch den anderen das Gefühl geben, dass sie irgendetwas gewonnen haben«, sagte ein Verantwortlicher des TuS Makkabi dem Nachrichtensender RBB24. Glücklicherweise kam es bei den Spielen zu keinerlei Zwischenfällen – im Gegenteil: Zur Partie des Berliner Landespokals bei Berolina Stralau wurde Brucks Team ein betont herzlicher Empfang bereitet.