03.11.2023 

Ich klage an. Brief eines Israeli an europäische Linke / Letter from an Israeli Leftist to Western Leftists

von Avi Rybnicki, Tel Aviv

zuerst publiziert in Der Standard, 1. November 2023

english translation above

Liebe Genossinnen und Genossen von der Europäischen „Linken“!

Diese Zeilen sind nicht das Ergebnis einer gut durchdachten intellektuellen Analyse, sondern von Nächten mit sehr wenig Schlaf, heftigen Emotionen der Trauer, Traurigkeit, Wut, Frustration, Hilflosigkeit und Sorge darüber, was die nächsten Tage des Krieges mit sich bringen werden. Ich schreibe Euch, weil Ihr logischerweise auch in diesen Tagen meine Partner sein solltet, Partner im Kampf für eine bessere Welt mit mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und auch – ich wage es, dieses Wort sogar in diesen Tagen zu erwähnen – Frieden.

Ich schreibe auch deshalb, weil ich mich viele Jahre lang geweigert habe, die Überzeugung meiner Eltern, Überlebende von Auschwitz, zu akzeptieren, dass wir Juden in Wahrheit auf uns allein gestellt sind und es niemanden gibt, auf den wir uns verlassen können.

Sie hatten nicht recht. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der Präsident Frankreichs, der deutsche Kanzler und andere kamen und drückten ihre Solidarität aus, ein Teil von ihnen nicht nur mit Worten.

Aber wir, die fortschrittlichen Israelis, wir fühlen uns ziemlich allein.

Wir können gut damit leben, dass wir uns nicht auf unsere Regierung verlassen, weil wir das nie getan haben und eine große Mehrheit der Israelis tut das auch heute nicht. Monat für Monat, Woche für Woche waren und sind wir auf den Straßen Israels zusammen mit hunderttausenden anderen Israelis, um uns der Absicht der Regierung zu widersetzen, in unserem Land ein autoritäres System zu installieren, und wir werden damit fortfahren, sogar mit noch mehr Kraft. Ich verspreche es!

Aber es fällt mir schwer, die Haltung, wie sie in den letzten Tagen von einem Teil der sogenannten fortschrittlichen Kräfte in Europa und den USA artikuliert wird, zu hören. Es hat mich nicht überrascht, ich kenne diese Meinungen über die Jahre zu gut. Aber dennoch, nach dem blutigen, brutalen, mörderischen Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten im Süden Israels ist es schwerer zu ertragen. Das war ein Gemetzel in der Tradition des Todeskultes des Islamischen Staates. Ich weiß, Ihr seid dagegen und wenn wir nicht reagieren würden, wärt Ihr „empathisch“ mit uns geblieben, weil Ihr uns als Opfer gernhabt. Aber Ihr mögt es weniger, wenn wir Juden diese historische Rolle ablehnen und reagieren und uns verteidigen.

Sehr schnell relativiert Ihr: Unsere Opfer des Massakers im Süden und das Leiden der palästinensischen Zivilisten in Gaza, als ob unbeabsichtigte aber leider oft unvermeidliche Schäden einer Militäraktion bei der Zivilisten leiden und auch ihr Leben verlieren – was aber nicht das Ziel ist – dasselbe sei, wie das vorsätzliche Ermorden von Zivilisten, Kindern, Frauen, alten Menschen, Entführen, Foltern, Vergewaltigen, Enthaupten. Habt Ihr eine andere Idee, wie man die Hamas bekämpfen kann, als dort anzugreifen, wo sie ist und herrscht? Oder erwartet Ihr im Geheimen von uns, dass wir nicht reagieren, was bedeutet, dass wir unser Recht auf Selbstverteidigung verweigern? Fordert Ihr das von jedem anderen Land? Und wenn nicht, was bedeutet das? Dass Ihr unser Recht, ein souveränes Land zu sein, nicht anerkennt? Bitte, ein kleines bisschen intellektuelle Aufrichtigkeit.

Sehr schnell „erklärt“ Ihr: „Der Angriff ist das Ergebnis der Besetzung und des Leidens des palästinensischen Volkes“. Glaubt Uhr das wirklich? Ich nehme nicht an, dass Ihr an einer mentalen Schwäche leidet. Wisst Ihr wirklich nicht, was die Hamas, der Dschihad, die Hisbollah seit Jahren offen sagen? Dass das Problem die Existenz einer nicht-islamischen jüdischen Einheit in einer islamischen Region ist und die einzige Lösung ihr und unser Verschwinden von hier wäre? Wenn Ihr es wirklich nicht wisst, dann nur, weil Ihr es nicht wissen wollt. Aus welchen Gründen…?

Wir werden weiterhin für unsere Werte kämpfen, auch in diesen Tagen in Israel, was nicht einfach ist, wenn der Hass auf seinem Zenit steht. Aber Ihr begebt Euch mit dieser Haltung in die politische Irrelevanz und schwächt die demokratischen Kräfte in Euren Ländern, in denen die Demokratie auch nicht garantiert ist.

In der Hoffnung auf bessere Tage,

Avi Rybnicki

Psychoanalytiker, lebt und praktiziert in Tel Aviv, unter anderem Mitbegründer der „Initiative NLS Wien“ sowie des Forums Zadig Wien, eines internationalen Netzwerks gegen Ausgrenzung

I accuse

Letter from an Israeli Leftist to Western Leftists

by Avi Rybnicki, Tel Aviv

Dear comrades from the European “left” (double meaning)!

These lines are not the product of a well thought intellectual analysis but of nights with very little sleep, high emotions of grief, sadness anger, frustration, helplessness and sorrow of what the next days of war will bring with. I write You because logically You ought be also in these days my partners, partners in the struggle for a better world of more freedom, justice, democracy and also – I dare to mention this word even in these days – peace.

I also write because for many years I refused to accept the conviction of my parents, survivors of Auschwitz, that in real time we Jews are on our own and there is nobody else to rely on. They were not right. The president of the United States, the President of France, the German Kanzler and others came and expressed their solidarity, part of them not only in words.

But we, the Israeli progressive people, we feel quite alone.

We can live well not relying on our government because we never did and the day a big majority of Israelis do not. Months after monts, week after week we were and are on the streets of Israel together with hundreds of thousands of other Israelis to resist the government’s intention to installate in our country an authoritarian system and we shall continue with this even with more strength. I promise!

But it is difficult for me to hear the attitude of part of the so called progressive forces in Europe and in the US as it is articulated in the last days. It did not surprise me, i know these opinions too good over the years, but nevertheless, after the bloody, brutal, murderous attack of the Hamas against Israeli civilians in the South of Israel it is more difficult to bear. This was a slaughtering in the tradition of the death cult of the Islamic state. I know, You are against this and if we wouldn’t react You would have stayed “empathetic “ with us, because You like us as victims. But You like less if we, Jews, refuse this historic role and react and defend ourselves.

Very quickly you relativize: Our victims of the massacre in the south and the suffering of Palestinian civilians in Gaza, as if unintentional but unfortunately often unavoidable damage of a military action in which civilians suffer and also lose their lives – which is not the goal – is the same as the deliberate murder of civilians, children, women, old people, kidnapping, torturing, raping, beheading. Do You have another idea how to fight the Hamas than attacking were it is and rules? Or, as a hidden agenda, do You expect us not to react, that means denying our right to defend ourselve? Do You demand this of any other country, and if not, what does this mean? That You do not recognize our right to be a sovereign country? Please, a little bit of intellectual honesty.

Very fast You are “explaining”: The attack is the result of occupation and the suffering of the Palestinian people. Do You really believe this? I don’t suppose that You are suffering from mental debility. Don’t You really know what the Hamas, the Jihad, the Hisboullah say frankly all over the years: that the problem is in the existence of a non Islamic, Jewish unity in an Islamic region and the only solution is its and our disappearance from here? If You really don’t know than only because You do not want to know. For which reason…?

We shall continue to fight for our values also in these days in Israel, what is not easy when hate ts in its zenith. But You put Yourself with this attitude in political irrelevance and weaken the democratic forces in Your countries were democracy is not guaranteed too.

In the hope for better days

Avi Rybnicki 

Psychoanalyst, living and practicing in Tel Aviv